Über die große deutsche Erleichterung:
Ein Finkelstein kam gerade recht
Von Rolf Surmann
Ist die Debatte über die Finkelstein-Thesen ein
Wendepunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung um die deutsche
Zeitgeschichte? Ungeachtet der Tatsache, dass Finkelstein seine Polemik
gegen jüdische Organisationen nicht oder nur ungenügend mit Fakten
untermauern kann, hat eine breitere deutsche Öffentlichkeit mit
Erleichterung auf die Publikationen des umstrittenen New Yorker Autors
reagiert. Der nachfolgende Beitrag versucht, die Ereignisse einzuordnen
und die Aussagen zu analysieren.
Über mangelnde Aufmerksamkeit in Deutschland hat sich der
Politologe Norman Finkelstein nie beklagen können. Schon in der Debatte um
Goldhagens umstrittene Forschungsergebnisse stilisierte man ihn, der zum
Thema gar nicht wissenschaftlich gearbeitet hatte, in den Medien zu dessen
Gegenspieler. Im vergangenen Jahr fand ähnliches statt. Obwohl er vorher
nichts Nennenswertes zur Fragestellung publiziert hatte, titelte die
Berliner Zeitung am 28. Januar 2000: "Schwere Vorwürfe gegen die Jewish
Claims Conference. US-Historiker: Entschädigungsgelder gingen nicht an
Opfer."
In einem Interview behauptete Finkelstein dann, es habe
schon einmal Verhandlungen über die Entschädigung von Zwangsarbeit gegeben,
"die gleichen Verhandlungen wie heute, und mit den gleichen Leuten. Auf
Grund des damals ausgehandelten Abkommens wurde die JCC 1953 beauftragt, bis
1965 jährlich zehn Millionen Dollar an die Opfer, also auch an die
Sklavenarbeiter, zu verteilen". Doch plötzlich habe die "Wiederherstellung
des jüdischen Gemeinwesens" im Mittelpunkt gestanden.
Finkelstein bezog sich offenbar auf das Luxemburger
Abkommen, das 1952 zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland
und Israels sowie der Claims Conference geschlossen worden war. Ohne auf
Details einzugehen, kann hierzu allgemein gesagt werden, dass seine
Darstellung den Tatsachen nicht entspricht. Denn zwischen der
Bundesregierung und der Claims Conference wurden zwei Protokolle
unterzeichnet. Protokoll Nr. 1 regelte die Grundaspekte einer
Entschädigungsgesetzgebung, die von deutscher Seite zu erlassen war und die
dann zum Bundesentschädigungsgesetz in seinen verschiedenen Fassungen
geführt hat.
Nach Protokoll Nr. 2 zahlte die Bundesregierung analog zum
Vertrag mit der israelischen Regierung an die Claims Conference 450
Millionen Mark für die "Unterstützung, Eingliederung und Ansiedlung
jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung" außerhalb Israels.
Weder gab es also eine spätere Umdeutung dieses Abkommens, noch war die
Claims Conference beauftragt, Entschädigungszahlungen für ehemalige
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu leisten. Und nicht zuletzt: Bei
den jetzt abgeschlossenen Verhandlungen war der Ausgangspunkt die
Entschädigung für vorenthaltene Lohnzahlungen, für die die deutsche Seite
Ausgleichszahlungen prinzipiell verweigert hatte.
Auf diesen Sachverhalt hinzuweisen hat nicht in erster
Linie inhaltlich korrigierende Bedeutung. Er macht vor allem erkennbar, wie
das Blatt geradezu versessen darauf war, die abstrusen Behauptungen eines
unausgewiesenen Autors in die Öffentlichkeit zu bringen. Die umgehend von
der Claims Conference aufgesetzte Gegendarstellung hätte dann spätestens der
Augenblick sein müssen, selbst zu recherchieren und mit einer Entschuldigung
für die eigene journalistische Fehlleistung von dem Thema zu lassen. Statt
dessen brachte die Berliner Zeitung jedoch weitere Beiträge, in denen zwar
die Darstellung der Claims Conference prinzipiell bestätigt wurde, aber
durch deren Erscheinen allein schon der Eindruck einer "Debatte" entstand.
Dieser Vorgang ist nur erklärbar, wenn man sich
vergegenwärtigt, daß Anfang des Jahres 2000 der Stand der
Entschädigungsverhandlungen wenig Hoffnung auf ein vernünftiges Ergebnis
ließ. Die Stimmung war gereizt. Ein Beispiel hierfür ist eine Formulierung
im Vorspann zum Finkelstein-Interview, in dem von "Ablasszahlungen" die Rede
ist, über deren Annahme man schon froh sein müsse. Welch ein groteske
Verdrehung nach mehr als 50 Jahren der Entschädigungsverweigerung und
angesichts der stark abweichenden Meinungen über das notwendige finanzielle
Volumen des geplanten Fonds. Nur auf den ersten Blick scheint es deshalb ein
Widerspruch zu sein, daß die Zeitung ansonsten in ihren Kommentaren für
einen "Schluss-Strich" unter die Entschädigungspolitik plädierte. Die
"Ablasszahlungen"-Passage drückt bereits den ganzen Unwillen darüber aus,
mit diesen Forderungen überhaupt konfrontiert zu sein. In dieser Situation
kam ein Finkelstein offensichtlich gerade recht.
Rege Rezeption des Finkelstein-Buches
Das Erscheinen der englischen Ausgabe des
Finkelstein-Buchs im Sommer 2000 und der deutschen in diesem Februar zeigten
dann, daß alles Bisherige allenfalls die Ouvertüre war. Der Grund hierfür
war nicht in erster Linie der Text selber. Die FAZ machte mit dem Bild,
Finkelstein habe "ein Fenster aufgestoßen", deutlich, worum es ging. Zwar
wurde im Verlauf der Debatte durchaus konzidiert, dass er nichts aufgedeckt
hatte, worüber es sich zu diskutieren lohne, aber mit Rückgriff auf den
jüdischen Kronzeugen konnte offensichtlich artikuliert werden, was schon
lange auf Ausdruck drängte. Die Süddeutsche Zeitung faßte es mit Berufung
auf den Economist trotz vorsichtiger Distanzierung in die Worte: "Doch sein
Grundargument, das Gedenken an den Holocaust werde entwürdigt, ist ernst und
sollte ernst genommen werden."
Es erhoben sich also die Kinder und Kindeskinder der
NS-Täter gegenüber den noch lebenden Verfolgten und erklärten sich in einer
Situation, in der sie den wenigen noch lebenden Opfern dieser Verbrechen
elementare finanzielle Ausgleichszahlungen weiterhin vorenthielten, mit
Berufung auf Finkelstein zu den eigentlichen Hütern der Erinnerung. Dass
hierbei dessen Auschwitz-Relativierung unerwähnt blieb, fügt sich ins Bild.
Wie ernst der Anspruch gemeint war, Deutungsmacht zu
erlangen und zu sichern, zeigte die allgemeine Empörung, die zunächst
Salomon Korn und dann Paul Spiegel entgegenschlug, als sie die Ansicht
äußerten, die Veröffentlichung des Finkelsteins-Buchs in Deutschland sei
angesichts neonazistischer Tendenzen und sich verstärkendem Antisemitismus
kontraproduktiv. War Ignatz Bubis zwar weitgehend isoliert in der
Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Walser, so galt er aber doch als
ein prinzipiell gleichberechtigter Gegner. Dieses Glück hatten Korn und
Spiegel nicht. An ihren Stellungnahmen wurde vielmehr exemplifiziert, was
Demokratie und Freiheit des Wortes bedeuten. Doch fehlte das fürsorgliche
Argument nicht, daß die anhaltende Weigerung, angebliches jüdisches
Fehlverhalten in den Mittelpunkt deutscher Reflexion zu rücken,
Antisemitismus nur fördern würde.
Dieses hartnäckige Beharren auf Kritik mit wechselnden
Begründungen zeigt, daß die Zeiten indirekter Unmutsäußerungen, die bisher
vor allem im Hinblick auf Anwälte oder mit Bezug auf Detailfragen geäußert
wurden, offenbar vorbei sind. Jüdische Organisationen wie die Claims
Conference sind jetzt direkt Angriffen ausgesetzt, bei denen die
Faktengrundlage allenfalls sekundär ist. Das Gespür für die Notwendigkeit,
deutsche Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten, tritt demgegenüber zurück.
Ein Beispiel für diese neue Tendenz war eine
Diskussionsrunde im Fernsehen, an der unter anderen die Autorin eines vorher
gezeigten Films über das Finkelstein-Buch und der ehemalige deutsche
Verhandlungsleiter Lambsdorff teilnahmen. Während Lambsdorff die
Verhandlungen als – sagen wir – normalen politischen Alltag darstellte, sah
die junge Autorin die Notwendigkeit zu einer kritischen Aufarbeitung der
Entschädigung. Sie meinte damit nicht etwa die noch immer andauernden
Verweigerungen auf deutscher Seite. Im Sinne Finkelsteins zielte sie
vielmehr auf die kritische Aufarbeitung des Verhaltens jüdischer
Repräsentanten. Sie verschärfte damit eine Blickrichtung, die längst unter
der Prämisse formuliert worden war, die Nachkriegsgeschichte Deutschlands
nicht unter dem Aspekt ihrer nazistischen Belastungen zu untersuchen,
sondern als "demokratische Erfolgsgeschichte". Nun mag man Lambsdorffs
Position als Rechtfertigung seines politischen Werks relativieren, doch war
er derjenige, der der Filmemacherin am heftigsten widersprach. Er hatte
offensichtlich – und damit auch die politische Kultur, für die ersteht –
mehr oder weniger den Sachverhalt akzeptiert, nachdem er und sein
politisches Umfeld sich in einem gewissen Ausmaß internationalem Druck
hatten beugen müssen.
Mit Berufung auf Finkelstein formiert sich jedoch eine
gesellschaftliche Strömung, die nicht nur auf einen Schluss-Strich unter
Entschädigungsleistungen zielt, sondern unter Umständen auch ein Ausscheren
aus den internationalen Bemühungen intendiert, zum Beispiel mit weltweiten
Untersuchungskommissionen, wie sie im Gefolge der Schweizer Debatte über die
Vermarktung von NS-Raubgold entstanden sind, die entschädigungs- und
erinnerungspolitischen Konsequenzen des Kalten Krieges aufzuarbeiten. Sie
schnitte damit auch Fragen wie der nach der "vitale(n) Vergeßlichkeit" ab,
die Dolf Sternberger gegenüber der Adenauer-Zeit formulierte und die Norbert
Frei Ende der 90er Jahre in seiner Untersuchung über "Vergangenheitspolitik"
erneut aufnahm.
Der Scheideweg, der sich spätestens seit der Walser-Rede
auftut, tritt also deutlicher hervor. Sicher ist es notwendig darauf zu
achten, was künftig "zur Tür hereinkommen" wird, nachdem Finkelstein "ein
Fenster aufgestoßen" hat. Es greift aber wohl zu kurz, wenn kritische
Stimmen lediglich darauf verweisen, der rechte Rand dieser Gesellschaft
würde durch die Angriffe Finkelsteins gestärkt. Von größerer Bedeutung
dürfte sein, dass die so genannte Mitte der "Berliner Republik" durch ihre
Affirmation der finkelsteinschen Ideologie Positionen einnimmt, die bisher
der radikalen Rechten vorbehalten waren. Das könnte fürwahr ein denkwürdiges
Finale deutscher "Wiedergutmachung" sein.
Rolf Surmann ist Herausgeber des Buches:
Das Finkelstein-Alibi. "Holocaust-Industrie" und Tätergesellschaft
(ISBN: 3-89438-217-1), Papyrossa-Verlag Köln. Der Text wurde im Mai 2001
erstmals veröffentlicht. |