Felix Goldmann:
Der religiöse Antisemitismus
Das gesamte Mittelalter ist von religiösem
Antisemitismus beherrscht. Aber auch das Altertum kommt in gewissem Sinne in
Betracht. Bei der absoluten Übereinstimmung von Staat und Religion in jenen
Zeiten, die jeden Ausländer vollständig rechtlos macht, wenn er sich nicht
zu den Göttern des Landes bekennt, bei der gewissermaßen territorialen
Zuständigkeit der einzelnen Götter, ist natürlich der Antisemitismus auch in
dem Augenblick vorhanden gewesen, als das durch die Lehre vom Weltengott
anders geartete Judentum sich weigerte, sich in das Schema einfügen zu
lassen. Ein besonderer Fremdenhaß, der den im Altertum sonst üblichen bei
weitem übertraf, weil er tiefere Ursachen hatte, entstand mit Notwendigkeit
überall dort, wo das Judentum den Landesgöttern den Tribut verweigerte. Die
Zeiten des ersten Exils sprechen hiergegen nicht, da es ja auch sonst
vorgekommen ist, daß unterjochte und deportierte Völker als Einheit erhalten
blieben und ihren alten Götterglauben auch auf fremdem Boden bewahren
durften.
Das markanteste Beispiel eines ausgeprägten
religiösen Antisemitismus im heidnischen Altertum dürften wohl die Vorgänge
bei der Erhebung der Makkabäer darbieten. Hier herrscht auf griechischer
Seite der Wille vor, im ganzen politischen Machtbereich die religiöse
Einheit herzustellen, der die anderen Volker sich gar nicht widersetzen. Die
Weigerung des Judentums aber, ein Kompromiß zu schließen — und es wurde ja
schließlich zuerst kaum mehr verlangt — erregt den Haß der herrschenden
Kreise. Das Staunen, aus dem sich Abneigung und Haß entwickelten, war
durchaus ehrlich. Verstanden doch die griechischen Machthaber bestimmt nicht
den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Auffassung des Judentums, dem
Religion Sache des Gewissens war, und der des Hellenismus, die sie als eine
äußere Staatsangelegenheit und Staatsnotwendigkeit ansah. Und wenn später,
als die Welt auf den Standpunkt der Zusammenfassung und des Ausgleichs der
Kultur gelangt war, die Juden sich aus begreiflichen Gründen weigern mußten,
das Abbild ihres Gottes oder ein Symbol ihrer Gottesanschauung in den der
allgemeinen Götterverehrung gewidmeten Tempeln aufzustellen, so liegen hier
gleichfalls Quellen einer Abneigung, welche über den sonstigen Fremdenhaß
weit hinausgeht.
Immerhin muß anerkannt werden, daß das
heidnische Altertum, ebenso wie die heidnischen Religionen der späteren
Zeit, und auch Buddhismus und Islam, einen besonderen Antisemitismus, eine
gegen die Juden gerichtete Bewegung, nicht in dem Sinne zur Entfaltung
gebracht haben, daß man von einer zusammenhangenden und überall
nachweisbaren Erscheinung von besonderer charakteristischer Struktur
sprechen kann. Es handelt sich nur um gelegentliche Ausbrüche des
Fremdenhasses, die sich gegen die Juden als Individuen und nur in seltenen
Fallen gegen die Religion richten. Besonders bezeichnend ist hierbei das
Verhalten des Islam, der ja an sich theoretisch die Verfolgung, ja die
Ausrottung der Ungläubigen mit Feuer und Schwert predigt, der aber in der
Praxis dem Judentum gegenüber jederzeit eine durchaus angemessene und
freundliche Stellung eingenommen hat. Einen Antisemitismus als selbständige
und nachweisbar überall wirkende Erscheinung weist aus begreiflichen Gründen
nur der vom Christentum beherrschte Teil der Welt auf.
Um das einsehen zu können, muß man verstehen,
wie im Mittelalter der Anspruch der alleinseligmachenden Kirche auf
Herrschaft sich mit der Tatsache verbindet, daß die religiöse
Richtung das leitende Prinzip der gesamten Kultur war. Die Religion
lag aller Kultur zugrunde! Sie befruchtete sie und beherrschte sie auch! Sie
war die Mutter aller Kunst, aller Literatur, aller Philosophie und aller
sonstigen Wisseschaft. Es gibt keine Regung des mittelalterlichen
Kulturlebens, die nicht von ihr lebt. Religion ist zu jener Zeit geradezu
der Maßstab für den Begriff ,.Kultur". Wenn also die in den Massen
schlummernden Triebe sich gegen die jüdische Minderheit wandten und einen
Ausdruck suchten, mußte es naturgemäß in religiöser Richtung geschehen. Im
großen wie im kleinen mußte sich das zeigen. Das Judentum gilt als
verfluchte Religion derer, die den Messias nicht anerkennen und damit das
Heil verschmähen. In dieser Atmosphäre entstehen Gedankengänge wie jener,
daß die Christenheit den Tod ihres Stifters an den Juden rächen müsse. Und
aus diesem absolut religiös gefärbten Ideenkreise gingen Beschuldigungen
hervor, wie die des Ritualmordes und der Hostienschändung, von denen
besonders die letztere so ungemein für die Macht der religiösen Idee typisch
ist. Setzt sie doch voraus, daß das christliche Glaubensdogma historische
Wirklichkeit, daß auch für den glaubenstreuen Juden die durch des Priesters
Wort gewandelte Hostie wirklich der Leib Jesu sei.
Der religiöse Antisemitismus ist natürlich in
vielen einzelnen Erscheinungsformen nachweisbar. Die eigentliche Quelle
seines Wesens ist das bereits kurz erwähnte Dogma, daß die katholische
Kirche allein seligmachend sei. Dieser Behauptung gegenüber zeigten sich
die Juden als ein lebendiger Protest. Sie störten die Glaubenseinheit ganz
empfindlich, wenn nicht durch ihre Zahl, so doch durch ihren Geist, und die
mittelalterliche Kirche mußte großen Scharfsinn aufwenden, um zu erklären,
wie trotz der gottgewollten historischen Glaubenseinheit die längst
verfluchten Juden sich nicht nur erhielten, sondern ein oft recht
erfolgreiches und beachtenswertes Dasein führten. Die Kirche fühlte sich
durch diese Tatsachen so sehr getroffen, daß sie nicht nur ihren eigenen
Prinzipien zuwider in der Behandlung der Juden von der ihr befohlenen
Nächsten- und Feindesliebe nichts wissen wollte, sondern daß sie künstliche
Theorien zu schaffen versuchte, welche das Vergehen gegen diese Grundgesetze
entschuldigen sollten. Formell kam noch hinzu, daß die Kirche zu ihrem
eigenen Schaden das Gebiet des Kampfes gegen das Judentum verschob und nicht
nur das Glauben und Fühlen, sondern auch das Denken und Wissen
hineinzog. Wie sich die Kirche überhaupt die letzte Entscheidung in Fragen
des Wissens bei ihren Gläubigen vorbehielt, glaubte sie es auch mit den
Juden machen zu können, vergaß aber, daß hier die unumgänglich notwendige
Grundlage fehlte, die Anerkennung eines gemeinsamen Glaubensfundaments, dem
das Ergebnis der Wissenschaft sich unbedingt unterordnen mußte. Wenn die
Kirche sich mit dem Judentum auf Disputationen einließ, so blieb
dieses stets moralischer Sieger. Das lag schon daran, daß das Judentum die
Logik für sich hatte. Dieser regelmäßige Ausgang konnte aber nicht ohne
Wirkung bleiben, selbst wenn der Kirche die tatsächliche Macht verblieb und
sie nach jeder für die Juden erfolgreichen Redeschlacht den Druck der
Verfolgung mehrte. Die Disputationen waren eine besondere Verstärkung des
religiösen Antisemitismus, denn sie ließen immer wieder erkennen, daß nur
der Appell an die Gewalt dort helfen könne, wo logisch und verstandesmäßig
ein Übergewicht nicht zu erzielen war. Das Gefühl der zahlenmäßigen
Überlegenheit, der Majoritätsinstinkte wurde gerade auf diesem Wege
besonders erweckt. Wenn die Disputationen, wie es ja meist der Fall war,
sich mit der Frage beschäftigten, ob der Messias schon erschienen sei oder
nicht, und wenn zur Entscheidung dieser Frage die Verheißungen des alten
Testaments zur Grundlage genommen wurden, war es klar, daß die Juden
leichtes Spiel hatten, denn sie brauchten nur auf den Unfrieden der Welt und
auf ihre eigenes trauriges Schicksal hinzuweisen, um im Hinblick auf die
ewigen Friedensverheißungen der Propheten es klar erscheinen zu lassen, daß
der Messias noch nicht auf die Welt gekommen sei. Und nur zu oft werden sie
auf diesem Wege in die Herzen der kirchlich Gläubigen den Stachel des
Zweifels gesenkt haben. So geht der ganze religiöse Antisemitismus im
letzten Grunde auf das Empfinden zurück, daß die Juden in ihrer
Halsstarrigkeit das Heil der Erlösung nicht annehmen und damit die
Glaubenseinheit der Kirche vereiteln. Dazu stimmt auch die Stellung, welche
der getaufte Jude im Mittelalter einnimmt. Nicht nur, daß er als
vollberechtigtes Mitglied der Kirche wie des sozialen und gesellschaftlichen
Lebens aufgenommen wird, er wird geradezu als ein besonders bevorzugter
Christ angesehen; ihm, dem verlorenen Sohn, der den rechten Weg gefunden
hat, stehen gerade die höchsten Stellen der Kirche offen. Selbst Bischöfe
und Erzbischöfe gehen aus den Reihen der Täuflinge hervor, und sie denken
gar nicht daran, ihre Herkunft zu verleugnen, stolz nennt sich sogar der
eine und andere "judaeus con versus"!
Gewiß mag nicht immer das Entstehen des
Hasses auf diese im letzten Grunde kirchenpolitischen Beweggründe
zurückzuführen sein, sondern ein echtes religiöses Motiv spielt auch
eine Rolle. Man hat oft Mitleid mit dem Juden, der sich in seiner
Verblendung den Heilswahrheiten der Kirche widersetzt und schnurstracks den
Weg zur Hölle einschlagt, anstatt sich in die ewige Seligkeit retten zu
lassen. Und wenn vorhin ausgeführt worden ist, daß die Menschheit oft jene
mit Haß bedenkt, denen sie Wohltaten verdankt, so ist weit sicherer noch,
daß sie jenen zürnt, die ihre Wohltaten zurückweisen.
Man rechnete es dem Juden als Überhebung an,
daß er das Christentum ablehnte, und je höher man den Wert des Geschenkes
einschätzte, um so größer wurde natürlich die Abneigung.
Es entspricht durchaus dem geschilderten
Entwicklungsgänge, wenn der religiöse Antisemitismus prinzipiell
wenigstens durch die Reformation Luthers seinen stärksten Schlag
erhielt. Die weltkulturgeschichtliche Bedeutung der Reformation hat
eigentlich erst Jahrhunderte später ihren Ausdruck gefunden, und wenn man
hierzu ein äußeres geschichtliches Ereignis heranziehen will, so mag man
sagen, daß die französische Revolution vollendet hat, was die Reformation
begann. Ganz gewiß gegen den Willen Luthers, seiner Vorgänger und seiner
Nachfolger, ist die von ihm entfachte Bewegung die Ursache gewesen, daß die
Stellung des Glaubens eine ganz andere wurde und die Religion aus ihrer
alles beherrschenden zentralen Stellung gestoßen wurde. Das gilt sowohl
theoretisch wie praktisch! Theoretisch wurde der starke Rahmen der Kirche
gesprengt, Christen stellten sich außerhalb des kirchlichen Organismus und
erkannten statt der Weltmacht des Papstes nur ihr Gewissen als obersten
Richter in religiösen Angelegenheiten an. Der Anspruch der katholischen
Kirche, alleinseligmachend zu sein, wandelte sich aus einem kraftvoll
fortschreitenden, der Verwirklichung sich nähernden Prinzip in einen
theoretischen Grundsatz, in ein schwächliches Protestieren. Die Möglichkeit
war gegeben, daß man auf verschiedenen Wegen zur Seligkeit gelangen konnte,
und damit war der stärkste Antrieb zur Judenfeindschaft gemildert. Praktisch
aber entwickelten sich zwischen der katholischen und evangelischen Kirche
die heftigsten Streitigkeiten und die blutigsten Kriege, so daß man nicht
mehr die Macht und die Zeit hatte, der Bekämpfimg des Judentums die volle
Aufmerksamkeit zu widmen. Gewiß war die neu entstehende Inquisition
auch für das Judentum nicht gerade angenehm, aber nur die Nebenwirkungen
trafen sie, wohingegen die Hauptstöße gegen die evangelische Kirche
gerichtet waren. In den Wirren des dreißigjährigen Krieges und der sonstigen
Religionsstreitigkeiten litt fraglos die Judenheit als Masse ganz
außerordentlich. Das Judentum als Religion hat aber ebenso fraglos
eine Zeit der Kräftigung durchgemacht. Immerhin sind jedoch schon nach der
Reformation Erscheinungen, wie die der Kreuzzüge mit ihrem aufflammenden
Massenwahnsinn auf rein religiöser Grundlage, der die Juden m Haufen
vernichtete, kaum mehr denkbar.
Vollends gebrochen wurde die Kraft des
religiösen Antisemitismus durch die folgende Zeit der Aufklärung. Wie
alle, geistigen Erscheinungen der frühen Neuzeit, ist auch sie befruchtet
durch den von der Reformation hervorgerufenen Zustand. Geistige
Erscheinungen wie Leibniz und Kant sind nicht nur äußerlich
einzig und allein in einer der Gewissensund Lehrfreiheit huldigenden Zeit
denkbar, sondern auch innerlich besteht ein Zusammenhang zwischen der neuen
wissenschaftlichen Denkweise und der Reformation. Wenn man jedenfalls im
geistigen Leben Deutschlands, das ja dann schließlich seine Strahlen in die
Welt hinaussendet und sie erleuchtet, für die Weltkultur also von größter
Bedeutung wird, in den Zeiten zwischen der Reformation und der französischen
Revolution einen einheitlichen charakteristischen Zug finden will, so liegt
er darin, daß die Religion allmählich aus ihrer beherrschenden
Weltmachtstellung entfernt wird, daß sie, was ja miteinander zusammenhängt,
sowohl in der allgemeinen Kultur, wie auch in der Menschen Seelen in ihrer
Bedeutung zugunsten anderer Strömungen stark zurücktritt. Im menschlichen
Leben schwindet die Religion als Grundlage der gesamten Denkweise und
Lebensrichtung, mit der mystischen Gründe Stimmung streiten Rationalismus
und naturwissenschaftliches Denken, in der Politik erhält die Stellung der
Religion einen starken Stoß, allmählich wird ihre Verbindung mit dem
modernen Staatsgedanken völlig untergraben, sie wird zum mindesten der
Theorie nach zur Privatsache. Unbedingte Gewissensfreiheit tritt an
die Stelle der früheren dogmatischen Bindung, wenigstens im Staate, und die
Unterwerfung unter das Dogma der Religion wird zu einer freiwilligen
Leistung, die vom widerwilligen Glied nicht erzwungen werden kann. Gewiß ist
diese Entwicklung keine geradlinige, keine überall in gleicher Weise
wahrnehmbare, sie ist auch heute noch nicht abgeschlossen, wie
beispielsweise die Tatsache beweist, daß noch immer Länder wie Preußen,
Sachsen und Bayern von dem Dogma des christlichen Staates beeinflußt sind,
daß noch heute dieser Begriff in Spanien eine gewaltige Öffentliche Rolle
spielt. Aber es ist unverkennbar, daß die Kulturanschauungen sich völlig
geändert haben, daß die Religion nicht mehr, wie im Mittelalter, Mittelpunkt
und Quelle alles geistigen Lebens ist, sondern nur ein Gebiet neben anderen.
Die allgemeine Entwickelung drängt unverkennbar nach völliger Trennung
von Staat und Kirche, nach völliger Freiheit in religiösen Fragen, und
was bei unseren deutschen Verhältnissen noch immer nicht restlos erfülltes
Dogma einiger Parteien ist, ist in anderen Ländern — beispielsweise
Frankreich und den Vereinigten Staaten — längst zur Wirklichkeit geworden.
Die Religion wird allmählich — und das ist das Endziel — aus einer
Angelegenheit des Staates zu einer solchen des Gewissens!
Selbstverständlich sind für die Geschichte
des Judenhasses diese Vorgänge von allerhöchster Bedeutung gewesen. Auf der
einen Seite schwand der Kirche die tatsächliche Macht, den Unterschied
zwischen ihr und dem Judentum in eine Politik der äußerlichen Unterdrückung
umzusetzen, andererseits aber ging — sobald die Macht der Religion geringer
wurde — der großen Menge das Bewußtsein für den Wert der Anschuldigungen,
die die Kirche vorbrachte, fast völlig verloren. Man kann sich gewiß fragen,
und dies wird uns bei der Betrachtung des wirtschaftlichen Judenhasses noch
beschäftigen, ob nicht der gesamte religiöse Antisemitismus formelle
Bedeutung hat und ob er nicht durch ein ideales Gewand etwas anderes zu
verhüllen trachtet. Wie dem aber auch immer sei, er war die Form, in der der
Judenhaß wirkte. Und Formen, die lange Zeit bestehen, erhalten nicht nur den
Charakter von materiellen Gründen, sondern sie lassen ihre wahre Grundlage
oft zurücktreten, ja der Vergessenheit anheimfallen. Was wir tagtäglich bei
den religiösen Zeremonien feststellen können, gilt natürlich auch von den
Äußerungen des Judenhasses. Wenn beispielsweise die ewig wiederholte
Beschuldigung des Mittelalters, die Juden hätten Christus gekreuzigt und
seien dafür in alle Ewigkeit hinein verflucht und zu bestrafen, erhoben
wird, so mag gewiß im Hintergrunde gemeine Habsucht schlummern. Aber dennoch
ist hierin schließlich der starke Ausbruch eines wirklich religiösen Hasses
zu erblicken. Die Neuzeit aber nahm solchen Beschuldigungen die rechte
Kraft, denn einerseits wurden sie einem großen Teile der Menschheit
unverständlich, weil ihr religiöser Einfluß nicht mehr so groß war, daß er
das logische Denken, das historische Bewußtsein und das Gerechtigkeitsgefühl
vollständig unterdrücken konnte, andererseits aber hatte die Kirche gar
keine Mittel, um der Erregung der Volksleidenschaften irgendwelche Taten
folgen zu lassen, im Gegenteil, die Staatsmacht mußte — gewiß nicht aus
Liebe an den Juden, aber im Interesse der gefährdeten Ordnung — oft genug
dazu schreiten, den religiösen Instinkten verleiteter Volksmassen einen
gewissen Dämpfer aufzusetzen. Wie gering jetzt die Kraft des religiösen
Antisemitismus geworden ist, zeigt der Verlauf der gegen die Juden
gerichteten Bewegung in den verschiedenen Teilen Rußlands, in Polen, in
Ungarn und auch in Deutschland. Heute ist es gewiß möglich, in ländlichen
Gegenden, unter besonderen Umständen durch eine rein religiöse Beschuldigung
eine Abneigung, vielleicht auch — das Beispiel von Konitz steht noch
frisch in der Erinnerung — vorübergehende Krawalle gegen die Juden zu
erregen, im übrigen aber würde wohl die industrielle Bevölkerung einer
Großstadt solchem kirchlichen Antisemitismus völlig verständnislos
gegenüberstehen. Äußerlich kommt dies darin zum Ausdruck, daß gewisse
Beschuldigungen von der Bildfläche verschwunden sind. Man weiß, welches
Unglück durch die Anklage der Hostienschändung angerichtet worden
ist, in der den Juden vorgeworfen wurde, sie durchstächen geraubte Hostien,
um aus ihnen Blut zu gewinnen. Die naive — bereits berührte — Anschauung,
daß das Glaubensdogma der katholischen Kirche auch für den Juden eine
Realität bedeutet, und die Kraft der mystischen Vorstellung wirken längst
nicht mehr im Menschengemüte stark genug, um einem derartigen Vorwurf Kraft
zu verleihen, und sollte vielleicht ein Schwärmer oder Fanatiker es einmal
tun, so ist keine Rede davon, daß irgendein größeres Unglück entstehen
könnte.
Die Wirksamkeit des religiösen Antisemitismus
hangt von der Stellung der Kirche und von der Kraft der Religion in den
Seelen ab. Sie wird darum überall dort zu finden sein, wo diese beiden
Faktoren noch stark wurzeln. Natürlich ist auch die Richtung der religiösen
Denkweise von Einfluß. In protestantischen Ländern wirken diese Kräfte nicht
so stark, wie in katholischen. So kommt es, daß heute religiöser
Antisemitismus vornehmlich in ungebildeten Volksmassen herrscht, die stark
unter dem Einfluß eines fanatischen Klerus stehen. Daß natürlich in den
Kreisen der Geistlichkeit eine solche Position ungern aufgegeben wird, daß
dort häufig Versuche gemacht werden, um den religiösen Antisemitismus nicht
schwinden zu lassen, ist klar, und so ist der letzte Ausläufer des
religiösen Judenhasses, der sich freilich durch eine nicht zu
unterschätzende innere Kraft auszeichnet, der wissenschaftliche
Antisemitismus geworden, der heutzutage besonders in den Kreisen der
protestantischen Theologie gepflegt wird.
Diese Bewegung hat darauf verzichtet, die
großen Volksmassen irgendwie zu beeinflussen. Nur ab und zu, wie noch jüngst
in dem Falle des Leipziger Professors Kittel und seines Gutachtens über
Fritsch, deckt sie mit ihrem starken Arm einen Demagogen, der unter seinen
sonstigen Anklagen auch die religiöse verwertet. Sonst aber beschäftigt sich
diese Richtung weniger mit der praktischen Religion der Juden als mit der
theoretischen Grundlage. Sie greift beispielsweise die Gottesvorstellung an
und will nachweisen, daß der alte Judengott nicht der Gott der Liebe und
Gerechtigkeit, sondern ein strafender, zürnender, rachgieriger Dämon sei,
der nur seinem Volke Sieg und Heil verheiße. Sie verzerrrt die Gestalten des
alten Testaments, um dann aus den konstruierten Zügen der Minderwertigkeit
Bilder von altjüdischem Typus zu entwerfen, die an Scheußlichkeit nichts zu
wünschen übrig lassen. Die Folgerungen für die heutige Zeit ziehen ganz
gewiß nicht die Forscher selber, sondern sie überläßt man einem Fritsch
und seinen politischen Freunden. Es kann nicht Aufgabe dieser Schrift sein,
die Einzelheiten aufzuzählen, in denen durch die willkürliche Deutung
altjüdischer Einrichtungen und Personen ein verächtliches Bild vom heutigen
Judentum erzielt wird. Diese Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf das
Gebiet des Glaubens, sondern auch auf das der Ethik; man denke
beispielsweise an alles, was über das Recht auf Wucher, über Fremdenhaß,
über die Behandlung des Feindes und ähnliche Dinge geschrieben worden ist.
Die Quelle dieses Antisemitismus ist klar: das alte Dogma von der
alleinseligmachenden Kirche ist in verklärter und idealisierter Gestalt zu
dem neuen Dogma geworden, daß das Christentum — und zwar immer dasjenige des
gerade schreibenden Forschers — die höchste denkbare Vollkommenheit
religiöser Fortentwickelung bedeutet. Auf dieser Grundlage muß natürlich das
Judentum als eine längst überwundene Religionsstufe dargestellt werden,
deren Beruf in dem Augenblicke erfüllt war, als das Christentum entstand.
Unzertrennbar hiermit verbunden ist die oft groteske Unwissenheit über die
Äußerungen jüdischen Kulturlebens nach der Zerstörung des Tempels, der
absolute Mangel an Verständnis für die religiösen Urkunden späterer Zeit und
für die jüdische Psyche. Natürlich fehlt dieser ganzen Bewegung der große
Schwung des ehemaligen Antisemitismus der alten Kirche, es fehlt ihr vor
allem die Einheit, weil ja schließlich die einzelnen Gelehrten von ihren
eigenen Forschungen ausgehen und sich demgemäß widersprechen. Man denke
beispielsweise an die ergötzlichen Streitigkeiten zwischen den Vertretern
der Wellhausenschen Theorien, die das Judentum in geschichtlicher Zeit aus
roher, kulturloser Hirtenumgebung zu einem nationalen Gebilde erwachsen
lassen, und denen der babylonischen Richtung, die das Judentum in den Kreis
eines hochentwickelten alten Kulturlebens hineinstellt. Da natürlich die
Ergebnisse dogmatisch feststehen, muß es bei dem Wege dahin zu erheblichen
Abweichungen kommen, die sich häufig in nicht allzu sanften
wissenschaftlichen Streitigkeiten entladen. Freilich muß anerkannt werden,
daß es auf diesem Gebiete einen Unterschied gibt zwischen antisemitischer
Tendenzforschung und wirklicher Wissenschaft. Auch das Judentum ist ein
lebendiger Organismus, der Gutes und Schlechtes miteinander vermischt hat
und der nicht über jede Kritik erhaben ist. Es ist psychologisch leicht
verständlich, daß der stets und ständig Angegriffene eine gewisse
Überempfindlichkeit besitzt, daß er gewissermaßen auf der Lauer Hegt und
überall Judenhaß zu wittern glaubt, selbst dort, wo nur in der Form
gemäßigte und in der Sache berechtigte Kritik vorliegt. Nicht jede
Wissenschaft, die zu ungünstigen Ergebnissen in bezug auf das Judentum
kommt, ist antisemitisch. Und auf jüdischer Seite muß man sich gerade auf
diesem Gebiete sehr stark vor dem Standpunkte hüten, der — wie der alte
Scherz es will — den jüdischen Schüler die schlechten Ergebnisse seiner
Klassenarbeit auf den Antisemitismus des Lehrers zurückführen läßt. Es ist
das sicherste Zeichen der inneren Kraft, daß man zwischen dem bewußten
Angriff unter Mißbrauch der wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse und
der angebrachten Kritik zu entscheiden weiß. Nur starke Menschen und
Gemeinschaften vermögen sie zu vertragen.
Es ist schon hervorgehoben worden,
daß der religiöse Antisemitismus sich vornehmlich dort erhält, wo der Staat
von der Kirche beeinflußt ist, und so wirkte er fraglos gerade im
vorrevolutionären Preußen und nach seinem Beispiel auch in anderen deutschen
Bundesstaaten in jenem Begriffe nach, den einstmals der getaufte Jude
Stahl-Schlesinger besonders betonte, in der Lehre vom "christlichen
Staat". Der Versuch, den modernen Staat, der auf der Gleichberechtigung
aller Individuen beruht, mit den mittelalterlichen Begriffen des
Religionsstaates, der vom vollberechtigten Glied die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Religionsgemeinschaft verlangt, zu vereinen, hatte den
offiziellen Zustand geschaffen, der zwar nach Artikel 12 der preußischen
Verfassungsurkunde den Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte
von dem Religionsbekenntnis unabhängig machte, nach Artikel 14 aber die
christliche Religion bei den Einrichtungen des Staates, welche mit der
Religionsübung im Zusammenhang stehen, zugrunde legte. Und der Kreis
dessen, was hier in Betracht kam, konnte erfahrungsgemäß durch
Interpretation beliebig erweitert werden. Praktisch ergab sich daraus, daß
die Judenheit als Sammlung von Individuen gesetzlich alle Rechte
genoß, daß aber das Judentum als Gemeinschaft völlig rechtlos war.
Der Jude als Bürger mußte durch seine Steuern zum Unterhalt des
Gottesdienstes der privilegierten Kirche beitragen, hatte aber seine eigenen
Kultuseinrichtungen selbst zu unterhalten. Weder auf den Universitäten, noch
auf der Schule und im Heere wurde das Judentum als Religionsgemeinschaft
anerkannt, und so ist auf religiöser Grundlage eine staatsrechtliche
Zurücksetzung entstanden. Natürlich wirkte sie auch psychologisch, indem sie
schließlich zu einem Grunde für neuen Antisemitismus wird. Der Zwiespalt
zwischen der Stellung des Individuums und der Rechtlosigkeit der Gemeinde
läßt die Welt in Verwunderung geraten, wie man als vollberechtigter
Kulturmensch einer so verachteten Gemeinschaft angehören könne; und aus der
Verwunderung wird leicht genug Abneigung und Feindschaft, wenn die
Anhänglichkeit an die Religion nicht zu erschüttern ist und wenn gar gegen
diese selber durch den Staat ein Kampf eröffnet wird.
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