Rede von Bundesaußenminister Fischer:
Global Anti-Semitism
Rede von Bundesaußenminister Fischer
anläßlich der Konferenz "Global Anti-Semitism" der Anti-Defamation
League in New York am 1. November 2002
Es gilt das gesprochene Wort!
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Erinnerung
an den Holocaust und die resultierende Verpflichtung bestimmen
die deutsche Politik auch in Zukunft
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Entschlossenes Vorgehen gegen Antisemitismus
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Bekenntnis
zu Israel als wichtige Konstante der deutschen Außenpolitik
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Zum
Nahost-Friedensprozess
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Das
transatlantische Bündnis als Konstante deutscher Außenpolitik
Sehr geehrter Herr Tobias,
sehr geehrter Herr Foxman,
meine Damen und Herren!
Die Ermordung von sechs Millionen
deutscher und europäischer Juden vor fast sechzig Jahren durch die
Nazis hat die Welt erschüttert. Dieses Menschheitsverbrechen hat die
Welt – besonders Europa –dramatisch verändert. Trotz der Lehren, die
die Menschen aus dem Holocaust gezogen haben sollten, ist das
Phänomen des Antisemitismus weltweit immer noch weit verbreitet.
Tagtäglich werden wir damit
konfrontiert. Anschläge auf Synagogen, Grabmalschändungen oder
Hakenkreuzschmierereien in Europa bis hin zu antisemitischer Hetze
in manchen Medien des Nahen und Mittleren Ostens und den Terrorakten
des 11.9. – der Antisemitismus hat viele häßliche Gesichter. Alle
seine Erscheinungsformen sind Anlass zu größter Sorge. Daher ist es
gut und wichtig, dass eine so berufene Organisation wie die
Anti-Defamation League das Thema "Global Anti-semitism" zum
Gegenstand ihrer Diskussionen macht. Denn Antisemitismus bedroht
nicht nur Juden, sondern ist eine allgemeine Bedrohung von Frieden,
Freiheit und Demokratie. Rassismus ist abscheulich und politisch
hoch gefährlich.
Aber wie sollen wir den Antisemitismus wirkungsvoll bekämpfen?
Welche Strategien versprechen Erfolg?
Sie haben mich eingeladen, heute zu diesem Thema zu sprechen. Dies
ist keine leichte Aufgabe für einen deutschen Außenminister.
Schließlich trägt kein anderes Land so viel Schuld und Verantwortung
aus Erfahrungen mit rassistischem Antisemitismus wie Deutschland.
Die Nazizeit war das Ende von Jahrhunderte alter Blüte und Kultur
jüdischen Lebens in Europa. Wir Deutsche haben mit der Vertreibung
und Ermordung der deutschen Juden durch die Nationalsozialisten auch
die wesentliche Teile von uns selbst unwiederbringlich zerstört.
Wissenschaftler wie Albert Einstein, Literaten wie Lion
Feuchtwanger, Regisseure wie Ernst Lubitsch – ihre bahnbrechenden
Leistungen wurden von den eigenen Landsleuten missachtet, sie selbst
aus ihrem Vaterland vertrieben. Sie hinterließen eine Lücke, die bis
heute nicht wieder geschlossen werden konnte. Ich erlebe das
besonders in Berlin, der Stadt, in der sich jüdisches Leben in
Deutschland am fruchtbarsten und lebhaftesten entfalten konnte. Auch
aufgrund dieser historischen Erfahrung treten wir jeder Form des
Antisemitismus, jeder Form des Rassismus und der
Fremdenfeindlichkeit entschlossen entgegen. Deutschland trägt hier
eine große, eine historisch und moralisch begründete Verantwortung,
der wir uns niemals entziehen dürfen.
Erinnerung
an den Holocaust und die resultierende Verpflichtung bestimmen die
deutsche Politik auch in Zukunft
Die Ursprünge und die Identität des
demokratischen Deutschlands können nur vor dem Hintergrund der
Verantwortung meines Landes für das Menschheitsverbrechen des
Holocaust verstanden werden. Die Erinnerung an dieses Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und die aus ihr resultierende Verpflichtung
wird die deutsche Politik auch in Zukunft bestimmen. Wir werden
alles tun, um die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel unserer
Vergangenheit wach und lebendig zu halten. In Berlin wird in den
kommenden Monaten neben dem Brandenburger Tor das Holocaust-Denkmal
errichtet, ein Ort, an dem diese tragische, ja furchtbare Erinnerung
zu Stein werden wird. Es ist ein Mahnmal für uns, denn wir müssen
uns erinnern.
Entschlossenes Vorgehen gegen Antisemitismus
Ich kann und will nicht verschweigen,
dass es auch bei uns in Deutschland immer wieder antisemitische
Vorfälle gibt. Es bekümmert mich, dass alle jüdischen Einrichtungen
in Deutschland noch immer unter permanenten Polizeischutz stehen.
Aber die Reaktion von Regierung und Justiz auf Antisemitismus oder
gar Straftaten mit antisemitischem Hintergrund sind klar und
eindeutig: Niemals wieder werden wir den Ausschluss und die
Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Religion,
Hautfarbe oder Herkunft auch nur in Ansätzen zulassen. Die
überwältigende Mehrheit der Deutschen hat die fortgeltende
historische Verantwortung für den Völkermord am deutschen und
europäischen Judentum angenommen. Wir werden gegen Antisemitismus in
Deutschland entschlossen vorgehen und wissen, dass wir besonders
wachsam sein müssen.
Wir wissen auch, dass die Folgen von Hitlers antisemitischem
Rassenwahn erst dann endgültig überwunden sein werden, wenn Deutsche
jüdischen Glaubens in Freiheit und völliger Sicherheit in
Deutschland leben können. Vollständig haben wir dieses Ziel bei der
Sicherheit leider noch nicht erreicht. Ein wichtiger Gradmesser für
unsere Fähigkeit, zu einer offenen und toleranten Gesellschaft zu
werden, sind die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Die Frage, ob
sich deutsche Juden in unserem Land sicher und "zu hause" fühlen
können ist die Glaubwürdigkeitsfrage unserer deutschen Demokratie
schlechthin. Es ist unsere "zweite Chance", wie der Historiker Fritz
Stern, es einmal formuliert hat. Wir sind entschlossen, sie zu
nutzen.
Ich bin daher froh, dass in den letzten Jahren die jüdischen
Gemeinden in Deutschland durch Zuwanderung wieder zugenommen haben.
Berlin hat heute die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde
Europas. In vielen deutschen Städten werden neue jüdische Schulen
gebaut und Seminare zur Rabbinerausbildung gegründet. Dass ich Ihnen
heute von der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland berichten
kann, grenzt vor dem Hintergrund der vergangenen Tragödie an ein
Wunder. Es zeigt aber auch, dass wir doch eine erhebliche Strecke
auf dem Weg zu dem vorher genannten Ziel zurückgelegt haben.
Auch über das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahlen freue ich mich.
Das wird Sie nicht wundern. Ich freue mich aber nicht nur über den
Sieg der rot-grünen Koalition, sondern auch und vor allem darüber,
dass extremistische, fremdenfeindliche oder gar antisemitische
Tendenzen bei der deutschen Wählerschaft keine Chance hatten: Bei 80
Prozent Wahlbeteiligung sind nicht nur erneut keinerlei
rechtsradikalen Parteien in den Bundestag gewählt worden. Auch
führten antisemitische Töne im Wahlkampf einer bürgerlichen Partei
zu deren klarer Wahlniederlage.
Bekenntnis
zu Israel als wichtige Konstante der deutschen Außenpolitik
Unsere moralische Verantwortung
beschränkt sich jedoch nicht nur auf die deutsche Innenpolitik. Wir
haben die Verpflichtung, auch international dafür zu kämpfen, dass
sich Katastrophen wie die des Dritten Reiches niemals wiederholen.
Am sichtbarsten wird dieses in unserem Verhältnis zum Staat Israel.
Deutschland unterstützt das Existenzrecht Israels und das Recht
seiner Bürger, in sicheren Grenzen und im Frieden mit ihren Nachbarn
zu leben, vorbehaltlos. Dieses Bekenntnis zu Israel ist eine
wichtige Konstante deutscher Außenpolitik. Es ist nicht verhandelbar
und bildet die Grundlage des besonderen Verhältnisses zwischen den
beiden Ländern. Diese Position vertreten wir auch ohne wenn und aber
gegenüber Staaten, die Israel feindlich gegenüberstehen. Wenn sie
mit uns verhandeln wollen, müssen sie diesen Grundsatz akzeptieren.
So sind wir nach den USA heute der verlässlichste und in Europa
wichtigste Bündnispartner von Israel. Das hätte keiner in
Deutschland vor einigen Jahrzehnten auch nur zu träumen gewagt.
Diese "curious friendship", wie sie der New York Times Korrespondent
Roger Cohen beschrieben hat, äußert sich in zahllosen Kontakten auf
allen gesellschaftlichen Ebenen. Politisch, wirtschaftlich und
kulturell sind wir in ständigem Kontakt und pflegen beste, wenn auch
niemals einfache Beziehungen.
Zum
Nahost-Friedensprozess
Aus dieser engen Verbindung heraus
gilt unsere große Sorge dem Nahost-Friedensprozess. Die Existenz
Israels ist seit seiner Gründung immer wieder gewaltsam in Frage
gestellt worden. Bis heute sind Gewalt und Terror Teil der Realität
des Landes. Gleichzeitig ist die Geschichte des Staates mit dem
Schicksal der Palästinenser fast auf tragische Weise verbunden. Bis
heute ist es zu keiner befriedigenden Antwort für beide Völker
gekommen.
Während meines Israel-Besuchs im letzten Jahr wurde ich Zeuge des
furchtbaren Terroranschlags auf die Diskothek "Dolphinarium", bei
dem zahllose junge Menschen getötet oder schwer verletzt wurden. Ich
werde die Trauer, das Entsetzen und die Wut, die der wahllose und
doch so berechnende Terror in Tel Aviv auslöste, nie vergessen.
Leider folgten ihm weitere verheerende Anschläge mit zahllosen
unschuldigen Opfern.
Auf der anderen Seite betrauern auch die Palästinenser
Familienangehörige und Freunde, die getötet wurden. Die humanitäre
Lage in den palästinensischen Gebieten ist katastrophal. Viele
Häuser in den Städten und Dörfern sind zerstört. Die Absperrungen
strangulieren jedes wirtschaftliche Leben. Auch die israelische
Regierung ist sich dieser Problematik bewusst.
Terror und Gewalt müssen ein Ende finden. Wir brauchen eine
politische Lösung, die einen wirklichen Frieden für beide Völker
ermöglicht.
Ich bin davon überzeugt, dass dieses Ziel nicht durch militärische
Auseinandersetzung zu erreichen ist. Es muss vielmehr alles getan
werden, um dem Weg zum Frieden über den Verhandlungstisch wieder zu
seinem Recht zu verhelfen. Mit der Vereinbarung von Oslo, dem
historischen Händedruck im Rosengarten des Weißen Hauses und in Camp
David schien der Frieden zwischen Israel und Palästina zum Greifen
nahe. Aber leider trog die Hoffnung. Gewalt und Terror fordern fast
täglich neue Opfer im Nahen Osten. Die gesamte Region läuft Gefahr,
sich aufgrund des Konflikts zunehmend zu destabilisieren.
Dabei liegen viele realistische Lösungsinitiativen auf dem Tisch.
Der saudische Vorschlag, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren
ist beachtenswert. Präsident Bush hat klar und konstruktiv den Weg
zur Zweistaatenlösung beschrieben. Ein palästinensischer Staat muss
unabhängig und von innen heraus demokratisch legitimiert sein. Dies
ist keine Utopie, sondern realistisch gedacht: In der arabischen
Welt kenne ich kein Land, in dem das zivilgesellschaftliche und
demokratische Potential größer wäre als in den palästinensischen
Gebieten.
Das Quartett aus den USA, der Europäischen Union, Russland und den
Vereinten Nationen arbeitet weiter engagiert an einer friedlichen
Lösung des Konflikts. Erstmals seit Jahren bemühen sich die
wichtigsten internationalen Akteure um einen gemeinsamen
Friedensplan. Dabei will ich den engen Schulterschluss zwischen den
USA und der Europäischen Union hervorheben. Besonders unseren
amerikanischen Freunden kommt dabei die zentrale Rolle im
Friedensprozeß zu. Ihr Engagement und ihre Verantwortung kann nicht
genug gewürdigt werden.
Das
transatlantische Bündnis als Konstante deutscher Außenpolitik
In diesem Zusammenhang möchte ich
betonen, dass die Entwicklung der Partnerschaft zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel ohne die Rolle der
USA undenkbar wäre. Mehr als jedes andere Land hat Amerika uns
geholfen, von der internationalen Gemeinschaft wieder aufgenommen zu
werden. Amerikas strategische Weitsicht und Großzügigkeit waren
entscheidende Faktoren beim Entstehen einer demokratischen
Gesellschaft im Nachkriegs-Deutschland, einer Gesellschaft, die
ihrer Vergangenheit nicht ausweicht und aus ihr zu lernen bereit
ist. Wir sind unseren amerikanischen Freunden zutiefst dankbar für
ihre Hilfe. Das transatlantische Bündnis zwischen Berlin und
Washington ist für uns ein hohes Gut und ebenfalls eine Konstante
deutscher Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch einmal
nach Deutschland zurückkehren. Wir haben in Berlin unlängst das neue
jüdische Museum eröffnet. Ein jüdischer Architekt aus Amerika,
Daniel Libeskind, hat es gebaut. Ein anderer prominenter, in Berlin
geborener Amerikaner, der ehemalige Finanzminister der USA, Michael
Blumenthal, ist sein Direktor. Die zerrissene Architektur
verdeutlicht eindrucksvoll das schwierige Verhältnis zwischen
Deutschland und seinen Juden. Auf seinem Weg durch das Gebäude, der
gleichzeitig ein Weg durch die tausendjährige jüdische Geschichte
Deutschlands ist, stößt der Besucher unweigerlich auf Ecken und
schroffe Kanten. Es ist ein lehrreicher, ernster Gang. Unterlegt hat
Libeskind die gebrochene Struktur des Baus mit einem breiten,
schnurgeraden Korridor. Er nennt ihn die Achse der Kontinuität, die
die Fortdauer und den Bestand des Judentums trotz durch Jahrhunderte
hin erfahrener Verfolgung und Vertreibung symbolisieren soll. Ich
wünsche mir, dass diese Achse unsere gemeinsame Arbeit gegen
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit und für Demokratie und
Menschenrechte trägt. Sie ist für mich Zeichen der Hoffnung, genauso
wie die Tatsache, dass Daniel Libeskind, geboren in Polen und
aufgewachsen in Israel und den USA heute in Berlin lebt und
arbeitet.
Meine Damen und Herren,
Sie können sich heute wie auch in Zukunft auf das demokratische
Deutschland als Freund und Partner verlassen.
Ich danke Ihnen.
erschienen: Freitag 01.11.02 / ©
1995 - 2005 Auswärtiges Amt
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2007
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