"Was der Jude glaubt ist einerlei...":
Der Rassenantisemitismus in Deutschland
Von Ludger Heid
aus: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die
Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien 1995.
Elektronische Quelle:
http://www.link-f.org
Der Begriff "Antisemitismus" wurde
erstmals 1879 in Deutschland verwendet und bezeichnet die
Feindschaft gegen Juden. Die Antisemiten stützen sich dabei auf
vorgegebene religiöse, wirtschaftliche, rassische, kulturelle und
politische Motive, um die Juden gesellschaftlich auszugrenzen.
Ein religiös motivierter
Antijudaismus war bereits in der Antike verbreitet, machte sich vor
allem im Mittelalter bemerkbar und fand seinen Ausdruck in der
Errichtung von Ghettos, Kennzeichnungen ("Judenfleck"), Zwangstaufen
und Verfolgungen. Nie erloschen ist der seit Beginn der frühen
Neuzeit erhobene Vorwurf, der Jude sei von Natur aus ein Geldmensch,
ein "Wucherer" und "Blutsauger". Dabei ist es nicht schwer zu
erklären, dass Juden seit dem Mittelalter aus der wirtschaftlichen
Gesellschaft des "christlichen" Kaufmannsstandes systematisch
herausgedrängt und ihnen "unehrliche" Berufe zugewiesen wurden.
Wirtschaftliche Judenfeindschaft ist eine Folgeerscheinung der
gesellschaftlichen Ausgrenzung und fordert die Beschneidung
jüdischen Einflusses in der Wirtschaft. Der kulturelle
Antisemitismus wendet sich gegen die Beschäftigung von Juden mit
nichtjüdischem Kultur- und Gedankengut und ihre Beteiligung an
kulturtragenden Institutionen. Der neuzeitliche Judenhass nahm alte
Begriffe wieder auf wie: "Christuskreuziger", "Ungläubige",
"Volksschädlinge", "Kulturzersetzer", "Untermenschen",
"Weltverschwörer".
Seit dem 19. Jh. stützt sich die
Judenfeindschaft vorwiegend auf Rassegedanken durch Betonung der
Fremdartigkeit des jüdischen "Stammes".
In Opposition gegen den Reformkurs
Karl August Fürst von Hardenbergs, in Überbetonung nationaldeutscher
Werte und in Abneigung gegen die Juden schlossen sich adelige und
bürgerliche Romantiker 1811 zu einer Berliner "Christlich-deutschen
Tischgesellschaft" zusammen. Unter den Teilnehmern dieses
literarischen Zirkels befanden sich auch Heinrich von Kleist,
Clemens Brentano, Carl von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte. Das
Vereinsstatut setzte einen "Arierparagraphen" fest, der die
Mitgliedschaft von Juden ausschloss. Bei einer Sitzung der
Tischgesellschaft im März 1811 trug Clemans Brentano eine
"scherzhafte Abhandlung" vor, in der er traditionell christlichen
Judenhass mit Animositäten gegen die aufziehende kapitalistische
Markt- und Geldwirtschaft vermengte. Die antijüdischen Auslassungen
Brentanos wurden von der Tischgesellschaft - von der einige
Mitglieder ständig in den jüdischen Salons von Henriette Herz und
Rahel Levin verkehrten - mit solcher Zustimmung aufgenommen, dass
sich Brentano veranlasst sah, sein Vortragsmanuskript drucken zu
lassen. (1)
Dieses Beispiel aus der
Voremanzipationsphase zeigt, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts
neben religiösen und wirtschaftlichen Motiven erstmals
rassistisch-biologische Vorurteile in das antijüdische Denken der
Zeit eingeflossen waren.
In seiner Schrift mit dem
programmatischen Titel "Germanomanie" verurteilte der Berliner
jüdische Schriftsteller Saul Ascher Nationalismus und Deutschtümelei
und zog sich damit den Zorn der deutschen Burschenschaften zu, die
Aschers Broschüre auf dem Wartburgfest 1817 verbrannten. Diese
symbolische Ermordung Aschers war der Anstoss zu Heinrich Heines
drei Jahre später geäußerter Prophezeiung: "Dies war ein Vorspiel
nur; dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende
Menschen." (2)
Im Zeitalter eines "hoch
aufschäumende(n) deutsche(n) Nationalismus" (3) gaben rassistische
Volkstumslehren romantischer Agitatoren wie Ernst Moritz Arndt und
"Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn den Ton an. Die nationale Idee der
deutschen Einheitsbewegung verband sich mit Doktrinen, die an die
Stelle der traditionellen religiösen Judenfeindschaft eine
biologisch begründete setzten. In einer wertmässig abgestuften
Hierarchie von Menschenrassen wurden einzelnen Völkern kollektive,
unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben. Jahn war überzeugt,
dass es - so wie es "taube Nüsse" gibt - auch "taube Staaten und
ohne Volkstum taube Völker" gebe, zu denen er unzweifelhaft die
Juden rechnete. (4) Und Arndt wollte die Juden von Deutschland
fernhalten, damit sich der "germanische Stamm so sehr als möglich
von fremdartigen Bestandteilen rein" (5) erhalte.
Mit der Taufe konnten sich die Juden
in gewissem Sinne das "Entree-billett" in die europäische Kultur
erwerben, doch in einer Zeit, in der man begann, sie ethnisch zu
definieren, war der Glaubenswechsel allenfalls eine Scheinlösung.
Heinrich Heine nahm zwar die Taufe, ohne allerdings das Judentum zu
verlassen. "Ich bin getauft", räumte er ein, "aber ich bin nicht
bekehrt." (6) In ihrer Gegnerschaft zu den Juden waren sich
konservative Nationaldeutsche und Fortschrittliche, die von den
Ideen der Französischen Revolution durchdrungen waren, einig - die
Judenfeindschaft unterschiedlicher sozialer Klassen war sozusagen
eine ideologische Klammer. In der Voremanzipationsphase begannen
antijüdische Autoren, die eine radikale Reform hinsichtlich des
Status der Juden befürchteten, eine heftige "literarische" Kampagne
gegen diese. Die antijüdischen Ideologen warnten - ganz im
Fichteschen Sinne - vor einer bürgerlichen Gleichstellung: "Die
wesentlichen Punkte des Judentums untergraben die Geselligkeit, sie
bewirken einen Staat im Staate, und zwecken dahin ab, den Juden die
Herrschaft zu verschaffen und die übrigen Bürger zu ihren Sklaven zu
machen." (7)
Das deutsche Nationalbewusstsein, das
die Befreiungskriege getragen und das die deutschen Juden ebenso wie
die deutschen Christen beseelt hatte, besaß einen gefährlichen
judenfeindlichen Akzent. In seiner Schrift "über die Gefährdung des
Wohlstandes und des Charakters der deutschen durch die Juden" kam
der Heidelberger Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries zu dem
Schluss, die Juden seien auszutreiben oder mit Stumpf und Stiel
auszurotten. Ein Berliner Universitätskollege, der Historiker
Friedrich Rühs, schlug vor, den Juden alle Rechte abzusprechen und
die Judensteuer sowie die alten Judenkennzeichen - Spitzhut, gelben
Ring ("Judenfleck") - wieder einzuführen.
Am weitesten jedoch ging der
Publizist Hartwig von Hundt-Radowsky. In seinem 1819 in Würzburg
erschienenen "Judenspiegel" regte er an, alle Jüdinnen ins Bordell
zu stecken, alle Juden zu kastrieren, sie nur noch in Bergwerken
unter Tage arbeiten zu lassen oder sie an die Engländer zu
verkaufen, die sie in ihren überseeischen Kolonien als Sklaven
einsetzen sollten. Die Tötung eines Juden hielt er weder für eine
Sünde noch für ein Verbrechen.
Hundts demagogische Forderungen, die
Juden auszurotten oder sie mindest zu vertreiben und Deutschland
ganz von dem "Ungeziefer" zu reinigen, wurden in der
Hepp-Hepp-Bewegung im Jahre 1819 blutige Wirklichkeit. In vielen
deutschen Städten kam es zu Pogromen mit Einbrüchen, Plünderungen,
Misshandlungen und Morden. Zentrum der judenfeindlichen
Ausschreitungen war Würzburg, wo es zur Austreibung von 400 Juden
kam. An den Tumulten beteiligten sich v.a. Studenten, Kleinbürger
und verschuldete Bauern, die mit "Hepp-Hepp-Jud-verreck!"-Rufen (8)
als diabolische Volksbelustigung Juden verhöhnten und misshandelten.
Die akademischen Hetzschriften
machten eine antijüdische Haltung im Bildungsbürgertum salonfähig.
Flugblätter und antijüdische Parolen erreichten die unteren
Schichten und lösten die Gewalttätigkeiten aus. Enttäuschung,
Hoffnungslosigkeit und Erbitterung waren die Kennzeichen dieser
Jahre nach dem Aufschwung der Befreiungskriege: das dürftige
Ergebnis des Wiener Kongresses, eine Wirtschaftskrise nach Aufhebung
der Kontinentalsperre, Polizeischikanen, "Demagogen"-Verfolgung und
die Karlsbader Beschlüsse nach dem Attentat auf den Diplomaten
August von Kotzebue, steigende Brotpreise nach den Missernten von
1816/17. Es genügte schon, wenn ein jüdischer Händler seine Waren
billiger verkaufte als sein nichtjüdischer Konkurrent, um Krawalle
auszulösen. Eine scharfe Konkurrenzerfahrung löste bei manchen
"christlichen" Kaufleuten den antisemitischen Komplex aus: Es sei
nur deshalb so schlimm um die Wirtschaft bestellt, weil auch "die
Juden" ihre Hände im Spiel hätten. Die kleinen Händler fühlten sich
an die Wand gedrängt und reagierten bitter. Mit der Formel "Flucht
in den Hass" hat Eva Reichmann die psychische Reaktion auf jene
ökonomischen Umstände treffend bezeichnet. (9)
Die Hepp-Hepp-Unruhen - durchaus
keine marginalen und lokal begrenzten Erscheinungen - zeigen
besonders eindringlich die Verflechtung von lokalen Anlässen und
politisch-sozialen Bedingungen mit historischen Traditionen. Sie
wiederholen sich in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder: In
den revolutionären Jahren 1830 und 1848 erfolgten unter diesem
Schlachtruf weitere Gewalttätigkeiten gegen Juden, häufig auch im
Zusammenhang mit der Anschuldigung des Ritualmordes, dessen man die
Juden dann bis ins 20. Jh. hinein zieh.
Zwar gelangten in der preussischen
Reformzeit unter der Kanzlerschaft Hardenbergs einige (getaufte)
Juden in Staatsämter, (10) doch erst die gescheiterte, aber für die
demokratische Entwicklung in Deutschland nicht vergebliche
Revolution von 1848 bot ihnen die Möglichkeit, öffentliche Ämter zu
bekleiden. Zu diesem Zeitpunkt glaubten die Juden endlich ihr Ziel
erreicht zu haben. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 und
der beginnenden Reaktionsphase mussten sie jedoch erkennen, dass die
Emanzipationsgesetze und die ihnen verfassungsmässig zustehenden
Rechte mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit bestanden. Die
von den Hochkonservativen entwickelte christliche Staatsidee zielte
auf die Rücknahme des Gleichberechtigungsprinzips für die Juden.
Sprachrohr der Vertreter dieser Richtung war die "Neue Preussische
Zeitung" ("Kreuzzeitung"), die keine Gelegenheit ausließ, gegen die
Juden zu polemisieren. Besonders der Chefredakteur dieser Zeitung,
Hermann Wagener, ein Vertrauter Bismarcks, betrieb in seinen
Leitartikeln antijüdische Agitation: Die Presse würde zu zwei
Dritteln von Juden beherrscht, und diese führten einen "boshaften
und erbitterten Vernichtungskampf" gegen alles, "was Christ oder
Christentum" (11) heiße.
Zum antijüdischen Repertoire gehörte
auch das Bild des Wucherers, des Preisträgers und Ausbeuters, der
sich an den Christen bereichere und an ihrem Schweiß vollsauge. Es
sei unbedingt notwendig, hieß es in dem Blatt, sich gegen die Juden
zur Wehr zur setzen. Provozierend prophezeite das Organ Hass und
Rache des Proletariats, die sich unter bestimmen Umständen leicht
Luft machen könnten. Und ganz im Jargon der Vernichtungsantisemiten
wurde von einer Judenverfolgung orakelt, wie sie die Welt noch nicht
erlebt habe. (12) Und immer wieder ist die Rede von der
"Fremdartigkeit" der Juden, womit der rassistisch-biologistische
Antisemitismus der mörderischen Form antizipiert wurde. Die
antisemitischen Gedankengänge, die in den Konservatismus eindrangen,
sind im Wesentlichen auf den Einfluss des Hegelianers Bruno Bauer
zurückzuführen. In der Auseinandersetzung mit Bauer hat sich
übrigens auch Marx - der mit Bauers Schilderungen der Juden, nicht
aber mit dessen Schlussfolgerungen, übereinstimmt - mit der
"Judenfrage" befasst. Bauer bediente sich seit den 1850er Jahren,
wenn er über Juden spricht, einer Rassenterminologie: "(...) man
nehme den Juden aus Portugal, Deutschland, Polen, England oder sonst
wo her, er ist überall derselbe, weder Portugiese noch Deutscher,
weder Pole noch Engländer. Er ist der echte und unverfälschte Jude
geblieben, den nichts beherrscht als der Racetypus. Der Jude gibt
den Kern seiner nationalen Eigentümlichkeit ebenso schwer auf, als
es ihm vermöge seiner geistigen Elastizität leicht wird, sich in das
Kleid jeder beliebigen Nationalität zu hüllen und bis zu einem
gewissen Grade sich die fremde Nationalität formell anzueignen. Aber
seine Denkweise bleibt in jedem Kleide und unter jedem Himmelsstrich
dieselbe; jüdischer Sinn und jüdisches Blut sind unzertrennlich
geworden, weshalb das Judentum nicht allein als Religion und Kirche,
sondern ganz vorzüglich als der Ausdruck einer Raceneigentümlichkeit
die eingehendste Betrachtung verlangt: die Taufe macht den Juden
nicht zum Germanen ..." (13)
Parallel zur Emanzipationsbewegung
bildet sich in der Belletristik ein negativ verzerrtes Bild vom
Juden heraus, das zwar stereotype Urteile aus der christlichen
Tradition übernimmt, jedoch neue Überzeichnungen popularisiert.
Juden verkörpern in Romanen häufig das dunkle Gegenstück zu den
lichteren christlich-germanischen Gestalten (z.B. in Gustav Freytags
"Soll und Haben", in Felix Rabes "Hungerpastor" oder in Felix Dahns
"Ein Kampf um Rom"): den jüdischen Wucherer, den Streber, den
herzlosen Ausbeuter und den fremden, "Jargon" sprechenden, also
"mauschelnden" Juden. Hinzu kommt der jüdische Revolutionär, der
alles Bestehende verneint und eine Gefahr für die öffentliche
Ordnung darstellt. Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche" oder
Adalbert Stifters "Abdias", wo menschlich-sympathische
Judengestalten gezeichnet werden, sind literarische Ausnahmen.
Im Herbst 1879 hatte der
protestantische Hofprediger Adolf Stöcker mit seiner
judenfeindlichen Rede "Unsere Forderungen an das moderne Judentum"
die "Berliner Bewegung" ins Leben gerufen und mit der Gründung der
"Christlich-sozialen (Arbeiter-)Partei" den politischen
Antisemitismus zu einer Massenbewegung in Deutschland gemacht.
Proagandistisch unterstützt wurde Stöcker von dem Berliner
Historiker Heinrich von Treitschke, der eigentlichen treibenden
Kraft des modernen Antisemitismus.
Nichts hat die öffentliche Meinung zu
Beginn der 1880er Jahre mehr aufgewühlt und beschäftigt als die
"Judenfrage". Eduard Bernstein, ein sensibler Beobachter der Szene,
hat die Berliner Pogromluft dieser Jahre als eine "Sturzwelle
judenfeindlicher Reaktion" beschrieben. (14) Kein Zweifel - die
Antisemiten waren auf dem Vormarsch. Sie brachten eine
Viertelmillion Unterschriften unter eine Petition zusammen, in der
die Errungenschaften der Judenemanzipation von 1812 quasi rückgängig
gemacht werden sollten. U.a. wurde darin die Einschränkung bzw.
Verhinderung der (ost-)jüdischen Einwanderung sowie die
Ausschließung der Juden aus allen obrigkeitsstaatlichen Stellungen
gefordert. Im November 1880 debattierte das Preussische
Abgeortdnetenhaus an zwei Sitzungstagen über diese Petition, und die
Abgeordneten der "Fortschrittspartei", die die Debatte beantragt
hatten, kämpften allein gegen eine Parlamentsmehrheit, die kein
Vorurteil unausgesprochen liess.
Die Sozialdemokraten - als
außerparlamentarische Opposition - blieben in der Debatte stumm und
überließen den Linksliberalen das Feld. Kein führender
Sozialdemokrat erhob seine Stimme zur Verteidigung der Juden. (15)
Erst 13 Jahre später rang sich die Partei zu einer grundsätzlichen
Stellungnahme durch. Dennoch: Auf pogromähnliche antisemitische
Ausschreitungen am Silvesterabend 1880 in Berlin hin, beriefen die
Sozialdemokraten eine Massenversammlung ein, um die Stellung der
Arbeiter zur "Judenfrage" klarzulegen. Auch in der Folgezeit
demonstrierten sozialdemokratische Arbeiter in antisemitischen
Versammlungen. (16)
Doch auch innerhalb der
Sozialdemokratie gab es einen volkstümlichen, "taktischen"
Antisemitismus - als Reflex auf eine in der Arbeiterschaft
verbreitete intellektuellenfeindliche Stimmung. Mit dieser Haltung
konnten antisemitische Angriffe gegen die Sozialdemokratie
neutralisiert und auf ihre Urheber zurückprojiziert werden.
Sicherlich war die deutsche Sozialdemokratie - nach ihrer
Selbsteinschätzung - nicht antisemitisch, einzelne Parteigenossen
haben ihre Unsicherheit in der "Judenfrage" jedoch nicht abzulegen
vermocht, und es gab in der Arbeiterpartei erklärte Antisemiten. Das
funktionale Argument der Sozialisten gegen den Antisemitismus war
die Behauptung, dass dieser das Klassenbewusstsein der Arbeiter
verschleiere und den Klassenkampf in die falsche Richtung lenke.
Dieses Argument bemühte sich nicht um das Problem des Antisemitismus
als solchen, schon gar nicht um dessen Opfer, sondern bildete
sozusagen die funktionale und politische Grundlage in der
tagtäglichen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Wer das
Judentum nicht mehr religiös, sondern als Synonym mit Geld und
"Schacher" definiert, oder - wie Marx - mit dem weltbeherrschenden
bösen Prinzip "Kapital", der muss irgendwann seine eigenen
Ressentiments in eine gute Ideologie umpolen. Durch den
Antisemitismus hindurch zum Klassenbewusstsein - das war ein
wichtiges Element im Selbstverständnis der Arbeiterbewegung. Marxens
Haltung zur "Judenfrage" hat dazu beigetragen judenfeindliche
Vorurteile innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung zu bewahren und
den Juden mit dem kapitalistischen Ausbeuter gleichzusetzen. Erst
als die Sozialdemokratie begriffen hatte, dass sich Antisemiten und
Konservative zu einer Allianz gegen die Arbeiterbewegung
zusammengeschlossen hatten und der Antisemitismus eine Domäne und
integraler Bestandteil der Rechten geworden war, trat die Partei
deutlich und programmatisch dagegen auf. Allgemein lässt sich
feststellen, dass die deutsche Sozialdemokratie insgesamt in Theorie
und Praxis den Antisemitismus ablehnte, wenngleich sie ebenso
grundsätzlich allen Bestrebungen der Juden, ihre religiösen,
kulturellen oder nationalen Traditionen zu bewahren oder mit neuem
Leben zu erfüllen, gleichgültig bis feindlich gegenüberstand.
Während der stürmischen
Industrialisierung und Modernisierung Deutschlands gelang den Juden
zwar eine weitgehende Akkulturation, aber von einer "Symbiose" der
jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung kann nicht die Rede sein.
Viele Juden schafften den sozialen Aufstieg in Bereiche des
Handelns, einiger Industriebranchen und der Geldwirtschaft.
Allgemein strebten sie ins Besitz- und Bildungsbürgertum, da ihnen
auch trotz der rechtlichen Emanzipation nach der Reichsgründung de
facto Stellungen im öffentlichen Dienst und eine Militärlaufbahn
vorenthalten blieben. Obwohl die Verfassung des Deutschen Reiches
von 1871 die rechtliche und politische Gleichstellung der Juden
gesetzlich verankerte und mithin die Emanzipation äußerlich zu einem
Ende gelangt war, bestand eine Kluft zwischen dem geschriebenen und
dem in Wirklichkeit geltenden Gesetz, "zwischen Sollen und Sein,
zwischen Sittlichkeit und Sitte". (17) So drängten viele in die
freien Berufe und den ihnen offenstehenden Kulturbereich - hier ließ
sich eine gute Bildung mit der Möglichkeit, Besitz zu erwerben,
verbinden. Die Berufe, in denen Juden stärker repräsentiert waren -
Verleger, Regisseure, Schauspieler, Journalisten und Kritiker -,
waren zugleich diejenigen, denen ein hoher öffentlicher
Bekanntheitsgrad zukam. Folglich waren die Antisemiten religiöser,
wirtschaftlicher und rassistischer Prägung ohne große
Schwierigkeiten imstande, auf die "Überfremdung" des deutschen
Volkes durch die Juden hinzuweisen und, indem sie deren weithin
bekannte Namen nannten, diese als Träger der Moderne und damit als
die Zerstörer der althergebrachten Ordnung zu brandmarken.
Auch in Krisenzeiten konnten die
wirklichen Urheber des Massenelends auf die jüdischen "Sündenböcke"
verweisen, um die breite Masse zu verdummen und abzulenken.
Derartige Krisen erlebte das emanzipierte deutsche Judentum v.a.
nach dem "Gründerkrach" ab 1873, als nach dem deutsch-französischen
Krieg von 1870/71 und der nachfolgenden Hochkonjunktur die deutsche
Wirtschaft zusammenbrach. Für die "große Depression" wurden in der
deutschen Öffentlichkeit "Spekulierende" jüdische Kapitalisten
verantwortlich gemacht, aber es waren ebenso einzelne jüdische
Namen, die als Symbole für den unvorstellbaren wirtschaftlichen
Aufstieg galten. Der wirtschaftliche Antisemitismus hatte ein ganzes
Arsenal verleumderischer Vorwürfe gegen die Juden parat: unfaire
Konkurrenten, volkswirtschaftliche Parasiten, kapitalistische
Ausbeuter, ungehemmte Profitstreber, Zerstörer einheimischer und
altdeutscher Produktionsweisen, "artfremde" Werbungspraktiker.
Der wirtschaftliche Antisemitismus
wuchs sich nach der deutschen Reichsgründung zu einer feststehenden
Größe aus: Herkommend aus dem Konkurrenzmotiv, aufgeladen mit
Fremdenhass, stabilisiert durch die Ungunst wirtschaftlicher
Umstände, entstand besonders in der mittelständischen Bevölkerung ab
dem frühen 19. Jh. eine erhebliche Existenzangst, deren Urgrund
wiederum den Juden zugeschrieben wurde. Sie galten als
internationale Finanzverschwörer, die Inflation, Wirtschaftskrisen
und Kriege manipulierten, um sich zu Börsenherren aufzuschwingen,
mit dem Ziel, die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Mit der Gründung des Deutschen
Reiches im Jahre 1871 war den Juden in Deutschland zwar die volle
gesetzliche Gleichberechtigung gewährt worden, doch zugleich
markieren die nachfolgenden Krisenjahre den Beginn des modernen
Antisemitismus. Nicht mehr religiös, sondern rassisch definiert,
sahen sich die Juden nunmehr Vorurteilen ausgesetzt, denen sie
nichts entgegenzusetzen vermochten. Innerhalb eines Menschenalters
wurde Auschwitz möglich. Antisemitismus als konzertierte Aktion mit
dem Ziel, antijüdische Denkweise in politische Aktion umzumünzen,
erlangte hauptsächlich in Deutschland Bedeutung. Hauptingredenzien
des neuen giftigen Gebräus: als Antikapitalismus verkleideter
Antisemitismus mit einem Schuss deutschem Sozialismus. Protagonisten
des deutschen Antisemitismus waren u.a. Stöcker, Treitschke, Eugen
Dühring, die vorwegnahmen, was die nationalsozialistischen
Vernichtungsantisemiten Jahre später in die Tat umsetzten.
Der moderne Antisemitismus formierte
sich im politisch-gesellschaftlichen Bereich und fand als integraler
Bestandteil in den 1880er Jahren Eingang in Parteiprogramme. Hier
manifestierte sich eine fortschritts- und demokratiefeindliche
Ideologie, die bewusstseinsstiftend auf die nachfolgenden Jahrzehnte
wirkte. Als neues, alles überlagerndes Moment antisemitischer
Theorien bildete sich der Begriff der "Rasse" heraus.
In der Zeitspanne von der
Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik war die Geschichte
der Juden in Deutschland einerseits durch eine fortschreitende
Assimilation, andererseits jedoch durch wachsende Widerstände gegen
diesen Integrationsprozess gekennzeichnet. Die wirtschaftliche
Krise, die sich nach der deutschen Reichsgründung 1871 im
"Gründerkrach" von 1873 niederschlug, war der Ausgangspunkt einer
organisierten antijüdischen Bewegung. Judenhass war nichts Neues in
Deutschland. Aber im Unterschied zu früheren Zeiten war der Hass
jetzt nicht gegen die Anhänger des jüdischen Glaubens gerichtet,
sondern gegen die Angehörigen der "jüdischen Rasse". Nach dieser
Definition galten als Juden auch diejenigen, die sich selbst nicht
mehr zum jüdischen Glauben bekannten, durch Taufe aus dem Judentum
ausgetreten oder Nachkommen von Juden waren, die eine Generation
vorher das Judentum verlassen hatten.
Die moderne Judenfeindschaft in
Deutschland bedurfte einer nomenklatorischen Sprachregelung, und
diese erhielt sie durch das von Wilhelm Marr 1879 geprägte Wort
"Antisemitismus" (18). Dies war der Begriff, mit dem sämtliche
antijüdischen Motive und Argumente der vorangegangenen Jahrzehnte
gebündelt, etikettiert und zudem alle Vorurteile
"verwissenschaftlicht" werden konnten. Seinen kirchlichen und
universitären Segen erhielt der moderne Antisemitismus durch den
Hofprediger Adolf Stöcker und den Historiker Heinrich v. Treitschke.
Kirche und Katheder waren eine unheilige Allianz eingegangen und
gaben die Parole aus: "Die Juden sind unser Unglück!" (19)
Mit der Gründung der
"Christlich-sozialen (Arbeiter-)Partei" suchte Stöcker eine
parteipolitische Alternative zur weitgehend religionskritischen und
kirchenfeindlichen Arbeiterbewegung zu schaffen. Schon zu Beginn
seiner politischen Tätigkeit hatte es von ihm sporadisch
judenfeindliche Äußerungen gegeben, doch zum Protagonisten des
Antisemitismus avancierte er erst Ende der 1870er Jahre. Im
September 1879 hielt er mit dem Vortrag "Unsere Forderungen an das
moderne Judentum" seine erste programmatische judenfeindliche Rede.
Durch das große Echo wurde er mit diesem Thema zum Erfolgsredner,
zum Demagogen und Agitator, der große Säle füllte und die Massen
mitzureißen verstand.
Der Antisemitismus als Weltbild bot
den zu kurz gekommenen Kleinbürgern - und nicht nur diesen - eine
praktikable Ideologie an, sämtliche politischen, sozialen und
ökonomischen Schwierigkeiten auf die Juden abzulenken: der Jude als
Objekt rhetorischer und realer Aggressionen und Brutalitäten. Die
jüdische Minderheit wurde zum gesellschaftlichen "Abladeplatz", auf
dem Ressentiments und Minderwertigkeitsgefühle kompensiert werden
konnten, ohne das das soziale Gefüge des Volkes dadurch besonders in
Mitleidenschaft gezogen wurde. Im Dunkel wirrer Mythen wurde ein
neues Fundament gelegt, auf dessen feste weltanschauliche Pfeiler
sich später der rassistische nationalsozialistische
Vernichtungsantisemitismus stützen konnte. "Was der Jude glaubt ist
einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!" (20) war der
stereotyp vorgetragene Slogan deutscher Gossenantisemiten. Zwar
versuchten sich die Salonantisemiten und intellektuellen Drahtzieher
von dem national(sozial)istischen Radauantiemitismus zu
distanzieren, der für ihr ästhetisches Gefühl zu blutig war, doch
wurden sie die Geister, die sie gerufen hatten, nicht mehr los. Der
moderne Antisemitismus zog sich durch alle gesellschaftlichen
Schichten, er war die nationale Klammer - bewusstseinsstiftend und
konstitutiv für die politische Kultur in Deutschland und Österreich.
Unmittelbar nach der Reichsgründung,
in den wirtschaftlichen Rückschlägen der Gründerjahre, artikulierten
sich antijüdische Gruppen und Parteien immer deutlicher. Die
Zeitschrift, die Judenfeindlichkeit gesellschaftsfähig machte, war
die "Gartenlaube". Diese illustrierte Familienzeitschrift mit einer
Auflagenhöhe von etwa 400.000 Exemplaren im Jahre 1875 nahm sehr
wesentlich Einfluss auf die Bildung des neuen Mittelstandes und
verhalf mit einer Artikelserie aus der Feder Otto Glagaus dem
Antisemitismus zu einer ungewöhnlichen Popularität bei breiten
Bevölkerungsschichten. Die "Gartenlaube" war für "warme Herzen",
doch ging es um die Juden, brach eine neue Eiszeit an: "Die ganze
Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses
Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerierte Rasse
bloss durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den
Erdkreis gebietet." (21)
Auch Wilhelm Busch, den Pessimismus
und Humanismus verbindenden geistreichen, witzigen Dichter und
Zeichner, der die Schwächen des Philistertums erkannte und
schonungslos karikierte, verließ die Menschenliebe, wenn die Sprache
auf die Juden kam:
"Und der Jud' mit krummer Ferse,
krummer Nas' und krummer Hos'
schlängelt sich zur hohen Börse
tiefverderbt und seelenlos." (22)
Bei Busch durchdringen sich
wirtschaftliche und rassistische Ressentiments zu einem
antisemitischen Gemisch, das den Juden immer negative Eigenschaften
zuschreibt. "Schmulchen Schievelbeiner" ist für ihn der typische
Vertreter des deutschen Juden, dessen charakteristischer Steckbrief
sich so liest:
"Kurz die Hose, lang der Rock,
Krumm die Nase und der Stock,
Augen schwarz und Seele grau,
Hut nach hinten, Miene schlau -
So ist Schmulchen Schievelbeiner.
(Schöner ist doch unsereiner!)"
Mit seinen satirischen Zeichnungen
und Dichtungen erzielte Busch große Wirkung, seine komisch-grotesken
Typen wurden Allgemeinbesitz. Das "Fremde", das "Unheimliche" des
Juden, das Busch so wirkungsvoll darstellen konnte, fand in der
Romanliteratur wie in der Karikatur zahlreiche Nachahmer. So konnte
sich das Bild des krummbeinigen, höckernasigen, schwulstlippigen,
hässlichen Juden, der mit unredlichen Mitteln nach dem Geld jagt und
unschuldigen blonden Mädchen auflauert, stereotyp verfestigen.
Buschs "gutmütige" Karikatur des "Schmulchen Schievelbeiner" war
eine rassistische Verzerrung, wie sie dem populären Humoristen bei
keiner seiner "deutschstämmigen" Typen in den Sinn gekommen wäre.
Durch ihre weite Verbreitung beeinflusste sie das Judenbild und
wurde selbst von vielen jüdischen Lesern als eine Karikatur anderer
Juden amüsiert zur Kenntnis genommen.
In vulgärer, hämischer und manchmal
pornographischer Weise wurden Juden seit 1896 im "Simplicissimus"
überzeichnet dargestellt. Diese satirische Wochenschrift stand auf
künstlerisch hohem Niveau, und auch die literarischen Beiträge
konnten sich sehen lassen - Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Hermann
Hesse zählten zu den Autoren. Abstoßende Darstellungen sexueller und
geschäftlicher Verdächtigungen von Juden versprachen dem Blatt eine
höhere Auflage. In einer Karikatur droht der jüdische Unternehmer
seinen jungen weiblichen Angestellten in jiddisch: "Man is nich
sufrieden mit eiern Leistungen", um dann, nachdem der Zweck des
Begehrens erfüllt ist, in bestem Deutsch eine Lösung anzubieten:
"Ihr werdet wahrscheinlich am Ersten entlassen. Die endgültige
Entscheidung könnt ihr euch heut' Abend bei mir zu Hause in meiner
Wohnung abholen." Der Jude als Typus, ausgestattet mit einem fremden
Jargon und einem ekelhaften Aussehen nutzt hier, so will der Text
glauben machen, ein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis aus, um mit
seinen geilen Wünschen "arische" Mädchen zu schänden. Sexuelle
Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen behandelte der
"Simplicissimus" regelmäßig, manchmal satirisch kritisch, manchmal
voyeuristisch genießend.
Der "hochgelehrte" Houston Stewart
Chamberlain, Engländer von Geburt und als Schwiegersohn Richard
Wagners in Bayreuth lebend, seit 1914 naturalisiert, sah in den
Juden eine durch ein "blutschänderisches Verbrechen" gegen die Natur
hervorgegangene "Bastardrasse" mit unreinem Blut: "(...) ein
Bastardhund ist nicht selten sehr klug, jedoch niemals zuverlässig,
sittlich ist er stets ein Lump". (23) Die wirklich große Rasse aber
ist nach Chamberlain die germanische und ihr Hauptvertreter das
Deutschtum, die eigentliche "Gegenrasse" die der semitischen Juden.
Paul Bötticher, der sich Paul de
Lagarde nannte, hatte sich als Orientalist einen Ruf erworben und
galt als ein christlicher Vorkämpfer für eine evangelische
Nationalkirche. In seinen "Deutschen Schriften" kommen seine
verdrängten atavistischen Hassgefühle in Form eines besonders
bösartigen Antisemitismus zum Ausdruck: "Die Juden sind als Juden in
jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als
Träger der Verwesung." Viele Deutsche seien zu feige, das jüdische
Ungeziefer zu zertreten. Er selbst empfahl im Jahre 1888 folgende
"Endlösung": "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt,
Trichinen und Bazillen werden auch nicht 'erzogen', sie werden so
rasch und gründlich wie möglich unschädlich gemacht." (24) Lagarde
ist ein "Klassiker" des Antisemitismus. In seinem Denken
verschmelzen alle Gegensätze und Widersprüche zu einer völkischen
Einheitsidee - Einheit von Rasse und Religion, von Blut und Geist.
Dabei sind Blut und Rasse nach dem Verständnis der völkischen
Ideologie nicht so kompromisslos und starr in rein biologischen
Kategorien zu verstehen - weshalb auch christlich-kirchliche Kreise
sich haben darauf einlassen können.
All diese Zitate, die beliebig
ergänzt werden könnten, sind Gedankengänge des deutschen
Kulturbürgertums, in dem der rassisch motivierte Antisemitismus seit
den 1880er Jahren ideologisch und emotional fest verankert war. Der
moderne Antisemitismus konnte sich auch und gerade etablieren, weil
er von "intellektuellen" Agitatoren organisiert wurde, deren Parolen
bei den Gebildeten, Halbgebildeten und "dummen Kerls" ankamen - ganz
gleich, ob diese dem Kaiserhaus, dem Adel, der Geistlichkeit, der
Beamten-, Professoren- und Lehrerschaft, den Angestellten, dem
Handwerkertum oder der Kaufmannschaft angehörten. Gegen den
antisemitischen Bazillus zeigte sich allein die Arbeiterschaft
weitgehend immun.
Die große Verbreitung und politische
Wirksamkeit des Antisemitismus - im Jahre 1893 gab es z.B. 16
Abgeordnete antisemitischer Parteien im Reichstag - führten den
Juden vor Augen, dass die Integration in die Gesellschaft des
wilhelminischen Kaiserreiches nicht so problemlos verlaufen würde,
wie es nach der in der Reichsverfassung verbrieften Rechtsgleichheit
schien. Sowohl die Argumentation während der Emanzipationszeit, die
Juden hätten ihre "Eigenart" aufzugeben und sich in die deutsche
Gesellschaft einzufügen, wie auch die Vorwürfe der Antisemiten, die
den Juden generell "undeutsche" Eigenschaften und Fremdheit
vorwarfen und damit grundsätzlich die Möglichkeit ihrer
gesellschaftlichen Anpassung negierten, hatten die jüdischen
Staatsbürger veranlasst, ihre deutsche Seite stets sehr deutlich zu
betonen. Trotzt der Erfahrungen des Antisemitismus hat die Mehrheit
der deutschen Juden den Weg der Assimilation niemals in Frage
gestellt. Nur ein kleiner Teil zog aus der Realität des
Antisemitismus die Konsequenz, sich der um die Jahrhundertwende
entwickelnden zionistischen Bewegung anzuschließen.
Wie keine andere nationalistische
Organisation im Deutschland des Kaiserreichs wirkte der im Jahre
1891 gegründete "Alldeutsche Verband" an der Herausbildung und
Verbreitung des Rassenantisemitismus mit. Als Sammelbecken der
Antisemiten übernahm er die Führung der völkischen Bewegung. In dem
großes Aufsehen erregenden (1912 pseudonym erschienenen) Buch seines
Vorsitzenden Heinrich Class "Wenn ich Kaiser wär" sind Forderungen
zur "Behandlung" der Juden enthalten, die zehn Jahre später im
Programm der NSDAP wiederkehren sollten. In dieser Propagandaschrift
entwickelte Class seine Pläne, die darauf abzielten, jede weitere
Demokratisierung Deutschlands zu verhindern und bereits eingeleitete
Entwicklungen rückgängig zu machen. Class forderte u.a. die
Aufhebung der Judenemanzipation, Verhinderung jeder jüdischen
Einwanderung, Ausweisung aller nichteingebürgerten Juden und ein
Fremdenrecht für alle deutschen Juden. (25)
Das Bewusstsein ihrer
gesellschaftlichen Randstellung beeinflusste die Haltung der
deutschen Juden im 1. Weltkrieg. Mit dem grössten Teil der
nichtjüdischen Bevölkerung ließ sich die Mehrheit der Juden von der
allgemeinen Kriegsbegeisterung mitreißen. In den Synagogen wurde für
den "Sieg der deutschen Waffen" gebetet und in den jüdischen
Zeitungen erschienen Kriegsgedichte, die in ihrem patriotischen
Überschwang die Stimmung jener Tage widerspiegelten. In allen
öffentlichen Aufrufen kam jedoch noch ein weiteres Motiv zum
Ausdruck: Die große Mehrheit der Juden hoffte, durch die Betonung
ihrer patriotischen Gesinnung die letzten Hindernisse auf dem Wege
der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft zu überwinden. Auch
die jüdischen Freiwilligen wollten als "stammesstolze Juden" zu den
"besten Söhnen des Vaterlandes" gehören. (26)
Selbst im Lager der offenen
Antisemiten schien es zunächst, als ob man denn
jüdisch-nichtjüdischen "Burgfrieden" akzeptieren wollte. Jedenfalls
schrieb Houston St. Chamberlain 1915: "Deutschland zählt (...)
zehnmal soviele Juden (als England), und wo sind sie jetzt! Wie
weggeputzt von der gewaltigen Erhebung: als 'Juden' nicht mehr
auffindbar, denn sie tun ihre Pflicht als Deutsche vor dem Feinde
oder daheim." (27)
Doch die Verbrüderung war trügerisch.
War der Antisemitismus in Deutschland bei Kriegsbeginn
"staatlicherseits" obsolet geworden, so wurde er nach der Besetzung
Russisch-Polens durch deutsche Truppen 1915 sehr bald vehement
wiederbelebt. Als billige Arbeitskräfte teils freiwillig angeworben,
teils gewaltsam ins Deutsche Reich deportiert, wurden die
ostjüdischen Arbeiter bald Anlass zu wilder Agitation. Und weil die
Regierung Bethmann-Hollweg nach Ansicht der Völkischen nicht genug
gegen den "Zustrom" der Ostjuden tat, wurde sie als "verjudet"
beschimpft. Die extremen Nationalisten und Antisemiten gaben jede
Form der Zurückhaltung, auch dem Kaiser gegenüber, auf.
"Überall grinst das Judengesicht, nur
im Schützengraben nicht!" war ein für diese Zeit typischer, die
Juden verunglimpfender und diffamierender Spottvers, der nicht nur
an deutschen Stammtischen die Runde machte. So ist es nicht
verwunderlich, dass es im Herbst 1916 auf antisemitischen Druck zu
einer sog. "Judenzählung" kam, mit deren Hilfe das Kriegsministerium
die aktive Beteiligung der jüdischen Soldaten am Weltkrieg
nachprüfen ließ. Dass dieser statistischen Erhebung antisemitische
Motive zugrunde lagen, geht nicht nur aus der Tatsache hervor, dass
ausschließlich jüdische Soldaten erfasst wurden, sondern auch
daraus, dass ihr Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, so dass
antisemitische Agitatoren weiterhin das Märchen von der "jüdischen
Drückebergerei" verbreiten konnten. Bekannt gemacht, hätten die
Daten das Gegenteil des von den Initiatoren der Erhebung
Beabsichtigten belegt. Die "Judenzählung", mit der der
antisemitischen Agitation erstmals ein Durchbruch größten Ausmaßes
glückte, hatte für die Betroffenen nur die Wirkung, stigmatisiert
und degradiert worden zu sein.
Das Militär war vollends zur
Kaderschmiede der Judenfeindschaft geworden. Spott und Witze über
die angebliche Untauglichkeit der Juden als Soldaten hatten geradezu
sprichwörtlichen Charakter und machten in Offizierskasinos und in
breiten Gesellschaftskreisen des wilhelminischen Deutschlands die
Runde. Dabei hatten die Juden in Deutschland seit den
Befreiungskriegen ihre Pflicht als Soldaten tapfer erfüllt und sich
damit gewissermaßen ihre Gleichberechtigung als loyale Staatsbürger
"erkämpft". Doch das Militär blieb der gesellschaftliche Bereich, in
dem die Juden auch nach der rechtlichen Emanzipation keine
Aufstiegsmöglichkeiten besaßen. Bei aller weitverbreiteten, aus der
jüdischen Tradition abzuleitenden pazifistischen Grundhaltung
dokumentierten Juden ihren Patriotismus auch dadurch, dass sie in
fünf Kriegen in aller Regel freiwillig zu den Fahnen eilten.
In seiner autobiographischen Schrift
"Mein Weg als Deutscher und Jude" hat Jakob Wassermann die
Atmosphäre im Vorkriegsheer in eindrucksvoll-erschreckender Weise
festgehalten. Schon die distanziert-verächtliche Haltung der
Vorgesetzten sei schwer erträglich gewesen: "Obwohl ich meine Ehre
und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine Pflicht zu tun und
das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, (...) gelang es mir
nicht, die Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erringen, und ich
merkte bald, dass es mir auch bei exemplarischer Führung nicht
gelungen wäre, dass es nicht gelingen konnte, weil die Absicht
dawider war." Und weiter: "Von gesellschaftlicher Anerkennung konnte
nicht die Rede sein, (...) Beförderung über eine zugestandene Grenze
hinaus kam nicht in Frage, alles, weil die bürgerliche Legitimation
unter der Rubrik Glaubensbekenntnis die Bezeichnung Jude trug." Bei
den niederen militärischen Rängen, den Mannschaften, spürte
Wassermann eine besondere Judenfeindschaft, die er als noch
"quälender" empfand als das Verhalten der Vorgesetzten:
"Auffallender, weitaus quälender war mir (...) das Verhalten der
Mannschaften. Zum ersten Mal begegnete ich jenem in den Volkskörper
gedrungenen, dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der
Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch
die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser
Hass hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen
Verblendung, (...) der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen
ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit (...)
wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm,
Blutdurst, Angst, verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis
und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung." Und den Antisemitismus
deutscher Prägung sieht Wassermann so: "Er ist in solcher
Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen.
Es ist ein deutscher Hass." (28)
Die Friedensresolution des Reichstags
im Juli 1917 und die Ankündigung der Einführung des gleichen und
direkten Wahlrechts in Preussen im selben Monat waren Anlass zu
einer immer vulgärer werdenden antisemitischen Phraseologie in der
Öffentlichkeit. Demokratische Ideen waren in den Augen der Führer
der alldeutschen Verbandsleitung "Gift", und dies war "jüdischer
Herkunft". Sie konstatierten die unumstössliche "Schuld des
Judentums" an sämtlichen politischen Veränderungen in Deutschland
und an allen damaligen Erscheinungen des wirtschaftlichen, geistigen
und kulturellen Lebens, die von ihnen aufs schärfste missbilligt
wurden.
Bedingt durch Opfer und Entbehrungen,
die der Weltkrieg den Menschen auferlegte, nahm der Antisemitismus
an Bedeutung zu. Teile der wilhelminischen Machtelite passten sich
der veränderten Stimmungslage an und schufen so auf ihre Weise die
Grundlage für den administrativen Antisemitismus, der sich durch die
nachfolgenden Jahre der Weimarer Republik zog. Noch während des
Weltkriegs bildete sich eine reaktionär-demagogisch-nationalistische
Bewegung mit antisemitischer Stossrichtung heraus, die in der
deutschen Politik einen ebenso gefährlichen wie spürbaren Einfluss
ausübte.
Gegen den wachsenden Antisemitismus
setzten die Juden sich zur Wehr. In einem Aufruf erklärte der
"Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens": "Keine
Macht der Erde wird das Band zerreißen, das sich um die
Volksgenossen schlingt. Mit ihnen kämpfen wir, wenn Deutschland
weiterkämpfen muss (...) Wir wollen einig sein, vergessen, was
Zwietracht geschaffen hat, zurückstellen, was Zwietracht schaffen
kann (...)." (29)
Doch dieser patriotische Appell blieb
ungehört. Im Gegenteil: Ohne alle Umschweife forderte Class die
alldeutschen Aktivisten im Oktober 1918 auf, die krisenhaften
Zeitumstände zu "Fanfaren gegen das Judentum" und die Juden "als
Blitzableiter für alles Unrecht" zu benutzen. (30) Unumwunden
versicherte Class, dass er sich von keinem Mittel zurückschrecken
ließe, und forderte seine Zuhörer - sich an ein Zitat Heinrich von
Kleists (31) anlehnend -, zur blutigen Rache an den Juden auf:
"Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen
nicht!" (32)
Eine Hochburg antisemitischer
Feindseligkeit blieb weiterhin das Militär, einschließlich der
Freikorps und Freiwilligenverbände. Der Kapp-Putsch in Berlin 1920
machte dies hinreichend augenfällig: Hakenkreuze an Helmen und
Fahrzeugen und Handzettel des "Deutschvölkischen Schutz- und
Trutzbundes" verteilend, zog die Brigade Ehrhardt in die deutsche
Hauptstadt ein. Welches Ausmaß an Verhetzung in diesen Kreisen
herrschen konnte, lässt die Eingabe eines bayerischen Freiwilligen
erkennen, dessen radikale Haltung vielleicht nicht exemplarisch war,
für das Militär wohl aber in ähnlicher Weise die Spitze eines
Eisbergs markierte wie für die radikalen völkischen Gruppen und die
gesamte, zumindest rechtsgerichtete Bevölkerung Deutschlands. Die
dem bayerischen Ministerpräsidenten 1920 eingereichte und sich
ausdrücklich frei von "humanitären Erwägungen" erklärende
Denkschrift zur "radikale(n) aber gerechte(n) Lösung der Judenfrage
antizipierte die Ergebnisse der Berliner "Wannsee-Konferenz" 21
Jahre später: Innerhalb 24, längstens 48 Stunden, hätten sich 1.
"der grösste Teil der Juden" mit den "notwendigsten
Bekleidungsstücken" versehen an "bestimmten Sammelstellen"
einzufinden. Von diesen Plätzen habe dann der "Abtransport in die
Konzentrationslager" zu erfolgen. 2. Juden, die sich "durch Flucht
oder durch Bestechung" dieser Internierung zu entziehen suchten,
sollten zum Tode verurteilt werden. Ihr Vermögen sei einzuziehen. 3.
Deutsche, die den Juden zur Flucht verhelfen würden, sollten "das
gleiche Schicksal zu gewärtigen" haben. 4. Eröffne die Entente die
Feindseligkeiten gegen Deutschland, so müsse "unverzüglich mit
Repressalien an den Juden" geantwortet werden. Bei Verhängung der
Blockade "müssen die Juden dem Hungertode ausgeliefert" werden.
Erfolge der Einmarsch der Feinde, so müsse "die Niedermetzelung der
Juden" stattfinden, bis der Vormarsch eingestellt sei. 5. Die
Internierung solle so lange aufrechterhalten werden, wie Deutschland
"von inneren und äusseren Feinden bedroht" bleibe. Für den Fall,
dass Juden noch überlebten, sollte nach der Beseitigung der "inneren
und äusseren Gefahren" deren "restlose Abschiebung" nach Palästina
erfolgen, selbstverständlich unter Zurücklassung ihres Besitzes und
Vermögens. Eine Rückkehr nach Deutschland habe als "todeswürdiges
Verbrechen" zu gelten. (33)
Von 1919 an wurden immer neue
völkisch-antisemitische Agitationsverbände gegründet, die in dem
über das ganze Reich verbreiteten "Deutschvölkischen Schutz- und
Trutzbund" mit über 200.000 Mitgliedern ihre grösste
organisatorische Plattform besaßen. Mit beträchtlichen finanziellen
Unterstützungen durch die Industrie und alle möglichen
Wirtschaftsunternehmen konnte diese Organisation mit ihrem
antisemitischen Gift in Form von Handzetteln, Flugblättern und
Pamphleten aller Art Deutschland millionenfach überschwemmen. In
rascher Folge erschienen Pamphlete wie "Judas Schuldbuch" (34),
Arthur Dinters Roman "Die Sünde wider das Blut", der - vorsichtig
geschätzt - anderthalb Millionen Leser fand, schließlich "Die
Protokolle der Weisen von Zion", die den Mythos einer angeblichen
jüdischen Weltverschwörung unter die Massen brachten. In zahlreiche
Sprachen übersetzt, feiert diese perfide Fälschung bis in die
heutige Zeit fröhliche Urständ.
Mit ihren planmäßigen Kampagnen
gelang es den rechtsextremen Organisationen, den ersten
demokratischen deutschen Staat als "Judenrepublik" verächtlich zu
machen, permanent zu attackiere und schließlich aus den Angeln zu
heben. Zur Zielscheibe antisemitischen Terrors wurde auch Walther
Rathenau, Deutschlands erster nicht getaufter jüdischer
(Außen-)Minister. Aber gerade an der Person Rathenaus zeigt sich die
widersprüchliche Lage der Juden in der Weimarer Republik: Zwar
genossen sie seit der Novemberrevolution 1918 formal die volle -
soziale Aspekte einschließende - Gleichberechtigung und konnten auch
Staatsämter bekleiden, andererseits aber war ihre Bedrohung durch
den militanten Antisemitismus in hohem Masse gewachsen. Rathenau
wurde 1923 von Rechtsradikalen ermordet, die ihn als
"Erfüllungspolitiker" denunziert hatten. Bei dem tödlichen Attentat
auf ihn spielte aber v.a. die Tatsache eine Rolle, dass er Jude war.
"Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!" - so
lautete die Parole der rechtsradikalen Stosstrupps.
Die Geschichte der deutschen Juden
seit der Aufklärung ist die Geschichte des allmählichen
Hineinwachsens in eine nichtjüdische - christliche - Gesellschaft,
die selbst einem langdauernden Wandlungs- und Modernisierungsprozess
unterworfen war. Die Forderung aus der Emanzipationszeit, die Juden
sollten für die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft ihre jüdische
Identität aufgeben, war am Ende der Weimarer Zeit weitgehend erfüllt
worden. Die Mehrheit der jüdischen Staatsbürger betrachtete ihre
Religion als Privatsache und lebte als deutsche Staatsbürger
(jüdischen Glaubens) in Deutschland, das für sie Heimat war. Die
Fremdheit zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen war
weitgehend geschwunden. Juden und Nichtjuden waren ununterscheidbar
geworden - und gerade diese Tatsache erfüllte die Antisemiten mit
wachsendem Hass. Die Nationalsozialisten, die die Saat der
völkischen Alldeutschen ernteten, stellten dann durch Sondergesetze
für die deutschen Juden und ihre allmähliche gesellschaftliche
Ausgrenzung erneut deren Fremdheit her und kennzeichneten die
jüdischen Bürger mit dem gelben Stern.
Wie der Antisemitismus in der
Ideologie von nationalistischen und antidemokratischen
Organisationen und Parteien seit Beginn des 20. Jh. seinen festen
Platz hatte, so nahm er in der Programmatik der Nationalsozialisten
von Anfang an eine zentrale Stellung ein. Für sie war der Kampf
gegen die Juden zugleich Ziel und Mittel ihrer Politik. Indem die
Propaganda der NSDAP sowohl das Finanzkapital als auch den
Kommunismus für "jüdisch" erklärte, schuf sie sich eine Möglichkeit,
gesellschaftliche und innenpolitische Probleme in den Kampf gegen
einen gemeinsamen Feind, "die Juden", umzuleiten.
Dann kam der 30. Januar 1933. Der
organisierte Fackelzug in die finstere Nacht, der Beginn von Hitlers
Macht. Das Ende der Emanzipation. Ein gewichtiger Vertreter des
emanzipierten deutschen Judentums, Jakob Wassermann, dessen
millionenfach gedruckte Werke in vielen Bücherschränken standen und
der sich als Deutscher und Jude zugleich verstand, hatte -
ungeachtet dieser für ihn unlöslichen Verbindung - Jahre zuvor in
tiefer Resignation festgestellt: "Es ist vergeblich (...) das Volk
der Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man
abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. Es
ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke
geschlagen worden ist, (...) sie schlagen auch die rechte. Es ist
vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu
werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul.
(...) Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der
Feigling, er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn
dazu. Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu
bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen
Aufdringlichkeit? (...) Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften.
Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und zu
sterben. Sie sagen: er ist ein Jude." (35)
Während der Zeit des
Nationalsozialismus steigerte sich in Deutschland der
Rassenantisemitismus, der alle antisemitischen Strömungen
vereinigte, zu einem staatstragenden Vernichtungsantisemitismus.
Zwischen 1941 ud 1945 wurden ca. 6 Millionen europäische Juden in
Vernichtungslagern fabrikmässig ermordet. Dem millionenfachen
Judenmord ging die ideologisch-geistige Agitation einer Reihe von
Theoretikern seit dem frühen 19. Jahrhundert voraus. Die politische
Romantik, deren geistiger Ahnherr der Philosoph Johann Gottlieb
Fichte war, die deutschtümelnde Publizistik eines Ernst Moritz Arndt
oder Friedrich Ludwig Jahn führten zur sozialdarwinistischen
Vorstellung, dass das stärkere Volkstum das schwächere besiege. Der
Siegeszug der Naturwissenschaften, der eng mit dem Namen Darwin
verknüpft ist, fällt zusammen mit der großen Industrialisierung seit
den 1860er Jahren. Die Entwicklung wurde als Ergebnis westlicher
Kulturleistung angesehen, die dazu berechtige, andere Völker zu
beherrschen.
Diese Volkstumsdoktrinen, die
prinzipiell von einer Hierarchie der Menschenrassen und von einer
konstanten Ungleichwertigkeit ausgingen und vorgaben, die Deutschen
seien als Herrenvolk von der Vorsehung dazu bestimmt, über andere zu
herrschen, waren tradiertes, allgemeines, pädagogisch abgestütztes
Bildungsgut. Die Volkstumsideologen schrieben den Deutschen alle
guten und den Juden alle schlechten Eigenschaften zu, wobei der
jüdische Volkscharakter angeboren und verderbt sei und den
Krankheitskeim der Zersetzung in sich trage. Aus dieser Überhöhung
des nationalen Gefühls speiste sich der aggressive Charakter des
manifesten Antisemitismus und wurde sozusagen musterbildend für die
spätere völkische und nationalsozialistische Propaganda. (36)
Innerhalb der Völkergemeinschaft
hielten sich die Volkstumsideologen für biologisch überlegen
gegenüber weniger "zivilisierten" Völkern anderer Hautfarbe und
Rasse. Oswald Spenglers Hauptwerk "Der Untergang des Abendlandes",
das nach dem 1. Weltkrieg mit großem Erfolg herauskam, unterscheidet
zwischen "Kultur" und "Zivilisation". Bei ihm gelten nur die
Deutschen als "kultiviert"; die westlichen Völker bloß als
"zivilisiert". Anders der Osten, der weder als "kultiviert" noch als
"zivilisiert" angesehen wurde. Er wurde als rückständig,
minderwertig und unkultiviert betrachtet. Rassistische Dünkel Russen
oder Polen gegenüber waren traditionell keine seltene Erscheinung.
In den Juden hingegen, zumal aus Osteuropa stammenden, bündelten
sich sämtliche Vorurteile in einem die menschliche Existenz
bedrohenden Rassenantisemitismus.
Anmerkungen:
1 Clemens Brentano, Der Philister
vor, in und nach der Geschichte. scherzhafte Abhandlung, in: ders.,
Werke, 2 Bde, München 1973, S.959-1016
2 Heinrich Heine, Almansor. Eine Tragödie, in: ders., Sämtliche
Schriften Bd. 1, hg. v. Klaus Briegleb, FfM/Berlin/Wien 1981, S.284f
3 Walter Grab, Der preussisch-deutsche Weg der Judenemanzipation
1789-1938, München 1991, S.15
4 Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum (1806), zit. nach:
Ludger Graf v. Westphalen, Geschichte des Antisemitismus in
Deutschland im 19. und 20. Jh. (= Quellen- und Arbeitshefte zur
Geschichte und Politik), Stuttgart 1971, S.15
5 Ernst Moritz Arndt, Ein Blick aus der Zeit auf die Zeit (1814),
zit. nach: Ebda., S.16
6 Heinrich Heine, Bekenntnis, zit. nach: Julius Höxter, Quellenbuch
zur jüdischen Geschichte und Literatur, 5. Teil. Neueste Zeit: 1789
bis zur Gegenwart, FfM 1930, S.98f
7 Christian Ludwig Palzow, über das Bürgerrecht der Juden, übersetzt
von einem Juden, Berlin 1803, S.98f
8 Zum Wort und zur Bedeutung des "Hepp-Hepp"-Rufes vgl. die
überzeugenden Erklärungen bei: Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie
eines Weltproblems, Bd.2, Anmerkungen, Exkurse, Register, Stuttgart
1980, S.160ff
9 Eva Reichmann, Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen
Judenkatastrophe, FfM o.J. (1956)
10 Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands,
Tübingen 1968, S.70
11 Neue Preussische Zeitung, Nr. 120/1850
12 Ebda.
13 Bruno Bauer, in: Hermann Wagener, Staats- und
Gesellschaftslexikon, 23 Bde, Berlin 1859-1867, hier: Bd.7, S.11f
14 Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung,
2.Teil. Neudruck: Glashütten 1972, S.59
15 Von den führenden Sozialdemokraten hat Wilhelm Hasenclever -
unter dem Pseudonym "Revel" - eine sozialdemokratische Antwort auf
die Stöcker-Bewegung verfasst, wobei er selbst einem latenten
Antisemitismus das Wort redete. Siehe dazu: Wilhelm Revel, Der
Wahrheit die Ehre. Ein Beitrag zur Judenfrage in Deutschland, in:
Wilhelm Hasenclever. Reden und Schriften, hg. u. eingel. v. Ludger
Heid / Klaus-Dieter Vinschen / Elisabeth Heid, Bonn 1989, S.181-206
16 Zur sozialdemokratischen Gegenbewegung vgl. Bernstein, Berliner
Arbeiter-Bewegung, 2. Teil, S. 58-80, u. Paul W. Massing,
Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, FfM 1959, S.180ff
17 Walter Grab, Der preussisch-deutsche Weg der Judenemanzipation,
a.a.O., S.29
18 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judentums über das Germanentum, Bern
1879
19 Heinrich v. Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preussische
Jahrbücher, Nov. 1879, zit. nach: Der Berliner Antisemitismusstreit,
hg. v. Walter Böhlich, FfM 1965, S.11
20 Zit. nach: E.V.v. Rudolf, Georg Ritter v. Schönerer, der Vater
des politischen Antisemitismus, o.O. 1936, S.61
21 Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel, in: Die
Gartenlaube 1876, zit. nach: Die Zerstörung der deutschen Politik.
Dokumente 1871-1933, hg. v. Harry Pross, FfM 1983, S.259
22 Wilhelm Busch, Die fromme Helene (Lenchen kommt aufs Land). Zit.
nach: ders., Und die Moral von der Geschicht, hg. v. Rolf Hochhuth,
Gütersloh o.J. (1959), S.559
23 Houston St. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts.
Volksausgabe, München 1909, S.312
24 Paul de Lagarde, Juden und Indogermanen, Göttingen 1888, S.339
25 Daniel Frymann (i.e. Heinrich Class), Wenn ich Kaiser wär'.
Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912
26 Jüdische Rundschau Nr.32, 7.8.1914
27 Houston Steward Chamberlain, Kriegsaufsätze, München 1915, S.46
28 Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921,
S.38f
29 Zit. nach: Rhein- und Ruhrzeitung Nr.550, Duisburg, 27.10.1918
30 Protokoll der Sitzung der Hauptleitung und des geschäftsführenden
Ausschusses am 19. und 20. Oktober 1918 in Berlin, zit. nach: Werner
Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland
1870-1945, Hamburg 1988, S.120
31 Heinrich v. Kleist, Germania an ihre Kinder. Dort heisst es:
"Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen
nicht!"
32 zit. nach: W. Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft,
a.a.O., S.121
33 Hans Knodn am 11. Mai 1920 an Ministerpräsident v. Kahr, Bayr.
Hauptstaats-Archiv, Allg. StA, M Inn 66282, zt. nach: W. Jochmann,
Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft, a.a.O., S.144
34 Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung von Wilhelm Meister
(i.e. Paul Bang), München 1919. - Wie viele Antisemiten stand Bang
nicht mit seinem Namen für diese Propagandabroschüre ein. Sie
erschien im März 1919 in 1. Auflage und erreichte bis August 1920
insgesamt 6 Auflagen mit über 30.000 Exemplaren.
35 J. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, a.a.O., S.122f
36 Zum Axiom konstanter, unveränderbarer und kollektiver nationaler
Mentalitäten und zur Rassendoktrin der romantischen
Volkstumsideologen vgl. Walter Grab, Aspekte der Judenemanzipation
in Tagesliteratur und Publizistik 1848-1869, in: Ders., Der deutsche
Weg der Judenemanzipation, a.a.O., S.108-133, bes. S.123
hagalil.com
2007
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