Wie bekämpfen wir den Antisemitismus?
Von Balduin Groller*
aus: Die Welt v. 3.4.1901
. . . Ich glaube wohl, es war
die Thatsache, dass ich Mitgründer und Vorstands-Mitglied des "Vereines zur
Abwehr des Antisemitismus" bin, die Sie veranlasst hat, mich zu einem
Vortrage einzuladen über das Thema: "Wie bekämpfen wir den Antisemitismus?"
Selber hätte ich es wohl nicht erwählt, weil ich gefürchtet hätte, Ihnen
keine befriedigende Antwort geben zu können.
Wir dürfen uns keinen Täuschungen
hingeben und wollen es auch nicht. Hier stehe ich als ein Mann, der mit ein
Gründer dieses Vereines war, und spreche es aus, tiefbewegt in meinem
Innern: Der Verein hat die Hoffnungen nicht erfüllt, die die Welt in ihn
gesetzt hat, hat auch die Erwartungen nicht erfüllt, die wir selbst, deren
Schmerzenskind er ist, an ihn geknüpft haben.
Schopenhauer sagt einmal: Wenn ein
Buch und ein Kopf zusammenschlagen, und es klingt hohl, so muss nicht immer
gerade das Buch daran schuld sein. Wenn der "Verein zur Abwehr des
Antisemitismus" trotz redlichen Willens es zu keiner nennenswerten Leistung
gebracht hat — und wenn Sie dazu in Betracht ziehen die äusseren
Verhältnisse, so werden vielleicht auch Sie zu der milderen Auffassung
gelangen, dass die Schuld nicht ausschliesslich an dem Vereine liegt. Ich
kann Ihnen aus genauer Kenntnis der Verhältnisse und Thatsachen mittheilen,
dass ausserordentlich viel guter Wille, eine innige Hingebung, ja ein
heisser Eifer an die Sache gewendet worden ist, ohne dass wir es zu
irgendeinem nennenswerten Erfolge gebracht hätten. Und ich weiss nicht,
welch ein Geist herniedersteigen müsste, um unter den herrschenden
Verhältnissen in dieser Umgebung irgendetwas zu erreichen . . .
Doch versuchen wir es gleich,
unserer Frage näherzutreten: "Wie bekämpft man den Antisemitismus?" Sofort
werden sich uns mehrere Methoden darstellen. Die Sache ist ja so einfach,
wenn man mit klarem Blick in die Welt siebt. Da sind zunächst die, die vor
Gott und Menschen berufen und berechtigt sind, dem Antisemitismus zu
steuern: Schule, Parlament und Regierung.
Man braucht also fürs erste nichts
anderes zu thun, als in der Schule nach allen Satzungen auch der
christlichen Religion die Nächstenliebe au predigen, den Kindern zum
Bewusstsein zu bringen, dass sie in dem Menschen nur den Menschen zu achten
und zu lieben haben, und es würden dann Generationen heranwachsen, die den
Antisemitismus nicht nur unbegreiflich finden, sondern ihn geradezu als
lasterhaft verabscheuen würden. Wir brauchten also nichts anderes als eine
Corporation von Lehrern, als einen Schulrath, als eine Stadtverwaltung, die
das Unnatürliche abschafft und das Natürliche .einsetzt. Sie sehen, die
Lösung ist ebenso einfach, als utopistisch.
Erfüllt die Schule diese ihre
Aufgabe nicht, dann ist die Gesetzgebung da, das Parlament. Das wird doch
helfen. Es setzt sich doch zusammen aus der Elite der Nationen. Es ist doch
etwas Selbstverständliches, dass das Volk seine Besten entsendet, über das
Wohl des Volkes und seiner Bestandtheile zu berathen. Das ist doch so
ungeheuer einfach.
Ja, meine verehrten Anwesenden, ich
könnte Ihnen eine ungeheure Leidensgeschichte erzählen, wie wir
antichambriert haben bei unseren Ministern, bei unseren hervorragenden
Abgeordneten, um ihnen ins Gewissen zu reden, damit doch endlich einmal das
eine, das erlösende Wort gesprochen werde. Und wenn ich Ihnen dann weiter
erzählen würde, wie kühl, wie ablehnend, mit welchem Achselzucken wir
empfangen wurden, ich glaube, Ihnen würde, wie damals uns, die Schamröthe
ins Gesicht steigen, dass wir uns herabliessen, dort zu petitionieren, wo
wir ein Recht hätten, zu fordern.
Allein, unser Parlament hat doch
auch eine liberale Partei ? (Zwischenrufe.) Ich höre einige missfällige
Aeusserungen. Gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle als einen
Altliberalen. Ich habe es verlernt — vielleicht bin ich nicht mehr jung
genug dazu — meine Stimme zu erheben gegen den Liberalismus, der mir immer
als etwas Heiliges gegolten hat. Ich kann nicht davon lassen: Der
Liberalismus ist das Palladium der Menschheit und Menschlichkeit, er ist
etwas ungemein Hohes und Reines. Nicht dasselbe möchte ich von denjenigen
behaupten, die sich bei uns als die Träger des' Liberalismus aufgespielt
haben. Unter ihnen allen hat sich nicht ein einziger gefunden, der den Muth
gefunden hätte, der den "kategorischen Imperativ" so mächtig in sich gefühlt
hätte, dass er herausgetreten wäre und gesagt hätte : Welch ein ungeheures
Unrecht Tag für Tag begangen wird an tausenden Bewohnern dieses Reiches.
Nicht ein einziger hat sich gefunden, ausser Kronawetter.
Von Plener
und den Bürgerministern angefangen bis zu den heutigen "Volksmännern" hat es
keiner der Mühe wert gefunden, einzutreten für eine unterdrückte gequälte
Bevölkerungsmasse. Das war ihnen offenbar nicht wichtig genug — es schaute
kein politischer Profit dabei heraus.
... Ja, aber die Regierung!
Eigentlich wieder eine ungeheuer einfache Sache. Ein Wort, ein mächtiges,
kräftiges Wort — und, seien Sie überzeugt, wenn Schule, Lehrer,
Stadtverwaltung die Juden im Stich gelassen hätten, wenn sich im Parlament
nicht der Mann gefunden hätte, ein Wort der Regierung hätte gewirkt. Es
hätte gewirkt, wenn auch vielleicht nicht aus Regungen der Menschlichkeit,
so doch aus der Bedientenhaftigkeit der menschlichen Natur heraus. Denn die
Anzahl derjenigen, die von der Regierung etwas haben wollen und daher bereit
sind, ihr kleine Liebesdienste zu erweisen, ist Legion. Und wenn wir, das
heisst der "Verein zur Abwehr des Antisemitismus", diese Kreise gewonnen
hätten, auch das hätte für unseren Verein von Erfolg begleitet sein können.
Wir hätten sagen können: Wir bekämpfen den Antisemitismus.
. . . Wir haben die Hilfe der
Regierung nicht gefunden . . .
Was bleibt übrig als der Rath:
Juden, helft Euch selbst! Doch wie? Könnten Sie sich einen Erfolg davon
versprechen, dass sich eine Selbsthilfe etabliert, die sich in Regungen der
Brutalität äussert ? Man weiss: Das jüdische Temperament ist ein lebhaftes,
leidenschaftliches. Nun denken Sie sich die Situation, wenn der gequälte,
beleidigte Jude jeden Anlass zu einer Nothwehr ergreifen würde, die doch
eigentlich nicht in seinen Naturell liegt. Denn — was immer man den Juden
auch nachgesagt hat und nachsagt — das eine hat man ihnen doch nicht
nachgesagt: dass sie einen besonderen Hang zur Brutalität hätten. Nun
sollten die Juden in der Nothwehr gar zu Thätlichkeiten greifen. Da sind sie
erstens in der Minorität, und zweitens sind in der Kunst der Brutalität die
Gegner den Juden weit überlegen. Es wäre eine recht trauriges
Auskunftsmittel . . .
Es gäbe aber noch ein drittes
Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus. Es ist scheinbar äusserst wirksam
und wird nicht nur von Juden, sondern auch von Christen propagiert. Dieser
dritte Ausweg wird bezeichnet durch eine Wegtafel, auf der zu lesen steht:
Assimilierung. Das wäre auch etwas. Man vermengt, man vermischt sich, taucht
unter im Strome der Völker. Die Sache hat sogar etwas Ideales:
Völkerverbrüderung! . . .
Ja, wenn nur das Mittel etwas wert
wäre! ... Ich möchte Sie an einen alten schlechten Witz erinnern— und die
schlechten Witze haben manchmal die Eigenschaft, dass sie wirklich nicht
schlecht sind. Aus der Kirche kommt schweisstriefend der Herr Pfarrer heraus
und hinter ihm keuchend und ächzend der Messner. "Was ist los," fragte man
den Messner. "Eine Taufe hat's geben", antwortete er; "mit dem Herrn Kohn
ist's noch gegangen, aber der Herr Schlesinger war nicht zum Dertaufen" ....
Die Juden sind eine Rasse für sich, und sie sind nicht zum "Dertaufen". Sie
tragen den Stempel mit sich herum durch Generationen. Immer wird es heissen:
"Der Judenstämmling!" Eine beispiellose Demüthigung hat man erlitten, man
hat sich gebeugt, und es hat nichts geholfen; Man ist nicht anerkannt auf
der einen Seite, und man ist ausgeschlossen auf der anderen Seite. Das ist
die Taufe. Und die Assimilation ohne Taufe? Guter Gott, man thut ja, was man
kann. Man assimiliert sich, so gut es geht. Aber es nützt nichts. Nützt
höchstens bei jenen reichen Juden, denen der Antisemitismus überhaupt nie
weh gethan hat. .. Die gehen auf den Turf, die setzen es durch — welche
Auszeichnung ! — Mitglieder eines Jockey-Clubs zu werden. Sie setzen es
durch, dass sie wenigstens vor ihren Ohren nicht persönlich verletzt werden
— hinter ihrem Rücken geschieht es ja ganz sicher.
Das also ist die Assimilierung, das
vierte Mittel, das leider ebenfalls durch die Thatsachen nicht approbiert
worden ist.
Und nun, verehrte Anwesende, ich
weiss nicht, ob noch irgendwelche Mittel theoretisch auszuklügeln wären. Es
kommt darauf nicht an. Aber in dieser allgemeinen Noth hat sich eine Idee
erhoben, die deshalb eine gesunde ist, weil sie nicht reflectiert auf die
falschen Freunde, und sich nicht kehrt an die Feinde, die einmal den
gesunden Grundgedanken in sich schliesst, dass die Juden auf eigenen Füssen
zu stehen haben — und das ist der Zionismus. Der Zionismus lehrt: Beugt Euch
nicht, kriecht nicht, es nützt Euch nichts. Stellt Euch auf Eure eigene
Füsse und heget das Bewusstsein in Euch, dass Ihr Euer Volksthum zu
vertreten habet. . .
Der zionistische Gedanke hat darum
eine solche werbende Kraft und darum in so kurzer Zeit eine geradezu
weltumspannende Bedeutung gewonnen, weil, abgesehen von den einzelnen
Momenten, in seiner Lehre etwas steckt, was allgemein-menschlich, bezwingend
ist, was an die Herzen rührt und in die Tiefen der menschlichen Seele
greift. Der Zionismus ist die Religion der Armen und Unterdrückten, die
Religion derer, die da mühselig sind und beladen und die durch das irdische
Jammerthal wandern, wie durch ein Thal von Blut und Thränen ...
Denn das ist der grosse Fehler, in
den die Gegner des Judenthums verfallen, die Liberalen und ein grosser Theil
der Juden selbst, dass sie das Judenthum beurtheilen nach seinen Spitzen,
die in der Gesellschaft auftauchen, und dass sie die grossen unglücklichen
Volksmassen nicht sehen.
Den Juden bei uns in den Städten
ist ja unter Umständen zu helfen. Und wenn ihnen nicht im grossen zu helfen
ist, so können sie sich doch im kleinen Erleichterung schaffen. Wenn man
aber ins Auge fasst, wie die überwiegende Mehrheit der Juden lebt, wenn man
sich vorstellt, welch ein ungeheures Elend da durch die Welt geht, da muss
man sagen : Schon das ist ein wahrer Segen, dass durch den Zionismus diesen
Menschen wenigstens die Hoffnung gegeben worden ist ... Denn wenn wir
zusammenfassen, was den Inhalt eines Lebens ausmacht, wenn wir fragen, was
hatten diese Menschen Köstliches in ihrem Leben, so können wir Bände um
Bände durchstudieren und alle Seiten der Geschichte umblättern, wir werden
doch nichts Köstlicheres finden als die Hoffnung. Selbst wenn sie getrogen
hat, so war sie doch das Schönste, das Lebengebende im Dasein. Und dieser
Ruhm, den Armen eine Hoffnung gegeben zu haben, das ist der Ruhm der
Zionisten, ihr unvergängliches Verdienst. . .
... Ja, darf man aber Hoffnungen
ins Blaue hinein erwecken, die "nicht verwirklicht" werden können? Ich muss
Ihnen sagen, meine verehrten Anwesenden, ich habe den Respect verloren vor
den Unmöglichkeiten. Wer vor wenigen Jahren noch behauptet hätte, dass sich
jenen anderen "Utopisten", denen der Friedens-Idee, der mächtigste Autokrat
der Welt zugesellen werde, den hätte man in ein Narrenhaus gesteckt. . . Ich
kann es darum durchaus nicht als "Utopie" ansehen, und glaube sogar, dass
eine türkische Regierung sich einmal sagen wird: Ja, da haben wir es mit
einer vernünftigen und nützlichen Bewegung zu thun. Und darum, glaube ich,
ist es kein Spiel, das man mit den Massen treibt, indem man ihnen die
Hoffnung des Zionismus gibt. Und, wie sagt doch das Dichterwort: "In grossen
Dingen genügt es auch, gewollt zu haben . . ."
Es ist die Aufgabe der jetzigen
jüdischen Generation, für die Idee des Zionismus einzutreten und ihr zum
Durchbruche zu verhelfen mit all ihrer Kraft.
Ich aber habe die feste Zuversicht,
der Zionismus lasse sich verwirklichen. Und er wird zum Segen und zu einem
Acte der Menschlichkeit werden. Und er wird die Juden herausführen aus
diesem Thale von Blut und Thränen, von Schande und Entwürdigung.
*) Wir geben hier den hochbedeutsamen
Vortrag, den der bekannte Schriftsteller im Einzelverein "Fünfhaus" des
"Zion" hielt, im Auszuge wieder.
hagalil.com
2007
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