Wolfgang Frindte, Friedrich Funke & Susanne Jacob:
Neu-alte Mythen über Juden
Ein Forschungsbericht
Abschwächung und grundsätzlicher Wandel des Antisemitismus?
"Abschwächung und grundsätzlicher Wandel des
Antisemitismus" in Deutschland in den vergangenen fünfzig Jahren - sollte
das nicht auch Anlaß sein, nach sozialwissenschaftlichen und
sozialpsychologischen Hinweisen zu suchen, um diese Feststellung zu
verifizieren oder aber zu falsifizieren?
Antisemitismus - das Wort, 1879 von Wilhelm Marr, einem
deutschen Antisemiten, geprägt (vgl. Silbermann 1983, S. 341), spiegelt jene
falschen Projektionen wider, mit denen Nichtjuden die Juden als Juden zu
diffamieren versuchen. Und die falschen Projektionen funktionieren, weil sie
sich auf einen Mythos stützen, dessen Entstehungs- und Wirkmechanismen kaum
noch, weil als Rituale der Zivilisation (Horkheimer & Adorno 1944, hier:
1972, S. 180) so alt wie die Zivilisation, nachvollziehbar sind. Als Mythos
besitzt er jene Doppelbödigkeit, die ich oben als primäre und sekundäre
soziale Konstruktionen beschrieben habe: Er stützt sich zum einen auf die
Wirklichkeiten der Juden (auf ihre Existenz, Geschichte und Geschichten) und
liefert zum anderen neue, veränderte, verzerrte, "vergiftete" Bilder und
Geschichten über "den Juden" als Fremden, der das Eigene der "Zivilisation"
bedroht und zu vernichten versucht.
"Und so kannten, vom Mittelalter bis in die Gegenwart,
alle Konzeptionen davon, wie eine Gesellschaft beschaffen sein sollte, in
unterschiedlicher Intensität und mit vielfältigen Ausprägungen, ihr
jeweiliges Bild von ‘dem’ Juden und von ‘den’ Juden, als Gegenbild zum
Konstrukt, zum Modell des Guten, des Wahren, des Eigentlichen, des
Eigenen... Das Bild des ewigen, des wandernden Juden wird erschaffen, das
Bild der ‘Judenschule’ wird erschaffen, Bilder des jüdischen Körpers, des
Mädchenhändlers, des Revolutionäres, des Zersetzers oder des Kapitalisten
werden erschaffen und mit Eigenschaften versehen, die mit den Juden als
Gruppe und als Einzelnen, mit ihrer Religion, ihrer Geschichte und ihrem
Lebensalltag nur weit vermittelt zu tun haben" (Schoeps & Schlör 1995, S.
11).
Der Antisemitismus liefert keine Aussagen über die
Existenz der Juden, keine Aussagen über die jüdische Geschichte, keine
Aussagen über die jüdische Religion. Im Antisemitismus werden diese Aussagen
vielmehr genutzt, um die Juden zu Sündenböcken für die antisemitischen
Wirklichkeiten zu machen.
"Der Antisemitismus ist ein Übel, das auch die ergreifen
kann, die sich sicher und überlegen fühlen; in Situationen der Krise, in der
Provokation kann der antijüdische Apparat aktiviert werden. Ein Übel, das in
der Lage ist, Stimmungen zu erzeugen, Bilder zu verbreiten, schleichend,
nachhaltig, und giftig" (Schoeps & Schlör, ebd. S. 9f.).
Aber: Horkheimers und Adornos Satz, nach dem es keine
Antisemiten mehr gebe (Horkheimer & Adorno 1972, S. 207), scheint heute,
wenn auch 1944 von ihnen anders gemeint, von besonderer Aktualität zu sein.
Bergmann (1988, S. 227) betont, daß der Antisemitismus seine
Integrationsfunktion zwar nicht verloren, aber ein Funktionswandel
stattgefunden habe.
"Der Integrationseffekt wird weder durch Verwendung des
Antisemitismus in sozialen Kreisen (wie im bürgerlichen Antisemitismus) noch
durch staatliche Indienstnahme (wie im Faschismus) erzielt, sondern gerade
durch die Vermeidung des Themas in der Öffentlichkeit"
(ebd., S. 228).
Bergmann beruft sich damit auf die von Bernd Marin (1979)
vertretene These vom "Antisemitismus ohne Antisemiten".
Seit 1949 werden in der Bundesrepublik in Abständen demoskopische Erhebungen
zum Umfang antisemitischer Einstellungen durchgeführt. Wie Bergmann (1988)
kritisch anmerkt, "haben diese Daten, abgesehen von den Arbeiten Alphons
Silbermann, keine soziologische Interpretation erfahren" (S. 219).
"Ist die soziologische Forschung zum Antisemitismus in der
Bundesrepublik Deutschland bisher im Grunde ein 'Ein-Mann-Unternehmen'
gewesen - eben das von Alphons Silbermann und einigen Schülern -, so gibt es
seitens der akademischen Psychologie und Sozialpsychologie überhaupt keine
Arbeiten zu unserem Gegenstand. Gerade die psychologische
Vorurteilsforschung leistet keinerlei Beitrag zur politischen Psychologie
des Antisemitismus" (Bergmann 1988, ebd.).
In seiner 1982 veröffentlichten Studie differenziert
Silbermann verschiedene Formen des Antisemitismus und hebt die kulturellen,
politischen, religiösen und wirtschaftlichen Komponenten des gegenwärtigen
Antisemitismus hervor. Der heutige Antisemitismus in Deutschland stütze sich
vor allem auf tradierte sozial-kulturelle Vorurteile (Silbermann 1982, S.
72). Bergmann stimmt zwar der Auffassung Silbermanns zu, wonach weder reale
Konflikte zwischen Deutschen und der jüdischen Minderheit im gegenwärtigen
Deutschland noch das Fortwirken des nationalsozialistischen
Vernichtungsantisemitimus latente Vorurteile gegenüber Juden erklären
könnten, gleichzeitig hebt er aber hervor, daß die Silbermannsche
Tradierungsannahme zur Erklärung der gegenwärtigen Situation nicht ausreiche
(Bergmann 1988, S. 226). Vielmehr sei davon auszugehen, daß die
gesellschaftspolitische Dynamik ein Meinungsklima geschaffen habe, in dem
das Thema "Antisemitismus" bewußt gemieden werde.
"Der Antisemitismus - so unsere These - ist von einer
politischen Ideologie zu einem privaten (Massen-) Vorurteil geworden, das
psychodynamisch an Kraft verloren hat: einmal, weil affektive Feindbilder
gegenüber Asylanten, Arbeitsmigranten usw. psychische Energie binden und
vermutlich zu einer Schwächung und Abstrahierung des antisemitischen
Vorurteils führen, zum anderen, weil aufgrund der geringen Zahl der in
Deutschland lebenden Juden die selektive Wahrnehmung wenig Anhaltspunkte
besitzt, so daß man von einem 'Antisemitismus ohne Juden'
sprechen kann" (Bergmann & Erb 1986, S. 224).
Der Latenzbegriff, der in der öffentlichen wie
wissenschaftlichen Antisemitismusdiskussion eine Schlüsselstellung einnehme,
sei - so Bergmann und Erb - theoretisch ungeklärt. Unklar sei vor allem, ob
es sich beim latenten Antisemitismus um eine psychische Latenz, im Sinne
einer psychoanalytisch zu interpretierenden Verdrängung, handele oder ob
nicht eher eine Kommunikationslatenz vorliege, also eine systematische
Ausblendung jüdischer und antijüdischer Themen aus den öffentlichen
Diskursen.
Kommunikationslatenz ist für die Autoren also die Form,
"in der antisemitische Einstellungen heute in der Bundesrepublik existieren:
In der anonymen Befragungssituation (und möglicherweise auch in privater
Kommunikation) kommen bei einem nicht geringen Anteil der Bevölkerung sehr
deutlich antijüdische Ressentiments zum Vorschein, während diese in der
Öffentlichkeit, etwa in der Kommunikation mit Fremden, in öffentlichen
Veranstaltungen oder in den Medien... nicht geäußert werden.
Diese Kommunikationslatenz verdankt sich einem extremen öffentlichen
Meinungsdruck, da sowohl die Medien wie auch Prestigepersonen des
öffentlichen Lebens, Parteien, Kirchen, die Erziehungsinstitutionen etc.
antisemitische Einstellungen konsonant verurteilen und bekämpfen" (Bergmann
& Erb 1991, S. 502).
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