"Im deutschen Reich", die Zeitschrift des
Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dokumentiert in
diesem Beitrag die Verhandlung des Münchner Redakteurs Ludwig Wengg, der zu
Weihnachten 1896 ein antisemitisches Flugblatt herausgegeben hatte und darin
gegen jüdische Warenhäuser und Juden im Allgemeinen gehetzt hatte.
Münchener Gerichte
über Antisemitismus
Erschienen in: Im deutschen Reich, Jg. 3,
März 1897
Der Redakteur des antisemitischen "Deutschen Volksblattes", Kartograph
Wengg in München, war wegen groben Unfugs, begangen durch Verbreitung
eines sogenannten Talmudauszugs in vielen Tausenden von Exemplaren
durch Strafbefehl zu 12 Mk. Geldstrafe verurtheilt worden. Dagegen erhob
Wengg Einspruch mit der Begründung, daß die 64 im Talmudauszug enthaltenen
Gesetze im Talmud thatsächlich enthalten seien und der Talmud noch geltendes
ober sicher nicht abgeschafftes Gesetz der Juden sei. In der am 26. Februar
in München stattgehabten Verhandlung vor dem Schöffengericht beantragte der
Amtsanwalt eine Geldstrafe von 50 Mk., die Urtheilsfällung wurde auf den 4.
März verlegt. Das Gericht ging über den Antrag des Amtsanwalts bei dem
Strafabmessen hinaus; es verurtheilte den bekannten Münchener
Antisemitenführer Wengg zu 100 Mk. Geldstrafe, eventuell 20 Tage Haft.
In den von dem Amtsrichter von Vomhard verlesenen Urtheilsgründen
wurde u. A. gesagt: Der Angeklagte bestreitet zunächst, daß die Bekanntgabe
der Wahrheit jemals grober Unfug sein könne. Thatsache sei aber, daß jedes
Wort, welches in den betreffenden Auszügen stehe, Wahrheit sei; ferner sei
beweisbar, daß die genannten Gesetzbücher (Talmud und Schulchan Aruch) noch
heute anerkannte Sittengesetze der Juden enthalten, und endlich, daß der
Talmud, der anerkanntermaßen Quelle der jüdischen Religion sei, allüberall
zur Grundlage des Unterrichts gemacht werde. Es kann, so führte das Gericht
hier aus, keinem Zweifel begegnen, daß Auszüge aus dem Talmud, wie, daß den
Juden verboten sei, Nichtjuden als Menschen anzusehen, auf der anderen Seite
aber jenen erlaubt sei, die Nichtjuden zu betrügen, zu bewuchern, ihnen
gegenüber Meineide zu schwören u., geeignet ist, Abscheu gegen die Juden
hervorzurufen. Es liegt demnach auch auf der Hand, daß die Verbreitung
derartiger Stellen geeignet ist, in weiteren Kreisen der Bevölkerung
Beunruhigung zu erwecken und zwar nicht bei den Juden, sondern bei
Andersgläubigen, denen vor Augen gehalten wird, daß unter ihnen eine
Gesellschaft von Menschen haust, welche darauf ausgeht, andere mit den
niederträchtigsten Mitteln um Hab und Gut zu betrügen. Das Gericht nimmt an,
daß ähnliche Stellen im Talmud enthalten sind. Es wird zwar von den Juden
und deren Literatur geltend gemacht, daß diese Stellen vielfach verstümmelt
wiedergegeben seien; allein im Wesentlichen kann wohl die Thatsache der
Existenz dieser Stellen nicht bestritten werden. Im Einzelnen ist übrigens
eine richtige Uebersetzung auch von den judenfreundlichen Schriftstellern
nicht zu Stande gebracht worden; es wurde daher zu Gunsten des Klägers
angenommen, daß er fest von der Richtigkeit dieser Stellen überzeugt war.
Anlangend dagegen die weitere Behauptung, es seien diese Gesetze noch heute
geltendes Sittengesetz, so wurde der angebotene Wahrheitsbeweis abgelehnt.
Thatsache ist, daß die Juden bei den modernen Staaten und bei uns in
Deutschland besonders vollständig gleichberechtigte Staatsbürger sind.
Deshalb sagt nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch die
tägliche Erfahrung, daß derartige Sittengesetze nicht mehr existiren können.
Man wendet dagegen ein, die Juden folgen unseren Gesetzen nur, weil sie
müssen; allein diese Behauptung ist unbewiesen und unbeweisbar; sie ist eine
der Grundlagen der antisemitischen Bewegung und wird demgemäß ebenso oft
aufgestellt wie bestritten. Der Boden, auf dem sie am meisten aufgestellt
wird, ist der des Geschäftslebens; allein wenn diese Behauptung wahr wäre,
folgt daraus, daß sie auf der jüdischen Sittenlehre sich gründen muß? Ist es
nicht naheliegender, zu glauben, wie eine von 200 Rabbinern unterschriebene
Erklärung 1895 angab, daß die genannten beiden Bücher niemals Gesetzeskraft
hatten, vielmehr lediglich Lehrmeinungen enthielten? Sie beruhen überhaupt
auf der uralten biblischen Idee, wonach die Juden als auserwähltes Volk
Gottes den Umgang mit den unreinen Heiden vermeiden mußten und wonach sie in
den nicht seltenen Epochen der Knechtschaft zum Zweck der Erreichung ihrer
Mission mit allen Kräften, also nach gewöhnlicher Anschauung, auch mit
unlauteren Mitteln, ihrer Feinde sich zu erwehren hatten.
In der Urteilsbegründung heißt es weiter: Der Einwand, daß all diese Gründe
bei der Entstehung des Schulchan Aruch nicht mehr maßgebend gewesen seien,
ist nicht stichhaltig; denn gerade zu jener Zeit hatten die Juden überall
und gerade in Deutschland die schärfsten Anfeindungen zu erdulden. In
Deutschland besonders wurden Sittengesetze gegen die Juden angewendet, die
zu den ihrigen Anlaß gaben: sie waren zum Eid nicht zugelassen, und als
dies geschehen war, durften sie denselben nur auf einer "Sauhaut" stehend
leisten u.; in der ersten christlichen Zeit galt es als Gott wohlgefällige
Handlung, die jüdischen Synagogen zu zerstören, und der heilige Ambrosius
rühmte sich, selbst daran theilgenommen zu haben, u. s. w. Aus diesen
wenigen Beispielen erhellt, daß die Juden bis in das späte Mittelalter sich
im Zustande der Nothwehr befunden haben, sie waren recht- und vaterlandslos
und konnten demgemäß ihre eigene Sittenlehre haben so gut und so schlecht
wie ihre Gegner. Wenn darauf hingewiesen wurde, daß die Verwendung des
Talmuds in den Schulen in Baden verboten wurde, so liegt dem betreffenden
Erlaß, wie dessen Wortlaut beweist, keineswegs die Anschauung zu Grunde,
als würde der Talmud als noch geltende Sittenlehre betrachtet, sondern
offenbar die, daß derartige Dinge bei unreifen Gemüthern verwirrend wirken.
Von heute noch geltenden Sittengesetzen kann also nicht im Entferntesten die
Rede sein.
Für das Gericht kam nur noch in Frage: ob nicht § 130 oder 166 des
R.-St.-G.-B. in Anwendung zu kommen habe. Letztere Bestimmung verlangt aber
die Beschimpfung einer Religionsgesellschaft; dieses Kriterium ist aber
nicht gegeben. Ebensowenig schlägt aber der erstgenannte Paragraph ein, weil
eine Anregung zu Gewaltthätigkeiten nicht ersichtlich ist; dagegen war §
366,11 anzuwenden. Daß grober Unfug durch die Presse verübt werden kann,
bedarf einer weiteren Begründung nicht. Hinsichtlich des
Strafausmaßes
hat das Gericht nicht verkennen dürfen, daß eingestandenermaßen die ganze
Tendenz der in Rede stehenden Schriftstücke antisemitische Propaganda
ist. Da alle Staatsbürger gleichberechtigt sind, stellen sich diese Auszüge
als bewußte und zielbewußte Auflehnung gegen bestehende Rechte dar, gegen
welche die den Rechtsschutz des Staates garantirenden Organe auf's
Energischste zu reagiren haben. Wenn trotzdem auf keine Freiheitsstrafe
erkannt wurde, so hat es der Angeklagte lediglich der Ueberzeugung des
Gerichts zu verdanken, daß er auf diesem Gebiet mit einer derartigen
unheilbaren Verblendung geschlagen ist, daß ein Unterschied in den
gewählten Mitteln für ihn nicht existirt.
Die "Iüd. Presse" bemerkt hierzu: "Je wohlthuender es berührt, daß der
Gerichtshof mit strengster Sachlichkeit urtheilt, die angeblich nicht ganz
einwandsfreien Bestimmungen des Talmuds und Schulchan-Aruch mit
psychologischen Gründen als Akte der Nothwehr rechtfertigt und ihre
antisemitische Ausbeutung ahndet, um so mehr muß bedauert werden, daß die
Feststellung, ob Bestimmungen ähnlichen Inhalts in unserem
religionsgesetzlichen Schriftthum wirklich enthalten seien, unterblieben
ist. Wäre dies geschehen, dann hätte der Gerichtshof zu der Ueberzeugung
gelangen müssen, daß jenes Flugblatt thatsächlich ein Conglomerat von
schamlosen Fälschungen, Verdrehungen und Entstellungen ist. Erfreulicher
Weise wird sich Gelegenheit bieten, das in dieser Instanz Unterbliebene in
einer höheren nachzuholen, denn wie Wengg in seinem "Deutschen Volksblatte"
ankündigt, wird er "selbstverständlich" Appellation beim Landgericht
anrufen. Von diesem Forum wird wohl auch die Rechtsanschauung des
Amtsgerichts, daß der Thatbestand des § 166 nicht vorliege, eine Nachprüfung
erfahren. Nach der Judikatur des Reichsgerichts, welche erst
neuerdings in dem Prozesse gegen Sedlatzek wegen Beschimpfung der jüdischen
Religionsgenossenschaft zum Ausdruck gelangte, kommt bei dem § 166 der
Einwand, daß nur die Nasse bekämpft werden solle, nicht in Betracht und ist
der Thatbestand jenes Paragraphen auch dann erfüllt, wenn beschimpfende
Ausdrücke fehlen und der materielle Inhalt der Anschuldigungen
beschimpfenden Charakters ist."
Am 17. März d. J. fand gegen
denselben antisemitischen Redakteur eine Berufungsverhandlung vor dem
Landgericht München I statt. Wengg hatte in einer Briefkasten-Notiz der Nr.
37 des "Deutschen Volksblattes" vom 13. September 1896 ein Rezept angegeben,
nach dem der liebe Herrgott die Juden geschaffen habe: 1/2 Centner
Schlauheit, 1/2 Centner grobkörnige Frechheit, 3 Eimer Arroganz und
stinkende Einbildung u. s. w. Daran war, durch einen Gedankenstrich
getrennt, die Bemerkung geknüpft: ein ganz geeignetes Wanzenmittel gegen die
Juden sei noch nicht gefunden, da das einzig wirksame, nämlich Aushungerung
durch Befolgung des Grundsatzes "Kauft nicht bei Juden!" an der Indolenz der
meisten christlichen Hausfrauen scheitere. Wegen des letzteren Passus war W.
durch Strafbefehl zu 20 Mk. Geldstrafe verurtheilt und sein Einspruch durch
Urtheil des Schöffengerichts verworfen worden. Hiergegen hatten Angeklagter
und Amtsanwalt Berufung eingelegt. In der Verhandlung erklärte der
Vertheidiger, es sei keine allgemeine Beunruhigung gegeben, eine derartige
Ausdehnung des Unfugs auf die durch den politischen Kampf bewirkte
Beunruhigung einzelner Parteien sei unzulässig. Da der Strafbefehl sich nur
gegen den 2. Theil der Notiz wende, sei es nicht zulässig, auch wegen des
ersten Theils Bestrafung eintreten zu lassen, wie es der Vorderrichter that;
und Erhebung einer besonderen Anklage wegen des "Rezepts" sei wegen
eingetretener Verjährung unmöglich. Der Ausdruck "Wanzenmittel" gehe auf
Bismarck zurück und bezeichne nur ein Mittel zur Zurückdrängung der Juden;
Aushungerung sei nicht wörtlich zu nehmen und etwa als Grausamkeit
aufzufassen; die Aufforderung: "Kauft nicht bei Juden!" werde seit Langem
verbreitet, ohne je unter Anklage gestellt worden zu sein. Sie bezwecke nur
die Vertheidigung des christlichen eingesessenen Geschäftsmannes gegen die
Juden. Zum Schluß plädirte der Vertheidiger auf Freisprechung.
Der Staatsanwalt erklärte: das
Christenthum und die eingesessene Münchener Geschäftswelt halten sich für zu
gut, um sich von Wengg durch solch schmutzige Ausdrücke vertheidigen zu
lassen. Zur eingesessenen Geschäftswelt gehören auch viele hochangesehene
Juden. Dem Urtheil sei der ganze Artikel, der einem rechtswidrigen Entschluß
entspringe, zu Grunde zu legen. Zur Vertheidigung politischer Ansichten
bedürfe es keiner gemeinen Beschimpfungen und keiner Briefkasten-Notizen, in
denen der Redakteur seine Hohngelüste befriedigt; politische Ansichten
vertrete er in Leitartikeln. Auch der zweite Theil der Notiz genüge zu einer
Verurtheilung: Wanzen sind übelriechende, häßliche, blutsaugende Thiere;
damit werden die Juden verglichen, die Aufforderung zur Aushungerung ist ein
ungerechtfertigter Eingriff in die fremde Rechtssphäre. Nicht nur die Juden,
sondern auch mit Juden verwandte und befreundete Kreise, sowie überhaupt
jeder gebildete Christ müsse bei solch gemeinen Angriffen Beunruhigung und
Aergerniß empfinden. Der Staatsanwalt bat, unter Verwerfung der Berufung des
Angeklagten, die des Amtsanwalts zu berücksichtigen und auf 40 Mk.
Geldstrafe zu erkennen. Das Urtheil lautete unter Verwerfung beider
Berufungen auf 20 Mk. und die Hälfte der Kosten der Berufung. Nur der zweite
Theil des Artikels stehe unter Anklage, doch genüge die Gleichstellung der
Juden mit Wanzen um Aergerniß zu geben; das Wort Aushungerung sei als
Verhetzung der Bevölkerung anzusehen.
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