Von Johannes Heil
Auf dem Jüdischen Friedhof in Prag treffen sich einmal in hundert
Jahren zu einer ausgemachten Stunde die Vertreter der zwölf Stämme Israels
und beraten über das mittelfristige Vorgehen auf dem Weg zur gänzlichen
Beherrschung der Welt. Dieses Mal rechnen sie das Kapital zusammen, über das
Israel in London, Paris, Amsterdam und Frankfurt verfügt; sie besprechen,
was zu Verarmung von Handwerk und Bauern, was zur Herabsetzung des Militärs
und was zur weiteren Spaltung der Kirchen und zur Entfaltung des
zersetzenden liberalen Geistes zu tun sei. "Achtzehn Jahrhunderte haben
unseren Feinden gehört - das neue Jahrhundert gehört Israel" - heißt es im
Verlauf der Besprechung. (1)
Das hier ist einige Jahre älter als die sog. "Protokolle der Weisen von
Zion", an die man zuerst beim Stichwort Weltverschwörung denken mag. Diese
Protokolle eines angeblich stattgehabten Treffens stehen im Hintergrund
meines Vortrags. Ich will aber zeigen, dass das Motiv wesentlich älter ist,
Hinweise auf sein Funktionieren geben und auch erklären, warum die
mittlerweile selbst vergilbten Protokolle als Textur heute noch immer
funktionieren, in allerlei Übersetzungen, unter Ladentheken und im Internet.
Natürlich ist der Text, den ich eingangs vorgetragen habe, eine Fiktion,
und der Verfasser hat das auch gar nicht verbergen wollen. Die Szene "Auf
dem Judenkirchhof in Prag" ist Teil eines mehrbändigen und heute kaum mehr
bekannten Romans mit dem Titel "Biarritz", den Herrmann Goedsche = Sir John
Retcliff 1886 veröffentlichte.
Die böse Szene war deutlich als Fiktion gekennzeichnet, aber war sie
deswegen irreal? Merkwürdig stimmt, daß ihr ein Interesse zuteil wurde, das
Romanen sonst selten widerfährt. Der Text kursierte bald als Separatdruck
und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Offenbar korrespondierte
Goedsches Fiktion mit einem Wissen von der Realität, in der der Roman zur
Realmetapher werden konnte und als erfundener Stoff etwas über Wirklichkeit
erzählte.
Um solch imaginierte Wirklichkeit soll es im folgenden gehen.
Wir können mit gutem Recht solche Vorstellungen als Phantasmen abtun; das
hilft aber wenig, wenn man sie verstehen will. Für die, die sie denken, sind
sie Wirklichkeit, ganz gleich, ob sie als Roman, als "Protokolle" oder als
Nachrichtenmeldung daherkommen. Zum Verständnis will ich einen Sprung um
mehrere Jahrhunderte zurück unternehmen, ins England des 12. Jahrhunderts.
Nach Thomas von Monmouth berichtete ein Jude, der sich bekehrt hatte und
in den Mönchsstand eingetreten war, von jährlichen Treffen der "Fürsten und
Rabbiner" der Juden aus Spanien in Narbonne, der Stadt, "wo ihr königlicher
Same und ihr Ruhm am meisten gelten." Ziel des Treffens sei "wie von alters
her bestimmt die Verhöhnung und Schmähung Christi." Und weil sie "ohne
menschliches Blut weder Freiheit erlangen noch dereinst in das Land ihrer
Väter zurückkehren können", bestimmen sie bei ihrem Konzil in Narbonne das
Ritualmordopfer des kommenden Jahres, indem "sie jede Landschaft, in der
Juden leben, auf einem Los notieren" und dann das Los über die Region
bestimmen lassen, aus der das jeweilige Opfer kommen sollte. (2)
Tatsächlich handelt es sich hier um die Vorstellung von einer weltweiten,
jedes Jahr eine andere Region betreffenden Verschwörung. Damit ähnelt, was
der fromme Kirchenmann des 12. Jahrhunderts wußte, der Fiktion in Goedsches
600 Jahre jüngeren Roman. Goedsche bereitet also nur altes Wissen neu auf,
und dabei ist es sogar einerlei, ob er sich dessen bewußt war: Ob er (was zu
bezweifeln ist) Texte nach Art des englischen Thomas kannte oder ob er
seinen Entwurf tatsächlich für originell hielt.
Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten sind auffällig, ebenso, wenn
man genauer hinschaut, auch die Differenzen. Thomas von Monmouth's Text
zeigt, daß die mittelalterliche Version der Weltverschwörung über Legenden
vom rituellen Mord (Passions-Imitation), von der Hostienschändung und vom
Giftanschlag transportiert wurde. Bei Goedsche geht es nicht mehr um
Heiliges und auch nicht um Gift, sondern um Einfluß und Geld. Beiden geht es
aber um Macht und ihre Gewinnung – an diesem Punkt wird die Kontinuität
zwischen altem und neuem Verschwörungsdenken fassbar, und eben auch das
Alter dieser Vorstellung.
Das nämlich scheinen mir die jene, die sich mit
Verschwörungsvorstellungen im 20. und 21. Jahrhundert befassen, zu wenig zu
beachten. Die sog. "Protokolle der Weisen von Zion" ziehen alle
Aufmerksamkeit der Forschung auf sich, weil sie, wiewohl selbst längst
Geschichte geworden und als ziemlich plumpe Fälschung entlarvt, auch heute
gelesen und geglaubt werden. Und sie werden, mit neuen Eckdaten versehen,
fortgeschrieben. Das heißt dann "Zionismus" oder auch "Globalisierung". Die
dahinterstehende Vorstellung ist mit den "Protokollen" aber nicht erst
geboren worden, und die vermeintliche "Idealform" moderner Judenfeindschaft
ist tatsächlich ein alter Hut.
Betrachten wir, um das Funktionieren von Verschwörungsvorstellungen und
ihre Attraktivität zu verstehen, zunächst aber weiter die "Protokolle",
ursprünglich ein Produkt der zaristischen Geheimpolizei, und das Umfeld, in
dem sie in Deutschland rezipiert wurden. Die Niederlage Deutschlands von
1918 provozierte bekanntermaßen Fragen nach Verantwortlichkeiten und
Schuldigen. Man meinte, daß "etwas" nicht mit rechten Dingen
zugegangen sei. Dieses "Etwas" galt es einzugrenzen. Die Aussage "im Felde
ungeschlagen" provozierte im nächsten Schritt die Frage, wer dem Heer den
entscheidenden Schlag versetzt habe. War es nicht der Gegner im offenen
Kampf, dann blieb nur der unsichtbare, innere Gegner übrig.
Die in Bromberg erscheinende völkische "Ostdeutsche Rundschau"
analysierte am 25. Juni 1919 geradezu archetypisch: "Die Juden haben unseren
Siegeslauf gehemmt und uns um die Früchte unserer Siege betrogen. Die Juden
haben die Axt an die Throne gelegt und die monarchische Verfassung in Stücke
geschlagen. Die Juden haben die innere Front und dadurch auch die äußere
zermürbt. Die Juden haben unseren Mittelstand zermürbt, den Wucher wie eine
Pest verbreitet, die Städte gegen das Land, die Arbeiter gegen den Staat und
[das] Vaterland aufgehetzt. Die Juden haben uns die Revolution gebracht, und
wenn wir jetzt nach dem verlorenen Krieg auch noch den Frieden verlieren, so
hat Juda sein gerüttelt Maß von Schuld." Die "Protokolle", eben in diesen
Jahren in deutscher Übersetzung erschienen, fielen also auf einen schon
vorbereiteten Boden.
Woher aber wußte die Bromberger Zeitung, was sie wußte? Anders gefragt:
Warum kam man, als in England 1144 eine Kinderleiche gefunden wurde, auf die
Idee, daß das etwas mit einem Treffen von Juden in Narbonne zu tun haben
müßte? Beiden Narrativen ist gemeinsam, daß sie in erklärungsbedürftigen
Situationen Erklärungen anboten, die die Ursache des zu Erklärenden nach
außen verlegten. Die Verschwörungsvorstellung dient also der Füllung von
Wissens- und Erklärungslücken. Eigentlich Unzusammenhängendes oder
Unerklärliches wird durch sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt. Die
irritierende Perfektion des Anschlags auf das WTC im September 2001 gibt
dann den Hinweis auf die eigentlichen Hintermänner, den israelischen Mossad,
der doch alleine in der Lage ist, solch komplizierte Aktionen auszuführen.
Damit ist eine wesentliche Bedingung der Verschwörungsvorstellung
beschrieben: sie darf nicht phantastisch, sondern muß plausibel sein; sie
hebt Widersprüche auf, die andere Erklärungen nicht ausräumen können. Sie
erscheint also herkömmlichen Erklärungen in ihrer Stringenz überlegen. Zu
den Erfolgsbedingungen der Verschwörungsthese zählt weiters, daß sie
hinsichtlich ihrer Zielbeschreibung stimmig und erkenntnismehrend sein muß.
Die Geschichte von der Rabbinerversammlung in Narbonne kann nur überzeugen,
wenn sie mit einem plausiblen Ziel ausgestattet wird; hier ist es der Bedarf
der Juden an christlichem Blut als Voraussetzung zur Heimkehr in ihr Land
(das klingt phantastisch, ist aber im Zeithorizont betrachtet plausibel).
Die Mossad-Variante zur WTC-Attacke überzeugt, weil sich ein plausibles
Ziel erkennen läßt: Die Juden haben die angeblichen arabischen Täter
entführt, um die arabische Welt mit der angeblichen Tat zu diskreditieren
und weiter zu demütigen.
So verhielt es sich auch mit dem Ausbruch der Vogelgrippe in Anatolien im
vergangenen Winter. Sie sollte ein europäisch-amerikanischer Sabotageakt
gewesen sein, um das Engagement der Türkei im Nahen Osten zu behindern und
die Öffentlichkeit auf innere Angelegenheiten zu lenken (FAZ 16.1. 06). Und
auch der jugoslawische Volksheld Slobodan Milosevic ist in Den Haag ermordet
wurden – so wenigstens weiß es Jürgen Elsässer, der für die "Junge Welt"
arbeitet (Der Spiegel, 10. 7. 06).
Die Weltverschwörungsvorstellung von 1919 überzeugte, weil damit das
Geschehen in einen größeren, geradezu kosmischen Zusammenhang eingeordnet
werden konnte: Die Niederlage Deutschlands erschien so gerade einmal als ein
Element unter vielen anderen; die jüdische Weltverschwörung war die Klammer
zwischen eigentlich unvereinbaren, aber gleichzeitigen Phänomenen: dem Sturz
der Monarchien, dem Erstarken der Arbeiterbewegung, der Ausbreitung des
Kapitalismus, etc.
Bis hier habe ich an alten und neuen Beispielen etwas über das
Funktionieren der Verschwörungserzählung gesagt; nun will ich mich mit ihrer
Entstehung befassen. Dazu gehe ich zeitlich wieder ein großes Stück zurück.
Der Chronist Ademar von Chabannes liefert den Bericht von einem
Karfreitag um das Jahr 1018: Nach der Kreuzverehrung, also zum Höhepunkt der
Karfreitagsliturgie, erbebte in Rom die Erde und erhob sich ein kräftiger
Sturm, denn die Juden verspotteten zur selben Stunde in ihrer Synagoge die
"Figur des Gekreuzigten." Der Papst, Benedikt VIII., schritt unverzüglich
ein und ließ die Schuldigen enthaupten, woraufhin der Sturm sich legte. (3)
Daß das Geschehen in seinem geschilderten Ablauf kaum Zeit hatte, sich
abzuspielen, muß hier nicht interessieren.
In erzählerischer Hinsicht berichtet Ademar den Verlauf eines angeblichen
Geschehens, der Form nach bietet er eine Mirakelerzählung: das römische
Karfreitagsgeschehen sollte als typisches Geschehen erscheinen, das die
gegebene Heilskonkurrenz abbildete und die Überlegenheit der christlichen
Seite in Szene setzte.
Effektsteigernd erscheint die Wahl des Zeitpunkts, der Karfreitag, der
als Moment besonders drastischer Aktualisierung jüdischer
Christenfeindlichkeit auch in den (allerdings erst einige Jahrzehnte später
aufkommenden) Erzählungen vom jüdischen Ritualmord wieder begegnet. Das
Handeln der Juden zielt mit dem Angriff auf das Kreuz ganz direkt in das
Zentrum der sakralen Sphäre des Christentums.
Dabei schrieb Ademar dem Handeln der Juden eine ausgesprochen hohe
Wirksamkeit und eine gefährliche, jedoch nicht diesseitige, sondern
übernatürliche und dämonengleiche Kraft zu: auf ihr Handeln hin erbebte die
Erde, der Dramatik nach eine Antwort Gottes auf die Verhöhnung des Kreuzes,
der Sache nach eine kosmische Reaktion auf menschliches Handeln in der Welt.
Die Tat der Juden gehörte für Ademar demnach in einen weiteren, höheren
und letztlich transzendenten Zusammenhang, in dem die Juden als Mächte
gleichsam "nicht von dieser Welt" auftraten. Sie wurden nicht als soziale
Gruppe, sondern als gewichtige (negative) heilsgeschichtliche Größe
wahrgenommen.
Wird schließlich - und hier erweist sich der grausame Bericht geradezu
als Parabel - die Ursache des Geschehens abgestellt, so legen sich
folgerichtig Sturm und Erdbeben wieder. Das Geschehen in Ademars Version ist
noch ganz am Himmel aufgehängt, aber – und dies ist bemerkenswert – es wird
durch das Handeln in der Welt aufgehalten.
Es handelt sich hier aber nicht um ein Geschehen in der Welt, bei dem die
Juden, wie später auf dem Prager Friedhof oder anläßlich der protokollierten
Versammlung der Weisen von Zion, auf eigene Fast und Rechnung agieren. Die
Juden sind hier teil eines gottbestimmten, heilsgeschichtlichen Geschehens;
dort freilich spielen sie eine wenigstens für moderne Ohren erschreckend
negativ gezeichnete Rolle.
Das war aber (fast) der Normalfall. Was in den biblischen Schriften nur
bedingt angelegt war (Dan., 2. Thess, 2. Joh., Apk), wurde seit dem 7.
Jahrhundert von griechischen und lateinischen Autoren zu einem Gesamtbild
zusammengefügt: Zu einer "Vita Antichristi", der sich im Tempel niederlassen
und beschneiden lassen würde und dem die Juden als vermeintlichem Messias
zuströmen würden.(4) Die danach vielfältig belegte
Zuordnung der Juden zum endzeitlichen Geschehen und zum Wirken des
Antichristen kann als Verschwörungsszenarium par excellence, zumal von
kosmischer Dimension, verstanden werden.
Das erinnert in manchem an moderne Vorstellungen, nur bezeichnen Endzeit
und Antichrist hier eine kosmisch-sakrale Komponente, die in modernen
Versionen weitgehend verloren gegangen ist. Man sollte dann annehmen, dieses
Charakteristikum sei mit der allmählichen Entzauberung der Welt in der
Moderne verloren gegangen. Denn Endzeit- und Antichristangst haben sich ja
irgendwo auf dem langen Weg in die Moderne erledigt. Die Gruppen, die sich
ihnen noch heute hingegeben, weisen schon mit ihren Namen auf
Randständigkeit hin.
Dann hätte sich auch die mittelalterliche Verschwörungsversion erledigt
haben müssen. Das aber hat sie nicht, wie das Vorkommen der Juden in fast
allen modernen Versionen von der Weltverschwörung belegt. Tatsächlich
begegnen die Archetypen der modernen Verschwörungsvorstellung besonders in
den uns so fernen und so erbarmungslos mittelalterlichen Geschichten. Nicht
nur bei Ademar, sondern in vielfach kopierten und adaptierten Geschichten
wie jenen vom rituellen Mord (zur Imitation der Passion Christi) oder der
Schändung der Hostie (zur Prüfung bzw. Tötung des sakramentalen Körpers).
Die Legende vom Ritualmord trat als geschlossenes Narrativ zum ersten Mal
in der Vita des Hl. Wilhelm von Norwich in Erscheinung, die Thomas von
Monmouth bald nach dem fraglichen Ereignis (1144) verfaßte, und verbreitete
sich danach rasch, wenngleich als zunächst dünne Spur, von England aus über
den Kontinent. Der Überlieferung nach wurde der Leichnam des Norwicher
Jungen am Karfreitag des Jahres 1144 in einem Wald nahe der Stadt entdeckt,
für seinen Tod wurden die Juden vor Ort verantwortlich gemacht, die ihn
nämlich, wie von langer Hand geplant, zur Verspottung Christi gekreuzigt
haben sollen.(5)
Die Hostienschändungsfabel trat in antijüdischer Form erstmals in
Frankreich 1290 auf, sie hat sich dann geradezu epidemisch verbreitet und
schon in den Jahren 1298 ff. im Süden und Südwesten Deutschlands zu einer
Pogromwelle, bis ins Elsaß hinein geführt.(6)
1348/49, als die Pest sich über fast ganz Europa ausbreitete, trat dann
die Legende vergifteter
Brunnen hinzu (die Chronisten und andere Beobachter nicht glaubten, dafür
aber die handelnden Behörden vor Ort). Diese Geschichten sind danach immer
wieder erzählt worden, mit Konjunkturen im späten 13. und 14. Jahrhundert,
dann wieder während der Reformationszeit. Im Zeitalter der Glaubensspaltung
wurden sie zu einem Instrument wechselseitiger Inkriminierung – da sollte
die jeweils andere Seite ein Werkzeug der Juden oder gar nicht schlimmer als
diese sein.
Der Skandal der "Protokolle" und des Glaubens an ihre Echtheit reicht
also wenigstens ins hohe Mittelalter zurück. Dabei wird allerdings
übersehen, dass die Erzähltypen, die die Idee von der Verschwörung
transportierten, im Ursprung gar nicht mit Juden zu tun hatten.
Die Verwendung des Pulvers aus den Körpern getöteter Knaben zu
magisch-rituellen, d.h. aber auch eucharistieähnlichen Zwecken, spielte
schon in den frühesten Darstellungen von angeblichen Praktiken der Häretiker
eine Rolle. Nach Guibert von Nogent (gest. ~1124) warf die
Häretiker-Gemeinde durch das Feuer "einen Knaben von Hand zu Hand, bis er
getötet war. Darauf machte man [seinen Köper] zu Asche und bereitete daraus
Brote, wovon ein jeder dann seinen Anteil zur Eucharistie erhielt, [und
worauf] nach dem Verzehr kaum einmal einer aus dieser Häresie wieder zur
Besinnung kam."(7)
Das gilt auch von den gegenüber den ersten antijüdischen
Hostienfrevellegenden (1213/1290) älteren Beispiele wie Augsburg
(1199/1200), Doberan (1201) und Schwerin (1222). Die ersten
"Hostienschänder" der Vorstellungswelt waren Christen, nicht Juden. Das
"Mirakel von dem heiligen Blute zu Doberan" handelt von einem Hirten, der
1201(?) die Hostie unterschlug und sie in "einfältiglicher Gebärde" seinem
Hirtenstab zur Abwendung von Schaden an seiner Herde inserierte (Ernst von
Kirchberg).(8)
Und auch das Gift, mit dem die Juden in den Pestjahren 1348/49 umgegangen
sein sollen, kommt zunächst abseits antijüdischer Vorstellungen vor, nämlich
wenige Jahre zuvor, 1321, als die Leprakranken sich mit dem Gift zur
Ermordung der Gesunden aufgemacht haben sollen.(9)
Nicht nur hinsichtlich der metaphysisch-sakralen Komponente, sondern auch,
was ihr Herkommen angeht, hat sich die Legende von der Weltverschwörung über
die Jahrhunderte hinweg also weit stärker gewandelt, als es der anfänglich
gebotene Vergleich zwischen Goedsches Roman und Thomas von Monmouth auf den
ersten Blick erkennen läßt.
Die moderne Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung kennt keinen
Antichristen und auch keinen ihn bremsenden Gott mehr, dort sind die Juden
selbst Herren des Geschehens und bestimmen ihre Ziele selbst. Wir haben es
hier mit einem Prozeß von Säkularisierung zu tun, bei dem die metaphysischen
Figuren allmählich verschwinden und ihre Stelle die Kommunistische
Internationale, die Börse, die UNO, die Weltbank oder der Mossad treten.
Genau dieser Wandel allerdings hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt
nicht erst da, wo wir die Säkularisierungsprozesse für gewöhnlich ansiedeln,
im 17. und 18. Jahrhundert, und auch nicht erst mit der Reformation.
Letztere hat jenen Prozeß befördert, denn in der Polemik zwischen den
Konfessionen nutzten sich die zunehmend zum Instrument der gesetzten Polemik
verkommenen mittelalterlichen Deutungsmuster rasch ab.
Im 17. Jahrhundert waren Teufel und Antichrist zu
publizistisch-literarischen Stilfiguren geworden, die den Romantikern noch
einen schönen Schauer, aber keine existentielle Sorge mehr bereiteten.
Es waren aber nicht die sonst so gerne zitierten Aufklärer, die die Figur
des Antichristen ideell demontierten. Um wieviel früher jener
Säkularisierungsprozeß ansetzte, will ich an einem letzten Beispiel
illustrieren; es ist ein Ausschnitt aus einem städtischen
Untersuchungsprotokoll während er Pestwelle und -hysterie von 1348. Als man
nahe Freiburg die Juden zum Bekenntnis brachte, daß sie "hätten vergiftet
all die Brunnen, die zu Kenzingen sind", kam gleich ein ganzes Bündel von
Vergehen ans Tageslicht. Da wird vom Geständnis des Juden Jacob berichtet:
dieser habe in früheren Jahren zwei christliche Jungen "geschächtet", einen
in Tübingen und einen in München. Ein anderer sollte in Straßburg ein Kind
von einem Jahr "verderbet" haben. Das war keineswegs alles: auch das
Sauerkraut sollen die Juden damals vergiftet, den Wein in der Kelter
"beschissen" und dergleichen mit dem Graben gemacht haben, so daß
schließlich auch die Fische und Frösche eingingen.
Hier erschien die Behauptung des Ritualmords gerade einmal als ein
Element unter vielen und wohl als Spiegel dessen, was Untersuchungsbehörden
erwarteten, wenn sie verdächtige Juden vor sich hatten.
Man könnte den Kenzinger Untersuchungsbericht nach im traditionellen
Rahmen lesen: die Juden, so ließe sich folgern, vergehen sich an Mensch und
Tier, an der ganzen Schöpfung also; das Gift erschien dabei nicht mehr nur
als Instrument in ihren Händen, sondern als Ausfluß ihres Wesens.(10)
Gerade in der weiten, umfassenden Erstreckung der Taten mag man noch das
traditionelle Motiv der jüdischen Rebellion gegen Gott gezeichnet erkennen.
Gleichwohl: ein Gott kommt im Kenzinger Protokoll nicht vor. Er ist hier und
in anderen Quellen nach dem vielen Wiedererzählen der immerselben alten
Geschichten einfach verloren gegangen; die Geschichten haben sich durch
stete Repetition und immer stärkere Verkürzung aus sich heraus
säkularisiert. So blieb die Gegnerschaft der Juden in Kenzingen ganz auf die
Welt bezogen; in ihr wollten die Juden nach dem Befund der Ermittler jeden
Schaden anrichten, der sich nur irgend vollbringen ließ.
Kommen wir zur Moderne zurück: Im Unterschied zum planmäßigen Ende der
Geschichte, wie es das Mittelalter vorsah und wo selbst der tumultarische
Ablauf noch Gottes Plan und Ordnung folgte, erwarten neuzeitliche Phantasmen
von jüdischer Weltverschwörung und – beherrschung einen dauernden Triumph
der Juden und die ewige Verknechtung der überwundenen Gesellschaften. Die
Juden, als Feinde nun weitgehend alleine auftretend und um so wirkmächtiger
agierend, bindet kein Antichrist mehr, dessen Rolle per se auf den eigenen
Untergang und das Mitreißen seiner Helfer ausgelegt wäre.
Das Handeln der Juden birgt also nichts mehr, was den Nichtjuden in
letzter Konsequenz zu Vorteil, Heil und Vollendung gereichen könnte.
Jüdisches Handeln ist auch im Ergebnis ganz auf den eigenen Vorteil und
tatsächlich zum Schaden aller anderen ausgelegt. Es hat auch nichts
Irrtümliches mehr, dessen Erkenntnis die Juden zur Umkehr bewegen könnte;
sie werden – um an die Prager Friedhofsszene vom Eingang anzuknüpfen und –
die Herrschaft tatsächlich übernehmen.
Das moderne Verschwörungsdenken ist deshalb strukturell nicht einfach
un-apokalyptisch. Es verlangt, gerade nachdem der Antichrist ausgefallen und
seine Rolle gestrichen ist, um so dringender nach der Figur des Salvators.
Sie ist zwar nicht mehr religiös konzipiert, wird aber faktisch um so
entscheidender: Der Anbruch der himmel- und höllenlosen Endzeit, der nun
dauerhafte Zustand der Verknechtung (dem Wesen nach eine säkularisierte
Hölle), läßt sich in der Vorstellung jener, die die Verschwörung entdeckt
haben, nun tatsächlich aufhalten, sofern der oder die Erlöser unmittelbar
und nachhaltig in die Entwicklung eingreifen.
Geschieht dies nicht, ist das Ende zwangsläufig und vor allem wesentlich
irreversibel. Dem säkularisierten Verschwörungsdenken fehlt jede tröstende
Hoffnung auf die Remedur des Himmels. Die Juden spielen im Weltverständnis
der modernen Judenfeinde nicht mehr die für das mittelalterliche Verständnis
so typische Rolle eines notwendigen heilsgeschichtlichen Widerparts, sondern
treten als unbedingte Feinde in Erscheinung. Sie sind nicht mehr Statisten,
sondern die Hauptakteure und Regisseure des Dramas zugleich.(11)
Was vormoderne und moderne Verschwörungsvorstellungen verbindet, sind die
äußeren Strukturen des Denkens, die ich abschließend knapp skizzieren will.
a) die Vorstellung von Geheimnissen, die die Juden untereinander hegen
(Sprache, Codes)
b) die Angst vor jüdischer Kommunikation und Organisation
c) das Wirken einer wissenden, planenden Elite
d) die Vorstellung von feindseliger Versammlung (Synode, Börse, Uno ...)
e) die Annahme von Partnern/Agenten der Juden im konspirativen Handeln zur
Beschaffung von Körpern, Gift und Hostien). Dieses Moment ist im modernen
Verschwörungsdenken allerdings auf ein Minimum reduziert
(jüdisch-freimaurerische oder die jüdischbolschewistische,
jüdisch-amerikanische => "Juden" = "Freimaurer" = "Bolschewisten" = "Westen"
= "der Islam" ....
Anmerkungen:
(1) Vgl. SIR JOHN Retcliffe [alias Hermann Goedsche],
Biarritz. Historisch-politischer Roman in acht Bänden, Bd. 1, Berlin 1905,
S. 130ff.
(2) THOMAS VON MONMOUTH, The Life and Miracles of St.
William of Norwich, hg. Augustus Jessopp, Cambridge 1896), II.11, S. 93f.
(3) ADEMAR VON CHABANNES, Chronicon, hg. P. Bourgain, =
Ademari Cabannensis opera omnia, Bd. 1 (Corpus Christianorum Cont. Med.;
129), Turnhout 1999, S. 171; vgl. Richard LANDES, Relics, Apocalypse, and
the Deceits of History: Ademar of Chabannes (Harvard Hist. Studies; 117),
Cambridge/Mass. 1995.
(4) Vgl. AndrewColinGOW, The Red Jews. Antisemitism in an
Apocalyptic Age 1200-1600 (Studies in Medieval and Reformation Thought; 55),
Leiden/New York/Köln 1995
(5) Vgl. Rainer ERB (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur
Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden (Dokumente, Texte, Materialien;
6), Berlin 1993.
(6) Miri RUBIN, Gentile Tales. The Narrative Assault on
Late Medieval Jews, New Haven/London 1999.
(7) Vgl. GUIBERT DE NOGENT, De vita sua, III.17, in:
Migne, Patrologia Latina, Bd. 156, cols. 951B-D.
(8) ERNST VON KIRCHBERG, Mecklenburgische Reimchronik,
i.A. der Historischen Kommission für Mecklenburg und in Verbindung mit dem
Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin hg. Christa Cordshagen et al.,
Köln etc.1997.
(9) František GRAUS, Pest - Geissler - Judenmorde. Das 14.
Jahrhundert als Krisenzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für
Geschichte; 86), Göttingen 1987.
(10) Vgl. URKUNDEN und Akten der Stadt STRASSBURG, hg.
mit Unterstützung der Landes- und Stadtverwaltung, 1. Abt.: Urkundenbuch der
Stadt Strassburg, Bde. 5, Straßburg 1896, Nr. 188, S. 177.
(11) Vgl. zum Thema insg. Johannes HEIL, Gottesfeinde -
Menschenfeinde. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13.-16.
Jh.). Herkommen - Kontext - Funktion – Wirkung (Antisemitismus: Geschichte
und Strukturen; Bd. 3), Essen 2006.