Frühantisemitismus in Deutschland
Von
Jacob Katz
Die Begriffsgeschichte des Antisemitismus
durfte heute trotz mancher Irrtümer in der wissenschaftlichen Literatur als
endgültig geklärt gelten. Der Ausdruck Antisemitismus entstand im Herbst
1879 unter der Hand von Wilhelm Marr.
Berauscht vom starken Widerhall seines im
Februar jenes Jahres erschienenen Pamphlets "Der Sieg des Judentums über das
Germanentum" ging er daran, seinen unerwarteten literarischen Erfolg auch
politisch auszuwerten. (1) Es gelang ihm mit Hilfe konservativer Kreise, die
Zeitschrift Die Deutsche Wache zu gründen, und er verkündete in den Blättern
dieses Organs die Errichtung eines Vereins zur Bekämpfung des Judentums.(2)
Der Ausdruck "Semit" für den Juden bzw. semitisch für jüdisch war um diese
Zeit bereits seit Jahrzehnten im Umlauf.(3) So lag auch die Zusammensetzung
anti-semitisch statt anti-jüdisch nicht fern. In der Tat erschien in den
Blättern der Deutschen Wache der Ausdruck Antisemiten-Liga zuerst neben dem
anti-jüdischen Verein, um ihn dann sehr bald ganz zu verdrangen.(4)
Die Kreierung des neuen Ausdrucks und seine rapide Verbreitung war kein
Zufall. Die mit dem Auftreten von Adolph Stoecker und Heinrich von
Treitschke um diese Zeit beginnende anti-jüdische Bewegung wollte sich auch
semantisch ausweisen und legitimieren. Sie wollte nicht mit der
traditionellen, auf religiösen Gegensätzen beruhenden Judengegnerschaft
verwechselt werden. Religiöse Toleranz galt nun einmal als unanfechtbares
Prinzip, dem auch die Judengegner nicht zuwiderhandeln wollten. Sie
begründeten ihre Einstellung zu den Juden mit Berufung auf deren angebliche
Schädlichkeit für Leib und Seele des deutschen Staates, dem die Juden seit
ihrer Emanzipation als vollberechtigte Burger angehörten. Ob ein rassischer
Unterton mitklang oder nicht, auf jeden Fall sollte der neue Ausdruck das
Abrücken vom traditionellen Judenhaß und den Auftakt zu einem noch nicht
dagewesenen sozialpolitischen Kampf dokumentieren.
Vom begriffsgeschichtlichen Standpunkt aus muß nun die paradoxe Tatsache
registriert werden, daß der Ausdruck nachträglich nicht auf die ursprünglich
tendierte Erscheinung beschränkt blieb. Er wurde vielmehr auf alle Phasen
und Formen der Judenfeindschaft aller Zeiten und Länder angewendet. So wurde
es sowohl in der Publizistik als auch in der wissenschaftlichen
Geschichtsschreibung gang und gäbe, von mittelalterlichem, christlichem oder
antikem Antisemitismus zu sprechen. Solche Rückdatierungen moderner Begriffe
sind nicht ungewöhnlich, doch sie bringen immer auch die Gefahr der
Verwischung mit sich. Die Anwendung von Antisemitismus auf die
Judengegnerschaft des Mittelalters und des Altertums erweckt die
Vorstellung, daß diese Gegnerschaft mit ihrer modernen Abwandlung im Wesen
identisch sei.
In Wirklichkeit tauschte das Gefühl der Antisemiten diese nicht, daß sie mit
einem Novum an die Welt traten. Freilich bestand das Novum nicht und gewiß
nicht allein in der Ideologie - darin waren die Antisemiten, wie wir noch
sehen werden, stark von der Vergangenheit her bestimmt. Neu war, besonders
gegenüber dem der modernen Epoche vorangehenden Abschnitt der Ghettozeit,
die tatsächliche Situation, auf die sich die Ideologie der Judengegnerschaft
bezog. In der Ghettozeit handelte es sich um eine am Rand der christlichen
Gesellschaft geduldete Menschengruppe, deren Sonderstellung und Entrechtung
durch die gegen sie gehegten Ressentiments und Stereotype begründet und
sanktioniert werden sollten. Der moderne Antisemitismus sah sich einer
Gruppe gegenüber, die zu einem vom Staat aufgenommenen Teil der Gesellschaft
geworden war. Gegen diesen Tatbestand richtete sich der moderne
Antisemitismus. Er versuchte, die Aufnahme der Juden durch den Staat, die
Emanzipation, rückgängig zu machen oder wenigstens deren unmittelbare
Folgen, nämlich die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle
Beteiligung der Juden am Leben der Gesellschaft, zurückzudrängen oder zu
neutralisieren. All die ideologischen Aussagen und Formulierungen über die
Minderwertigkeit der Juden und dergleichen mehr sind auf diese Ziele
gerichtet und historisch von hier aus verständlich. Die anti-jüdischen
Argumente und Stereotype, auch wenn sie aus fernsten Zeiten stammten,
mußten, um glaubwürdig zu klingen, der modernen Situation angepaßt werden
und modernes Gepräge annehmen.
Dieser Tatbestand dürfte einen Hinweis zur Beantwortung der Frage enthalten,
von welchem Zeitpunkt an man berechtigterweise vom modernen Antisemitismus
oder wenigstens von seinen Vorläufern sprechen kann. Es ist der Moment, als
die traditionelle Judenfeindschaft des Mittelalters ihre ideologische
Verwandlung in ihre moderne Gestalt beginnt. Nun ist der Akt dieser Wandlung
nicht das Werk der Antisemiten, die sich in den siebziger und achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts an die Spitze der anti-jüdischen Bewegung
stellten. Diese setzte ein, als die Lage der Juden sich in die moderne
Richtung wendete, mit einem Wort: als die Idee ihrer Aufnahme in den Staat,
später Emanzipation genannt, in die Welt trat. (5) Die Befürworter der
Emanzipation plädierten im Namen der neu aufkommenden Auffassung von Staat
und Gesellschaft, die die religiösen Gegensatze hinter sich zu lassen
versprach. Diese Auffassung hatte ihre Wurzeln in der Weltanschauung der
Aufklärung. Die Gegner der Emanzipation, wenn sie nicht einfach den
Vorstellungen der Vergangenheit nachhingen, mußten ihre Gegenargumente
ebenfalls der Gedankenwelt der Aufklärung entsprechend gestalten. Ihre
anti-jüdische Argumentation stellte damit die erste Phase der obengenannten
"Metamorphose" dar.
Leonore Sterling hat in ihrem bekannten Buch "Er ist wie Du" die
"Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland", (der Untertitel des
Buches) im Jahre 1815, also mit dem Auftakt der politischen Romantik und der
Restauration, beginnen lassen. (6) Die vorangehenden Jahrzehnte, die Zeit,
in der im Zuge des Toleranzpatents Josephs II. und des gleichzeitigen Buches
von Christian Wilhelm Dohm "Die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781)
die ersten öffentlichen Diskussionen über die Zukunft der Juden geführt
wurden, sah sie im Zeichen der damals vorherrschenden Tendenz der
Aufklärung. In Wirklichkeit gab es bereits um diese Zeit eine mächtige
Gegenströmung, deren Träger ihr Widerstreben gegen die Juden und ihre
Ansprüche deutlich zum Ausdruck brachten. Anläßlich des josephinischen
Toleranzpatents sprach ein Pamphlettitel in Prag "Über die Unnütz- und
Schädlichkeit der Juden" (7) Dohms Buch veranlaßte Schriften von Friedrich
Traugott Hartmann und mittelbar auch die von Johann Heinrich Schulz, die,
wie wir sehen werden, nichts an Schärfe hatten fehlen lassen. (8) Im Laufe
der Jahre tauchten dann die Namen von Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer,
Christian Ludwig Paalzow, Ernst Traugott Kortum, Friedrich Buchholz und
andere mehr auf. (9) Intellektuell waren sie zweit- und drittrangig. Aber
gerade so dürfen sie als repräsentativ gelten für einen entsprechenden
Ausschnitt der öffentlichen Meinung. Doch die Reserve gegen die mögliche
Emanzipierung der Juden wurde auch von Intellektuellen der ersten Reihe
weitgehend geteilt. Der junge Fichte hat nur einmal, aber da der Form und
dem Inhalt nach radikale Ablehnung gegenüber den Juden bekundet. Kant, zwar
weniger leidenschaftlich im Ausdruck, teilte durchaus seine Ansicht. Weniger
bekannt ist eine ebenfalls ablehnende Äußerung des jungen Hegel zur Frage
der Emanzipation. Von Herder wird behauptet, er hatte trotz kritischer
Äußerungen über die wirtschaftliche Funktion der Juden, die Idee ihrer
Gleichberechtigung unterstützt; dies jedoch beruht auf falscher
Interpretation betreffender Stellen seiner Schriften.(10)
Die Selbstverständlichkeit, mit der wir eine bejahende Einstellung der
Aufklärer zu den Juden erwarten, hatte ihren guten Grund. Da die Aufklärung
den historischen Religionen keine gestaltende Rolle mehr im Leben des
Staates und der Gesellschaft zuerkannte, schien die Voraussetzung für die
Ausschließung der Juden aufgehoben zu sein. Die Orientierung am Ideal der
Menschheit und der Menschlichkeit bot ferner der Aufklärung ein positives
Motiv, die Zukunft vorausnehmend, auch die Juden in die neu entstehende
menschliche Gesellschaft einzubeziehen. In der Tat wurde von den Anwalten
der jüdischen Eingliederung die Anpassung der Juden an ein nivellierendes
Menschenbild vorausgesetzt. Daß die Juden individuell oder kollektiv auch
nach ihrer Eingliederung Züge ihrer ehemaligen religiösen Konstitution
zurückbehalten konnten, daß sie einen kulturellen Beitrag aus ihrer eigenen
Tradition zur Formung der Gemeinschaft beizusteuern imstande waren oder daß
die hergebrachte Form der jüdisch-wirtschaftlichen Betätigung förderlich für
die Allgemeinheit werden könnte, dergleichen ist niemandem auch nur in den
Sinn gekommen. Im Werturteil wirkte die hergebrachte christliche Ablehnung
alles Jüdischen mächtig nach. Die Geister schieden sich an der Frage der
möglichen Verwischung der Charakterzüge der Juden durch ihre Emanzipierung.
Die Anwalte der Emanzipation bejahten sie, ihre Gegner mochten daran nicht
glauben. Die Verneinung dieses Glaubens war der Ausgangspunkt für die
Judengegnerschaft dieser Zeit in allen ihren Variationen.
In christlicher Sicht waren die negativen Zuge der Juden eine Folge ihrer
religiösen Verstocktheit, die aber auf dem Wege der erlösenden Wiedergeburt
durch die Taufe ausgeglichen werden konnte. Für die Aufgeklärten des
18.Jahrhunderts schieden solche Theologismen aus. Wenn sie an der dauernden
Verderbtheit der Juden festhalten wollten, mußten sie eine ihrem Weltbild
entsprechende Theorie entwickeln. Diese konnte an neue anthropologische
Sehweisen anknüpfen. Die anonym erschienene Schrift Grattenauers "Über die
physische und moralische Verfassung der heutigen Juden" enthielt die bündige
Fassung einer solchen Theorie. Völker hatten eine angestammte Konstitution,
die sich sowohl in ihren leiblichen als auch in ihren seelischen
Charakterzügen offenbare. Die Juden besaßen ebenfalls ihre sichtbare
Physiognomie, und die charakterologische Parallele dazu lieferten die
landläufigen Urteile über ihr Benehmen in Handel und Wandel. (11). Darüber
hinaus wurde von den aufklärerischen Autoren auf das nationale Schrifttum
der Juden zurückgegriffen und aus ihnen die negative Charakteristik der
Juden erwiesen.
Die christlichen Gegner der Juden beschränkten sich in ihrer Beweisführung
der Verderbnis der Juden auf die talmudische Lehre. Die berühmteste und
umfangreichste Anklageschrift dieser Art, das 2000 Seiten umfassende
"Entdeckte Judenthum" Eisenmengers, enthielt keine einzige Stelle aus dem
Alten Testament. Das In-Beziehung-Setzen jüdischer Immoralitat mit den
Vorschriften und den Gestalten aus dem Alten Testament hätte auch den
Glauben der protestantischen Theologen diskreditiert. Für die durch den
Deismus geprägte Weltanschauung der Aufklärer fielen solche Hemmungen weg.
Die Kritik am Alten Testament, seine Verhöhnung a la Voltaire gehörte doch
zum eisernen Bestand der radikalen Aufklärung. Zu den talmudischen Zitaten
im Stile Eisenmengers gesellten sich jetzt Hinweise auf biblische Gesetze
und Gestalten, die die unmoralischen und misanthropischen Charakterzüge der
heutigen Juden vorwegnahmen. Die so erwiesene Beständigkeit der jüdischen
Eigenart wurde dann als Beleg für ihre Unwandelbarkeit in aller Zukunft
unterstellt.
Fichte sah in der Stammgebundenheit der jüdischen Moral und in dem Glauben
der Juden an ihre göttliche Bevorzugung die Hauptübel der jüdischen
Mentalität. Beide seien abrahamsches Erbe, aber so tief verwurzelt in der
nationalen Psyche, dag nur das "Abschneiden der jüdischen Köpfe", das heißt
die Auswechslung der physiologischen Grundlagen, eine Mutation im jüdischen
Charakter erwarten lassen konnte. (12) Die rationalistische Denkungsweise
verneinte selbstverständlich die regenerative Kraft der Taufe, und so konnte
der Übertritt zum Christentum nicht mehr als der Weg des Heils für den
einzelnen Juden angesehen und für die ganze Judenheit am Ende der Tage
erhofft werden. In Fichtes Darstellung war die Ablehnung der Judenbekehrung
als Lösung des Judenproblems impliziert. Grattenauer und Buchholz verneinten
sie ausdrücklich, und auch Herder erklärte die Judenmission für unzeitgemäß.
(13) Friedrich Traugott Hartmann war der ein zige unter den Judenkritikern,
der von den Juden als Preis fur ihre gesellschaftliche und politische
Aufnahme die Annahme des Christentums forderte. Doch nicht weil er damit die
Vorstellung einer religiösen Neugeburt im Sinne der Kirche verband. Ein
Jude, der die Taufe für sich erbäte, erklärte damit seine Bereitschaft, die
Gesetze, Pflichten und Sitten seiner neuen Gemeinschaft anzunehmen. Wenn
nicht er, so würde wenigstens seine Nachkommenschaft sich der jüdischen
Exklusivität und der jüdischen Unarten entwöhnen. (14)
Die Ablehnung der Aufnahme der Juden mit oder ohne Taufe hatte zu dieser
Zeit keine eigentlich rassische Begründung. Die Assimilierung der Juden
wurde nicht so sehr als unmöglich oder gar wegen der Schädlichkeit für den
assimilierenden Volkskörper als unstatthaft angesehen. Was bezweifelt wurde,
war vielmehr der Wille oder die Fähigkeit der Juden, einzeln und zumal in
ihrer Gesamtheit, die Metamorphose der Assimilation zu leisten. Die
Judenheit trug noch die Merkmale einer kompakten, durch Tradition, Sprache
und Gesittung geprägten Gemeinschaft. Keine der landläufigen Bezeichnungen
schien für sie zu passen. Man nannte sie eine "Nation", eine Kaste, und
Ernst Traugott von Kortum und Adolph Freiherr von Knigge behaupteten, es
gäbe keine andere Gemeinschaft, die einen solchen Grad von Solidarität und
Esprit de Corps an den Tag legten. (15) Fichte sprach dann von einem Staat,
der über alle Länder Europas sich erstrecke und sich Menschen und
Institutionen gegenüber als Feind verhalte. Ich bin an anderer Stelle dem
Ursprung des Schlagwortes "Staat im Staate" und seiner Rolle in der
anti-jüdischen Propaganda nachgegangen. In dieser Phase der Verwendung ist
der ursprüngliche Sinn der Formel noch durchaus lebendig. Er will besagen,
daß zwischen dem einzelnen Individuum und dem Staat keine Körperschaft, die
einen Teil der Individuen an sich bindet, existieren darf. Auch andere
Korporationen wie die der Jesuiten, die Freimaurer, ja sogar die der Zünfte
wurden im Zeichen der vom Schlagwort erfaßten Idee angegriffen. Auf die
Juden wurde es in einer sonst ungewohnten Weise bezogen. Von den anderen
Korporationen hieß es, sie mußten aufgelöst werden, um ihren Mitgliedern das
unmittelbare Verhältnis zum Staat zu sichern. Von den Juden aber behaupteten
ihre Gegner, daß sie eines unmittelbaren Verhältnisses zu Land und Staat
nicht fähig waren. Sie wurden also selbst emanzipiert ein Staat im Staate
bleiben. Die Schlußfolgerung war also, man lasse sie im Zustand der
Sonderexistenz, selbst wenn sie zu guter Letzt als einziger Rest ehemaliger
Korporationsstaatlichkeit übrig bleiben wurden. (16)
Von unserer historisch distanzierten Warte aus ist es nicht schwer, den
Judengegnern der Zeit einige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das
Zukunftsbild, das auch bewog, die Aufnahme der Juden in die Gesellschaft zu
empfehlen, widersprach dem Gegenwartszustand in einem Maße, daß es leicht
ins Reich des Utopischen verwiesen werden konnte. Herder sprach von einer
Zeit, wo in Europa nicht mehr danach gefragt werden wurde, wer Jude oder
Christ sei, und diese Voraussage brachte ihn in den Ruf, zu den Stützen der
Emanzipation zu gehören. Doch jene Äußerung betraf nur die Sicht auf eine
ferne Zukunft. Auf seine nahe Umgebung hin war Herders Urteil über die
jüdische Wirklichkeit harsch genug. Von ihm stammt das Bild von der
parasitischen Pflanze, angewandt auf die wirtschaftliche Tätigkeit der
Juden. In der Beurteilung des jüdischen Altertums, im besonderen der
schöpferischen Leistung der biblischen Schriften, war Herder himmelweit von
der Bekrittelung der deistischen Rationalisten entfernt. Doch gerade seine
auf Differenzierung kultureller Schöpfungen abgestellte Sehweise ließ ihn
die Juden der Gegenwart als europäische Orientalen definieren.
Konsequenterweise warnte er die Regierungen, sie mußten in der Frage der
Aufnahme solcher Fremden Vorsicht walten lassen und sich fragen, wie viele
von ihnen und unter welchen Beschränkungen dem Lande von Nutzen sein
konnten. Das war eine klare Absage an die Idee der bedingungslosen
Emanzipation. (17)
Die Problematik der jüdischen Existenz spiegelt sich auch in den Äußerungen
der bösartigen Judengegner, zu denen ein Mann wie Herder gewiß nicht gezahlt
werden darf. In der Schilderung solcher Gegner verzerrte sich die jüdische
Wirklichkeit zur Karikatur. Die an sich verständliche Zurückhaltung
gegenüber der "bürgerlichen Verbesserung" war von der Tendenz getragen, die
Ablehnung durch Anschwärzung von jüdischer Gesittung und jüdischem Charakter
plausibel zu machen. Schriften wie die von Hartmann, Grattenauer und Kortum
trugen bereits die Zuge der "rational" begründeten Judenfeindschaft. Doch
die Intensität der Abneigung hing mit dem Festhalten am negativen Judenbild
der Vergangenheit zusammen. An die Stelle der theologisch begründeten
Verteufelung trat jetzt die "rational" unterbaute Charakterisierung - Grund
genug, sie als Ankündigung des modernen Antisemitismus zu bewerten.
Die Verknüpfung der neuen Phase der Judenfeindschaft mit ihren
mittelalterlichen Wurzeln ist aber nicht nur an der Wucht ihrer Leidenschaft
erkenntlich. Die Träger der neuen Richtung waren gewiß keine dogmatisch
fixierten und kirchlich gebundenen Christen. Doch nur wenige von ihnen wie
etwa der junge Fichte, haben sich bewußt vom Christentum distanziert Die
meisten gehörten zu dem für die deutsche Aufklärung charakteristischen
Typus, der sich dank einer freien Interpretation der christlichen Lehre
keineswegs konträr zur Weltanschauung des Christentums empfand. Grattenauer
erklärte sich darüber in der Vorrede zu seiner oben erwähnten Schrift
folgendermaßen: "Ich bin Christ, nicht dem Namen nach, sondern aus wahrer
Überzeugung, weil ich nach meiner Vernunft finde, daß die christliche Moral
mit meiner Bestimmung als Mensch in genauer Harmonie steht, und ihre
Ausübung mich zufrieden und glücklich macht."(18) Die Vernunft blieb hier
die letzte Instanz für die Selbstbestimmung des Menschen und sein Glück das
eigentliche Ziel des moralischen Verhaltens. Aber auch noch in dieser
typisch aufklärerischen Fassung glaubte der Autor, sich zu der christlichen
Lehre zu bekennen. Mit diesem Bekenntnis war die Verwerfung des Judentums
als selbstverständlich gegeben. Nur, daß Grattenauer entsprechend seiner
Definition des Christentums, dessen Gegensatz zum Judentum nicht im
Dogmatischen, sondern in seiner Morallehre zu finden behauptete. So wurde in
der giftspeienden Schrift die jüdische Religion als die Ausgeburt der
Unmoral und Charakterverderbtheit geschildert.
Eine ähnliche Tendenz, von noch paradoxeren Voraussetzungen getragen,
verfolgte die Schrift des um diese Zeit berüchtigten Johann Heinrich Schulz:
Philosophische Betrachtungen über Theologie und Religion überhaupt und über
die jüdische insonderheit. Schulz war ein protestantischer Geistlicher, der
sich als Atheist erklärte und trotzdem darauf bestand, seine Stellung in der
Kirche zu behalten.(19) Er verfocht die Ansicht, daß die ursprüngliche Lehre
des Christentums unter Ausschließung jedes Dogmas und der Verwerfung
jeglichen Rituals allein auf der Verkündung einer Sittenlehre basiere. Mit
dieser extrem rationalistischen Ansicht geriet er nicht nur mit seiner
eigenen Kirche in Konflikt, sondern auch mit dem Vertreter des Judentums
Moses Mendelssohn. Mit dem Eintreten für die Aufnahme von Juden in Staat und
Gesellschaft stützte sich Mendelssohn in seinem Jerusalem auf den Grundsatz
der Unabhängigkeit der politischen Rechte und der sozialen Stellung vom
Glaubensbekenntnis der Bürger. Eine Ausnahme durfte nur gegenüber Atheisten
gemacht werden, die durch Verneinung der Existenz Gottes der Gesellschaft
moralisch zur Gefahr wurden.(20) Dagegen entlud sich die Wut der sich zum
Atheismus bekennenden Geistlichen. Die Juden waren es, die in ihrer
Gesetzesreligion und dem Glauben an ihre Auserwähltheit die Grundlagen der
vernünftigen und alle Menschen gleich verpflichtenden Moral untergraben
würden. Schulz schilderte den Streit Jesu mit den Pharisäern als den Kampf
des aufgeklärten Philosophen mit den gewissenlosen Volksbetrügern, die dem
Aberglauben verfallen seien. Mit dem so ausgestatteten Verkünder des
Christentums konnte er sich identifizieren und in seinem Namen das
ritualgebundene und unmoralische Judentum verdammen. (12)
Solche Extreme konnten vielleicht als historisch unbedeutend abgetan werden,
wäre die Struktur ihrer Gedankengange nicht auch bei ganz anderen Gestalten,
ja bei Figuren ersten Ranges anzutreffen. Bedeutsam ist nämlich, daß durch
Grattenauer und Schulz das Christentum entdogmatisiert und ideologisch
reinterpretiert wurde, ohne jedoch seine anti-jüdische Kante abzuschleifen.
Dasselbe, wenngleich auf einer ganz anderen denkerischen Ebene, findet sich
bei Kant und Hegel, um nur die beiden bedeutendsten Zeitgenossen von Schulz
und Grattenauer zu nennen. Bei Kant gilt dies für seine Altersschrift "Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" und bei Hegel für all
die Phasen seines Denkens seit der Überwindung seiner anti-christlichen
Einstellung - sogar bevor er überhaupt an die Öffentlichkeit trat.
Kants bejahende Wendung zum Christentum kam als große Überraschung. Seine
früheren Schriften ließen ihn als den philosophischen Vertreter der
Aufklärung erscheinen, der zwar den Gottesbegriff in sein System einzubauen
unternahm, aber daraus keine Folgerungen zur Stützung irgend einer Religion
erlaubte. Sein Buch vom Jahre 1793 dagegen stellte die Hauptelemente der
christlichen Tradition einschließlich der Institution der Kirche als von der
Philosophie garantierte Wahrheit dar. Andererseits wurde die Befolgung von
Lehre und Praxis des Christentums als eine sichere Anleitung zur von der
Philosophie empfohlenen Anschauung und Moral empfohlen. Die
realgeschichtliche Bedeutung dieser Wende ist den Zeitgenossen nicht
entgangen. Mit ihr wurde der Ausgleich zwischen der Aufklärung und der im
Staate herrschenden Religion philosophisch sanktioniert. Eine Nebenfolge der
Wende betraf die Position der Juden. Mit der philosophischen Bejahung des
Christentums ging die entsprechende Ablehnung des Judentums Hand in Hand.
Dieses wurde sowohl historisch als auch dem Wesen nach als dem Christentum
entgegengesetztes System geschildert. Es wurde ihm die Fähigkeit
abgesprochen, die von der Religion zu erwartende erzieherische Wirkung zu
leisten. Die gesellschaftlichen und politischen Folgerungen dieser These hat
Kant selbst ausgesprochen. Juden durften im Staat keineswegs auf eine den
Christen gleichberechtigte Stellung hoffen, solange sie ihre Religion nicht
in eine dem Christentum ähnliche umformten. Diese grundsätzliche Einstellung
Kants zum Problem der Judenemanzipation, die ich vor einiger Zeit in einem
hebräischen Aufsatz auf Grund der Analyse der Quellen zu klären versuchte,
entsprach durchaus seiner sonstigen Verhaltungsweise gegenüber Juden.(22) Er
schätzte Juden wie etwa Marcus Herz und Lazarus Bendavid, die - Anhänger
seines philosophischen Systems - als Vorläufer der postulierten Umformung
der jüdischen Religion angesehen werden konnten. Im übrigen bezeugen
Äußerungen über Juden und ihre angeblich angeborenen Eigenheiten die
Identifizierung des Philosophen mit den landläufigen Stereotypen der Umwelt.
(23)
Von Hegel wissen wir, daß er in seiner Rechtsphilosophie, also in seiner
Berliner Zeit, die Unabhängigkeit der Staatsbürgerrechte von jeglicher
Religion, also auch von der jüdischen, energisch vertrat.(24) Die Auffassung
vom Staat als einer in seiner Funktion säkularen Einrichtung bedingte diese
Einstellung. Auf philosophischer Ebene blieb für Hegel in allen Phasen
seiner geistesgeschichtlichen Interpretationen das Judentum hinter oder
besser unter dem Christentum. In seiner Frühzeit, in den damals
unveröffentlicht gebliebenen theologischen Schriften, als er das erste Mal
sich zu einer positiven Stellung zum Christentum durchrang, entwarf er ein
besonders düsteres Bild vom Wesen des Judentums. Diesem fiel die Rolle des
Gegenpols zum Christentum zu. Der Gegensatz der beiden Religionen wurde in
ihre metaphysischen Wurzeln verlegt, aber gleichzeitig in seiner Auswirkung
in der realen Geschichte ihrer Träger wiedergefunden. Die Entfremdung
gegenüber der Welt sei die metaphysische und historische Schuld des
Judentums. Von dieser Schuld wollte Jesus sein Volk erlösen, das sich aber
der Erlösung widersetzte. Daher das verdiente Schicksal der Juden in ihrer
noch immer fortdauernden Erniedrigung. "Alle folgenden Zustände des
jüdischen Volkes bis auf den schäbigsten, niederträchtigsten, lausigsten
Zustand, in dem er sich noch heutigentags befindet, sind weiter nichts als
Folgen und Entwicklungen ihres ursprünglichen Schicksals, von dem sie
mißhandelt worden, und so lange mißhandelt werden bis sie es durch den Geist
der Schönheit aussöhnen und so durch die Versöhnung aufheben."(25)
Dieser von Hegel-Forschern unbeachtete Satz im Jahre 1796 kann nur bedeuten,
daß die von der Aufklärung erwartete Regenerierung der Juden mit Mitteln
rationaler Politik für Hegel außer Frage geblieben ist. Die christliche
Konzeption von der metaphysischen Schuld des Juden hat in der
philosophischen Metamorphose ihre Fortsetzung gefunden.
Diese Äußerung war aber nicht Hegels letztes Wort zur Sache. Wie angedeutet,
änderte er später seine Einstellung. Wie dieser Umschwung in Hegels Stellung
zur Emanzipation verdeutlicht, waren die negativen Reaktionen auf die ersten
Eingliederungsversuche der Juden durchaus veränderungsfähig. Ob sie aber in
allen Fallen völlig aufgehoben werden konnten, darf - nicht nur angesichts
der tatsächlichen Entwicklung - bezweifelt werden. Denn die Reaktionen
nährten sich aus zwei Quellen, die auch im Laufe der Zeit nicht versiegten.
Unsere Analyse zusammenfassend, soll nun die Natur der beiden Quellen
umrissen werden.
Der Rationalismus der Aufklärung, der die tradierten christlichen Hemmnisse
gegen die Gleichstellung der Juden abtrug, lieferte ebenso die
anthropologische Sehweise, mit deren Hilfe man die gern akzeptierte
Minderwertigkeit der Juden neu begründen konnte. Darin ist durchaus die
erste Phase einer zur Rassentheorie tendierenden Entwicklung zu sehen. Das
zweite Merkmal künftiger Entwicklung ist in dem Widerstand der christlichen
Überlieferung, die sich nicht ohne weiteres von der rationalen oder
historischen Kritik verabschieden ließ, zu erkennen. Das Christentum zeigte
im Gegenteil bereits in dieser Zeit eine überraschende Fähigkeit zur
Erneuerung. Blieb aber das Christentum, sei es auch in ideologischer
Abwandlung, eine konstitutive Macht im Bewußtsein der Zeit, so wurde die
traditionelle Abwertung seines historischen Gegners, des Judentums, mit
fortgepflanzt. Sowohl der "rationalistische" als auch der christliche
Antisemitismus späterer Zeit sind in der Phase des Frühantisemitismus nicht
nur ideell vorweggenommen, sondern im Keim real vorhanden.(26)
Anmerkungen:
1 Marrs Pamphlet ist irrtümlicher Weise oft auf 1873 datiert worden. Sein
Erscheinungsjahr ist allerdings auf Grund der Besprechung der Aligemeinen
Zeitung des deutschen Judentums vom 18. März 1880 genau fixierbar.
2 Siehe Werner Jochmann: "Struktur und Funktion des deutschen
Antisemitismus". In: Werner E. Mosse (Hrsg.): Juden im Wilhelminischen
Deutschland 1890-1914. Tübingen 1976, S. 409-476.
3 Christoph Cobet: Der Wortschatz des Antisemitismus in der Bismarckzeit.
München 1973, S. 221.
4 Auf Leserbrief-Anfragen, was der Unterschied zwischen den beiden
Gründungen sei, antwortete Marr ausweichend.
5 Eine detaillierte Analyse des Vorgangs ist in meinem Buch Aus dem Ghetto
in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870. Frankfurt
a.M. 1986, gegeben.
6 Das Buch erschien in München 1956, eine 2. Aufl. unter dem Titel
"Judenhaß, die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland
(1815-1890). Frankfurt a.M. 1969.
7 [Ignatz Klingler:] Über die Unnütz- und Schädlichkeit der Juden im
Königreiche Boheim und Mahren. Prag 1782.
8 Traugott Friedrich Hartmann: "Untersuchung ob die bürgerliche Freiheit der
Juden zu gestatten sei." Berlin 1783. - Johann Heinrich Schulz:
Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt und über
die jüdische insonderheit. Frankfurt und Leipzig 1784.
9 Die Veröffentlichungen dieser Judengegner sind bei Volkmar Eichstadt:
Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage 1750-1848, Hamburg 1938,
verzeichnet.
10 Über alle drei siehe weiter unten.
11 Die Schrift ist im Jahre 1791 erschienen. Die anthropologische Sicht der
Geschichte ist am stärksten bei Voltaire entwickelt. Siehe das Kapitel
Voltaire in meinem Buch Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der
Antisemitismus 1700-1933. München 1989, S. 41-54
12 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des
Publikums über die französische Revolution 1. Tl. [Danzig] 1793, S. 188-193.
13 Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer: "Über die physische und moralische
Verfassung der heutigen Juden." Leipzig 1791, S. 19.f 114f. - Friedrich
Buchholz: "Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische
Verhältnis der Juden und Christen, eine historisch-politische Abhandlung.
Berlin 1803, S. 208 - 269. Zu Herder s. Anm. 17.
14 Hartmann, Untersuchung (Anm. 8), S. 11-2O, 40, 117-122.
15 Ernst Traugott von Kortum: "Über Judenthum und Juden hauptsächlich in
Rücksicht ihres Einflusses auf bürgerlichen Wohlstand. Nürnberg 1795, S. 50,
54 ff. - Adolph von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover 1792-93,
Bd. 3: "Über den Um gang mit Juden", S. 153-159.
16 Jacob Katz: " State within a State. The History of an Anti-Semitic
Slogan". In: Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities.
Bd. 4, Nr. 3, 3969, S. 29-58. Abgedr. in: Jacob Katz, Zur Assimilation und
Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften. Darmstadt 1982, S. 124- 153
17 Herder: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877-
1913, Bd. 14, S. 67, 283 f.; Bd. 24, S. 63 f. Vgl. F. M. Barnard: "Herder
and Israel". In: Jewish Social Studies 38 (1966), S. 25-33.
18 Grattenauer, Verfassung der Juden (Anm. 13), Vorrede.
19 Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. XXXII, S. 74, ff.
20 Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Georg Benjamin
Mendelssohn. 7 Bde. Leipzig 1843-1845, Bd. 3, S. 287.
21 Schulz, Betrachtung (Anm. 8), S. 121-153, 161-169, 182f.
22 Jacob Katz: "Kant and Judaism, The Historical Context". In: Tarbiz 42
1991-1972), S. 219-237 (hebr.), engl. Zusammenfassung S. Vlll.
23 Ebd., S. 221 f., 233 f.
24 Shlomo Avineri: "A Note on Hegel's View on Jewish Emacipation". In:
Jewish Social Studies Bd. XXV (1963), S. 145- 151.
25 Herman Nohl (Hrsg.): Hegels theologische Jugendschriften nach den
Handschriften der kgl. Bibliothek in Berlin. Tübingen 1907, S. 256; über
Hegels Einstellung zum Judentums. Hans Liebeschütz: Judentum im deutschen
Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber. Tübingen 1967.
26 Dieser Aufsatz wurde auch veröffentlicht in: Jacob Katz: Zwischen
Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte. Frankfurt a.M.
1993, S. 135 - 149.
Elektronische Quelle:
www.trend.infopartisan.net/
hagalil.com
2007
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