Von Wolfgang Benz
Die jahrhundertelange religiöse und soziale Ausgrenzung im
christlichen Kulturkreis, die mit Unterdrückung und Verfolgung verbundene
Einengung ihres Lebensbereiches haben die Juden - wie auch andere
Kulturgemeinschaften in ähnlicher Situation - dazu gebracht, alte
Traditionen religiöse Bindungen und kulturelle Eigenarten in besonderem Maße
zu pflegen und den Zusammenhalt untereinander zu wahren.
Die Andersartigkeit der jüdischen Geisteswelt ließ sie als fremd und
geheimnisvoll erscheinen. Seit alters her wurden die Juden von der
christlichen Kirche mit dem Antichrist, dem Teufel, in Verbindung gebracht
und ihnen unheimliche, verderbliche Kräfte zugeschrieben.
Der Selbsterhaltungstrieb der in der Diaspora lebenden
jüdischen Gemeinden verstärkte ihr Bestreben, untereinander in enger
Verbindung zu bleiben. Man bekam dadurch den (falschen) Eindruck, alle Juden
auf der Welt bildeten eine große Gemeinschaft, und es entstand die
Vorstellung von einem zusammenhängenden, zentral geleiteten "Weltjudentum".
Nachdem
die Juden in der Konsequenz der Aufklärung und Revolution in West- und
Mitteleuropa die Bürgerrechte erhalten hatten, entstand als Reaktion auf
diese Emanzipation ein moderner, nicht auf religiösen sondern rassistischen
Vorstellungen basierender Antisemitismus, der sich sehr bald die fixe Idee
zu eigen machte die Juden strebten die Weltherrschaft an. Insbesondere
deutsche antisemitische Autoren verstiegen sich zu Horrorgeschichten vom
"Sieg des Judentums über das Germanentum" (Wilhelm Marr 1879) und schrieben
vom "Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum" (Hermann
Ahlwardt 1890).
Großen Auftrieb erhielten diese pseudowissenschaftlichen Wahnvorstellungen,
als zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Schrift mit dem Titel "Die
Protokolle der Weisen von Zion" auftauchte, mit der eine jüdische
"Weltverschwörung" bewiesen werden sollte. Nachdem 1919 die erste deutsche
Übersetzung der "Protokolle" erschienen war, fanden sie in deutschen
antisemitischen Kreisen rasch weite Verbreitung und enthusiastischen
Glauben.
Dieser
Mythos von einer jüdischen Weltverschwörung (jewish conspiracy) war jedoch
nichts anderes als eine moderne, durch soziale Ängste und Ressentiments
genährte Fassung der alten dämonologischen Vorstellungen vom Judentum. Ihm
zufolge gab es eine geheime jüdische Regierung, die ein weltweites Netz
getarnter Agenturen und Organisationen unterhielt mit deren Hilfe sie
politische Parteien und Regierungen, die Presse und die öffentliche Meinung,
die Banken und das Wirtschaftsleben lenkte. Sie verfolgte einen uralten
Plan, über die ganze Welt eine jüdische Herrschaft zu errichten.
Solche Vorstellungen können bei Unkenntnis, Ablehnung und Haß fremdartig
erscheinender Kulturgemeinschaften entstehen, besonders, wenn diese in einer
Diaspora leben. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der in protestantischen
Kreisen entstandenen und verbreiteten Idee einer jesuitischen
Weltverschwörung. Mathilde Ludendorff verband beides in der Propagierung
einer jüdisch-freimaurerischjesuitischen Weltverschwörung.
Die Wahnidee einer jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel der Errichtung
einer jüdischen oder vielfach auch "jüdisch- bolschewistischen"
Weltherrschaft war eines der Hauptargumente des nationalsozialistischen
Antisemitismus und wird in rechtsextremistischen Kreisen vielfach heute noch
vertreten. Obwohl die Fälschung der "Protokolle der Weisen von Zion" längst
erwiesen war, haben Hitler, sein Ideologe Alfred Rosenberg und zahlreiche
andere NS-Größen ihren Inhalt weiterverbreitet und die Behauptung
propagiert, die Juden hätten systematisch an der Vernichtung Deutschlands
und an der Aufrichtung ihrer Weltherrschaft gearbeitet - deshalb müsse man
sie bekämpfen und vernichten. Die nationalsozialistischen Zeitungen, allen
voran der "Völkische Beobachter" und der "Stürmer", brachten tagtäglich
Berichte von angeblichen "Machenschaften Alljudas".
Im Zeitalter des Nationalismus waren nichtstaatliche internationale
Organisationen Verdächtigungen ausgesetzt. Das galt in besonderem Maße für
jüdische Organisationen, die sich- die Staaten übergreifend - im Laufe des
19. Jahrhunderts bildeten. Sie mußten vielfach als Beweismittel für die
These von der "Weltverschwörung" herhalten. So etwa die 1843 in den USA
gegründete Vereinigung Bnai Brith (oder Bne Briss = Bundesbrüder), eine Art
Orden rein humanitären Charakters, dessen als "Logen" bezeichnete Bünde mit
Freimaurerlogen nichts gemeinsam hatten, aber häufig als solche angesehen
wurden. Bnai Brith hatte in Deutschland um 1932 etwa 13.000 Mitglieder, 1970
gehörten ihm weltweit ca. 500.000 Personen an. Noch mehr verdächtigt wurde
die Alliance Israelite Universelle, ein 1860 in Paris gegründeter
internationaler Hilfsverein, der die rechtliche Stellung und das kulturelle
Niveau der Juden in den einzelnen Staaten heben und den Antisemitismus
bekämpfen wollte. Die Alliance unterhielt zahlreiche jüdische Schulen. In
Deutschland entstand 1893 der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens, der die staatsbürgerliche und gesellschaftliche Gleichstellung der
Juden verfocht und eine betont deutsche Gesinnung zeigte. Ihm gehörten 1927
über 70.000 Personen an, 1936 nur noch 40.000.
Sowohl die Alliance wie der Centralverein vertraten die Auffassung, die
Juden bildeten eine Religionsgemeinschaft innerhalb der Nationen, in denen
sie leben, seien aber keine eigene Nation. Demgegenüber betrachtet der
Zionismus die Juden als ein Volk, das ein eigenes Territorium beansprucht.
Die Zionistische Weltorganisation, die 1897 gegründet wurde, hatte 1933
640.000 Mitglieder, 1939 über eine Million (also nur etwas mehr als 6
Prozent aller Juden) und 1946 mehr als zwei Millionen sicherlich eine
Auswirkung der Verfolgungen in Europa. Die Gesamtzahl der Juden auf der Erde
betrug 1938 16,34 Millionen (= 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung). 1954
waren es nur noch 11,68 Millionen, 1964 13.2 Millionen (= 0,41 Prozent). In
Europa lebten 1933 10,3 Millionen Menschen jüdischen Glaubens (2 Prozent der
Gesamtbevölkerung), 1966 nur noch 3,78 Millionen (0,7 Prozent). In
Deutschland waren es 1933 etwa 500.000 (0,78 Prozent), 1939 215.000 (0,31
Prozent), 1989 noch 27.700 (0,045 Prozent).
Helmuth Auerbach
Literatur: Alex Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltprohlems. 2
Bände, Stuttgart 1980; Hermann Greive, Geschichte des modernen
Antisemitismus in Deutschland. Darmstadt 1983; J.F. Oppenheimer (Hrsg.),
Lexikon des Judentums. Gütersloh 1967.
Wolfgang Benz (Hrsg):
Legenden, Lügen, Vorurteile
Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte
dtv Verlag 1992, [BESTELLEN?]