Judentum und deutsches Selbstverständnis:
Antisemitismus – ein Problem der Definition?
Von Matthias Fischer
Der Fall Hohmann und vor allem die
Reaktionen auf ihn belegen einmal mehr, dass die deutsche Gesellschaft ein
doppeltes Problem der Wahrnehmung besitzt: nämlich eines der
Selbstwahrnehmung, und eines der Wahrnehmung von Judentum bzw. des Judentums
als sozio-kultureller und religiöser Entität. Basierend auf den beiden, oder
jedenfalls nicht gänzlich abgekoppelt von diesen, existiert meiner Meinung
nach jedoch noch ein drittes, nämlich eine verzerrte Wahrnehmung des
Antisemitismusbegriffs.
Was den Bruch in der Perspektive der
Selbstwahrnehmung anbelangt, so glaubt offensichtlich ein beträchtlicher
Teil der deutschen Gesellschaft, der Geschichte wohne ein wie auch immer
geartetes "Prinzip der Vergebung" inne. Das ist gute Tradition deutscher
idealistischer Philosophie, sozusagen eine zeitgemäßere Variante des
Hegelschen dialektischen Prinzips. These, Antithese und Synthese nach dem
Schema: Ich bringe deine Verwandten um, du bist sehr böse auf mich, unsere
Nachfahren versöhnen sich.
Wohlgemerkt, Versöhnung ist nach meiner
Überzeugung nicht unmöglich, und sie ist auch wünschenswert, wenn das
Unbeschreibliche nicht nach Generationen einfach dem Vergessen anheim fallen
soll. Aber sie ist (a) stets an Menschen als ihre Träger gebunden, und (b)
es gibt es keinen Zwang, auch keine innere Notwendigkeit zur
vielbeschworenen "Normalisierung". Versöhnung – und damit Normalisierung –
ist stets ein Geschenk.
Gedenkarbeit ist möglich, Versöhnungsarbeit
ist ein Widerspruch in sich.
Gedenkarbeit ermöglicht Begegnung – nicht
zuletzt im Buberschen Sinne–, und Begegnung ermöglicht Versöhnung – zwischen
Menschen.
Gedenkarbeit ist Vorraussetzung zum Dialog,
ja, zwangsweise ersetzt sie überall dort in Deutschland und Österreich den
Dialog unter Lebenden, wo bedingt durch den nihilistischen Wahn der Schoah
keine in Fleisch und Blut lebenden jüdischen Personen mehr ansprechbar sind.
Zwar ist eine gewisse Art der Normalisierung
zwischen Deutschen und Juden als Volksgemeinschaften längst angewandte
Praxis: Die Bundesrepublik pflegt diplomatische Beziehungen zum Staat
Israel, dessen Regierung Deutschland neben Italien zu seinen engsten
Verbündeten in Europa zählt; Juden in Deutschland gehen ihrem täglichen
Leben und ihrer Religion nach dem Grundgesetz frei nach, ihre Interessen
sind vertreten durch die Körperschaft des öffentlichen Rechts, den
Zentralrat der Juden in Deutschland; es gibt Mahnmale und Gedenktage an die
Exzesse des deutschen Antisemitismus und Vereine für die christlich-jüdische
Verständigung. Vor zweihundert Jahren jedenfalls hätte man das meiste davon
als eine durchaus beachtliche Normalisierung betrachtet! – An eine
Verbrüderung, oder im gegebenen Fall des Deutschland nach der Schoah, an
eine Versöhnung reicht dies allerdings bei weitem nicht heran.
Somit kann eben doch nicht von einer
Normalisierung in den Beziehungen zwischen den beiden Entitäten als solchen
gesprochen werden, nein – davon kann eben ganz und gar keine Rede sein.
Genau das aber stört viele Menschen in diesem Land: Die einen, stolz auf
ihre Unversöhntheit, organisieren sich in rechtsradikalen Gruppierungen; die
andern, und dies ist die überwiegende Mehrheit, klammern sich an den
eingangs beschriebenen innergeschichtlichen Anspruch auf eine notwendige
Versöhnung in der Zeit.
Der Zeit aber wohnt bekanntermaßen nicht
Versöhnung inne, sondern Verdrängung, Vergessen.
Der amerikanische Lyriker C.K. Williams
beschreibt die Situation, in der Deutsche sich seit dem Holocaust befinden,
folgendermaßen: "Seit langem haben Deutsche über Deutschlands Schuld – oder
auch über die Abwesenheit einer solchen – diskutiert, so viel, dass das Wort
‚Schuld’ beinahe bedeutungslos wurde. Aber in einem gewissen Sinn hat Schuld
– oder ihre Abwesenheit – wenig zu tun mit dem wirklichen Problem der
[heutigen] Deutschen: mit der Tatsache, dass sie wie die Juden eine jener
Entitäten sind, die nicht dadurch definiert werden, was sie tatsächlich sind
oder tun, sondern durch das, wofür sie stehen. Eher als alles andere sind
'die Deutschen' ein Emblem, ein Zeichen."
Tatsächlich hat eine satte Mehrheit der
Deutschen diese Problematik bis heute nicht begriffen. Anders ist nicht zu
verstehen, dass Willy Brandts Kniefall in dieser Nation kaum Schule macht,
während die Zahl der Hohmanns und Walsers tagtäglich zuzunehmen scheint.
Bekanntermaßen reicht deren Spektrum dabei von ganz links bis ganz rechts,
von jener Sympathisantin der Grünen, welche die besetzten Territorien einen
"Therapieraum für holocaustgeschädigte Juden" nennt, über die Initiatoren
des "Projekts 18" in der FDP bis hin zu den Hohmanns und Walsern und all
jenen christlichen und unchristlichen Gruppierungen und Grüppchen am rechten
Rand der CDU/CSU.
Vielleicht ist es wirklich nur eine Frage der
Zeit, wann der Fuchs, der die Trauben nicht zu erreichen vermag, nach denen
ihn so gelüstet, die Trauben zu verfluchen beginnt.
Über den anderen Bruch in der Perspektive,
den in der Wahrnehmung der Juden und des Judentums, seine weit zurück
reichende Geschichte, seine Auswirkungen in der Gegenwart, seine
gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Hintergründe ist viel
geschrieben worden, in der Literatur ebenso wie auf den Seiten von haGalil.
Daher sei es mir gestattet, auf das weitreichende Schrifttum in dieser Sache
zu verweisen. Erwähnt sei jedoch auch, dass die Verzerrung des Bildes vom
"Juden" sich gleichermaßen auf andere Minoritäten übertragen lässt.
Aber da gibt es meiner Meinung nach noch ein
drittes Problem, das den zahlreichen Reaktionen an der Basis der CDU auf den
Ausschluss Hohmanns aus der Fraktionsspitze mit zugrunde liegen dürfte. Es
ist an dieser Stelle nicht meine Absicht, der rein politischen Komponente
solcher Reaktionen nachzugehen; jedenfalls kann ein gewisser Prozentsatz an
CDU-Mitgliedern und –Sympathisanten nicht ausgeschlossen werden, der
antisemitische Positionen bewusst vertritt oder in Kauf nimmt. Wie hoch
dieser Prozentsatz sein mag, vermag ich an dieser Stelle nicht zu
beurteilen. Doch betrachten wir einmal jenes andere Lager unter den
Protestierern, jene, denen wir hier einmal unterstellen möchten, dass sie
genuin von einer Nichtschuld des Herrn Hohmann im Sinne einer
"bedauernswerten, an manchen Stellen äußerst unglücklich ausgedrückten, aber
auf keinen Fall antisemitisch motivierten Rede" ausgehen.
Die Gerechtigkeit erfordert es, dass wir für
einen Augenblick auch die Gegenseite zu Gehör kommen lassen, wo sie den
Boden des Dialogs noch nicht ganz verlassen hat. Nicht zuletzt auch, weil es
für uns leichter sein wird, darauf zu reagieren, wenn die Gründe einmal
klarer vor uns liegen.
Der Grund dafür ist meiner Ansicht nach das
Existieren unterschiedlicher Definitionen des Antisemitismusbegriffs, die in
der deutschen Gesellschaft nebeneinander Verwendung finden. Tatsächlich
finden sich nach einer mit den Möglichkeiten und Mitteln des
"durchschnittlichen" Bundesbürgers durchgeführten Recherche nur wenige bis
gar keine brauchbare Definitionen von "Antisemitismus". Viel ist zu erfahren
über die weit zurück reichende Geschichte des Antisemitismus und des
Antijudaismus, über seine Auswirkungen in der Gegenwart, seine
gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Hintergründe etc.
Überwiegend handelt es sich dabei um Zeugnisse pathologischer Psychologie
und blutiger Vorgänge in der Geschichte. Wollte man folglich daraus eine
Definition des Antisemitismus ableiten, so müsste man tatsächlich zu der
Ansicht kommen, Antisemitismus bestehe allein aus Pogromen und einer
rechtlichen Ungleichstellung der Juden innerhalb der Gesellschaft, zeitweise
gepaart mit einer theologischen Abwertung ihrer Religion.
Tatsächlich aber sind die Pogrome und die
rechtliche Ungleichstellung sowie die theologische Abwertung der jüdischen
Religion nur das Gebäude des Antisemitismus; der Boden, auf dem dieses
steht, ist sehr viel weiter und wird, da weniger dramatisch, oftmals nicht
wahrgenommen.
Ich glaube tatsächlich, dass es in der
deutschen Bevölkerung viele gibt, die sich für keine Antisemiten halten,
weil sie unter den Gegebenheiten des bürgerlichen Nachkriegsdeutschland
keine Juden vertrieben oder durch einen gelben Stern am Ärmel aus ihrer
Gemeinschaft ausgesondert haben. (Ersatzweise findet dieses Stereotyp
übrigens auch in der Mehrheit jener Fälle Anwendung, in denen der oder die
betreffende gar keine Juden persönlich kennt; die Logik ist in diesem Fall:
Wer keine Juden kennt, der kann auch nicht antisemitisch sein, also "gegen
Juden" handeln.)
Dies jedoch ist nach meiner Ansicht die
moralische Grundlage, auf der eine breite Bevölkerungsschicht innerhalb der
Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland die Normalität im Verhältnis
zwischen den Deutschen als Nation und dem jüdischen Volk einfordert, ja,
geradezu einklagt!
Vielleicht sollte man in der deutschen
Öffentlichkeit öfter Fragen des Typs hören: "Ist ein Rassist erst, wer
Schwarze als Sklaven verkauft, ihre Kinder in gesonderte Schulen schickt und
sie ‚Nigger’ nennt, oder ist ein Rassist bereits derjenige oder diejenige,
welche, vielleicht ohne Farbige persönlich zu kennen, behaupten: "Neger sind
Sexmaschinen, gut für die Arbeit, aber von Natur aus faul"?
Die Hohmannsche Anspielung auf das Stereotyp
der Nazis, Juden seien Bolschewiken, geht in die zuletzt aufgezeigte
Richtung.
Hohmann hat Recht mit seiner Aussage, nichts
läge ihm ferner als Antisemitismus, wenn wir von der ersten Definition des
Antisemitismusbegriffs ausgehen: In der Tat fordert er keine Ausweisung der
Juden, und es liegt ihm auch fern, ihnen den gelben Stern anheften zu
wollen, ja, vielleicht ist er wie manche rechte Christen sogar erfreut
darüber, dass es in Deutschland – und Israel – Juden gibt. Aber er ist eben
nach der zweiten Definition in dem Maße ein Antisemit, wie seine Rede auf
das Stereotyp anspielt, Juden seien Bolschewiken, ja, es ist ihm in eben dem
Maße natürlich so zu denken, wie er ein "Normalisierer" ist, dessen
Normalisierungswille auf der verzerrten Selbstwahrnehmung als dem
Angehörigen eines "normalen Volks" fußt.
Außen und Innen treffen sich hier zur
geschlossenen Weltsicht, die an der Wirklichkeit vorbeigeht, weil sie die
Verzerrungen ihrer Komponenten mit übernimmt.
Nicht einzusehen ist, weshalb
gesellschaftliche Funktionsträger wie Hohmann und Walser ihr auf der
"volkstümlichen", rudimentären Antisemitismusdefinition begründetes
politisches Bild unter die Menschen bringen. Dagegen kann jedoch nach meiner
Ansicht – neben den bereits getroffenen politischen Maßnahmen – nicht
zuletzt dadurch vorgegangen werden, indem eine zweite, umfassendere
Definition – Geldstücken gleich, die in die Hand jedes Bürgers und jeder
Bürgerin gelangen – in Umlauf gebracht wird, die beispielsweise so lauten
könnte:
Antisemitismus: allgemeine Feindseligkeit
gegenüber den Juden als Volk oder Gemeinschaft, die zu Pogromen, rechtlicher
Ungleichstellung oder einer Abwertung ihrer Religion führen kann und in der
Geschichte auch immer wieder geführt hat; als Antisemitismus muss aber auch
jede Herabsetzung von Juden anhand künstlich konstruierter physischer oder
moralischer Bewertungskriterien, das Überstülpen stereotyper
Klassifizierungen über die Vielheit von Einzelwesen und Gruppen, die das
Judentum ebenso wie die israelische Gesellschaft ausmachen, sowie –
zuallererst in Deutschland und Österreich – jeder Versuch, die Tragik der
Vernichtung von Juden in der Schoah zu relativieren oder (da dies einer
Relativierung und somit einem Ausweichen vor historischer Verantwortung
gleichkäme) eine "Normalisierung" des geschichtlichen Verhältnisses zwischen
der deutschen Nation einerseits und dem jüdischen Volk andererseits (bzw.
der österreichischen Nation einerseits und dem jüdischen Volk andererseits)
zu erzwingen.
Der Mittel, diese Definition "unter das Volk"
zu bringen und sie diskutieren zu lassen, gibt es genügend: Mehr noch als
die Medien bieten sich beispielsweise das Schulbuch und die Diskussion in
den Ortsverbänden aller Parteien an.
hagalil.com
2007
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