[Das
Wesen des Antisemitismus]
Von Graf Heinrich Coudenhove-Kalergi (1859,
Wien - 1906, Poběžovice)
Zweites Kapitel:
Antijudaismus im Altertum
pp 142 in der 1.Auflage von R.N. Coudenhove-Kalergis
1935 herausgegebenem Buch "Judenhass - Antisemitismus".
3. Religiöse Wurzel der hellenistischen
Judenverfolgung
Aus dem Gesagten geht hervor, dass diese
langwierigen blutigen Kriege keinen anderen Grund hatten als die
Religion, dass also der Antisemitismus schon in seiner Wiege den Stempel
des religiösen Fanatismus an sich trug; eine Wahrheit, auf die ich meine
verehrten antisemitischen Gegner ganz besonders aufmerksam zu machen mir
erlaube, mit der höflichen Bitte, dies zu widerlegen, wenn sie es
können.
Renan hat bei seiner Beschreibung der Verfolgung zur
Zeit der Seleukidenherrschaft den wahrhaft genialen Gedanken
niedergeschrieben: "Das, was der Fanatiker am meisten hasst, ist die
Freiheit; es ist ihm bedeutend lieber, ein Verfolgter, als ein
Geduldeter zu sein, das, was er will, ist das Recht, andere verfolgen zu
dürfen."
Es ist dies die notwendige Folge der monotheistischen
Lehre, dass Gott nur auf eine einzige Art verehrt werden will und darf;
dass alle anderen Götter, außer der Einzige, "Nichtigkeiten", Habalim
sind, wie der hebräische Ausdruck lautet, respektive Dämonen, wie die
Christen diesen Ausdruck übersetzen*). Ist aber jeder Kult eines anderen
Gottes Gotteslästerung und Teufelsdienst, so ist es selbstverständlich,
dass er vernichtet und zerstört werden muss und dass es ein
gottgefälliges Werk ist, an dieser Zerstörung zu arbeiten. Verliert man
nun bei Ausübung dieses gottgefälligen Werkes sein Leben, so ist ewige
Seligkeit und endlose Glorie der zu erwartende Lohn. Der Monotheismus,
die Lehre von der ausschließlichen Seligmachung und der Sträflichkeit
des Irrtums sind notwendigerweise Feinde der religiösen Freiheit und
Toleranz. Ihr Gegensatz ist der Glaube, dass alle Gebete der Menschen,
an was immer für ein übernatürliches Wesen gerichtet, ganz von selbst
nur an eine einzige Adresse gelangen können, wie verschieden auch die
Wege und Kanäle sind, die zu ihm führen — nämlich an den einzigen Gott,
das Zentrum des "Weltalls.
*) Vergleiche das interessante Werk "Wunder und Scheinwunder" von J.
von Bonuiot S. J. (Mainz 1889), worin der Beweis versucht wird, dass
sämtliche Götter des Heidentums wirkliche Dämonen waren.
Außer dem Worte Nichtigkeiten hatten die Juden noch andere
liebenswürdige Bezeichnungen für die Götter der Fremden, als da sind:
Scheusal, Lüge, Unrecht, Nichtgott usw.
Ob man sich durch derartige Bezeichnungen der Objekte der Verehrung
seiner Nachbarn beliebt macht, möge der geehrte Leser selbst beurteilen.
Wenn damals mit dem Götzendienst Grausamkeit und Unzucht verbunden war,
woran nicht zu zweifeln ist, so hätte genügt, diese Ausartungen zu
bekämpfen.
Dem Hasmonäer Jonathan war es gelungen, im Jahre 143
v. Chr. den jüdischen Staat wieder autonom zu machen. Diese
Regierungsform war außerordentlich intolerant und grausam, religiöse
Streitigkeiten und damit verbundene Blutbäder an der Tagesordnung. Die
Unzufriedenheit, Streitsucht und Intoleranz der Juden Palästinas
erstreckte sich auch auf die Juden Alexandriens. Sie waren bei allen
Völkern maßlos verhasst. Schon im Jahre 110 v. Chr. warf Apollonius
Molon den Juden ihre Verachtung für alle anderen Religionen, ihre
Ungeselligkeit, ihren Mangel an Ehrfurcht gegen die Götter vor. Es
entstand unter den Heiden eine eigene jüdische Geschichte, unter andern
das große Geschichtswerk von Posidonius, in welchem der Hass der
Griechen die unsinnigsten Verleumdungen gegen die Juden niederschrieb,
welche von den späteren heidnischen Schriftstellern gerne geglaubt und
wiederholt wurden.
Die Geschichte der Hasmonäer bis zur herodianischen
Zeit ist eine ununterbrochene Reihenfolge von Intrigen und Verbrechen
aller Art. Sadduzäer und Pharisäer befehdeten sich aufs äußerste. Janeus
zeichnete sich durch besondere Grausamkeit aus. Während des
Bürgerkrieges im Jahre 87 belagerte er die Aufständischen in einer
kleinen Stadt namens Bethome, zwang sie zur Übergabe und führte die
Gefangenen nach Jerusalem. Dort liess er 800 von ihnen kreuzigen und
ließ während ihres langwierigen Todeskampfes die Weiber und Kinder der
Unglücklichen in ihrer Gegenwart hinschlachten, während er gleichzeitig
mit seinen Mätressen ein Festmahl gab und sich dabei an den Leiden
dieser unglücklichen Opfer weidete.
Und was war denn die Veranlassung zu dieser unerhörten
Infamie? Wieder ein Skandal religiöser Natur! Als Janeus zirka 95 v.
Chr. als Hohepriester beim Laubhüttenfest pontifizierte, inszenierte das
Volk, von den Pharisäern aufgestachelt, einen Riesenskandal. Gerade im
Augenblick, als Janeus die Stufen des Altars hinaufschritt, erscholl von
allen Seiten der Ruf, er sei nach den Bestimmungen der Thora des
Pontifikates unwürdig, weil von einem Sklaven abstammend. Zitronen
fliegen dem Ehrenmann auf den Schädel. Tableau! Rauferei, Massaker, 6000
Anhänger der Pharisäer bleiben auf dem Tempelpflaster; Bürgerkrieg,
dessen Hauptskandal ich eben angeführt habe. So geht es fort, bis die
Römer Ordnung machen. Bei diesen ewigen Kämpfen, Kriegen und
Bürgerkriegen handelte es sich immer bloß um die Bekämpfung des
Hellenismus durch einen engherzigen Judaismus aus religiösen Gründen.
Ganze Städte wurden vernichtet, blühende Länderstrecken zu Wüsten
gemacht; die Juden wollten keinen Verkehr mit den Unbeschnittenen. Unter
Alexandra herrschten die Pharisäer, und die Sadduzäer wurden aus allen
Stellungen verdrängt. In was bestand aber dieser Gegensatz zwischen
Pharisäern und Sadduzäern, dessen Betätigung ganz Palästina mit Blut
getränkt hat und auf welchen schließlich feilweise der grosse Purzelbaum
des jüdischen Staates zurückzuführen ist. Nun, dieser Gegensatz beruhte
wieder auf Religion.
Die Pharisäer sind die streng gesetzlichen, die
orthodoxen Vertreter des Judentums, sie sind die Repräsentanten jenes
Wesens, das Israel angenommen hat seit der Rückkehr aus Babylon, das
Produkt des Werkes des Esra. Alle bedeutenden Schriftgelehrten waren
Pharisäer. Sie glaubten an ein mündliches Gesetz, außer dem schriftlich
fixierten an eine Überlieferung der Väter. Aus ihrem Schoße ist der
Rabbinismus und der Talmud hervorgegangen. Sie stellen die Tradition
sogar höher als die Schrift, was anderswo auch vorkommen soll. "Es ist
sündhafter, gegen die Verordnungen der Schriftgelehrten zu lehren, als
gegen die Thora selbst", lautete einer ihrer Grundsätze. Sie glaubten an
die Unvergänglichkeit der Seele, an die Auferstehung und eine Strafe im
Jenseits, an Engel und Geister und an ein von Gott verhängtes und
geleitetes Fatum, das jedoch die Willensfreiheit nur beschränkt, aber
nicht aufhebt. In der Politik wollen die Pharisäer, dass politische
Fragen nicht vom politischen, sondern vom religiösen Standpunkte aus
behandelt werden! Sie waren eigentlich keine politische Partei, sie
wurden nur dann "politisch", wenn die Obrigkeit etwas von ihnen
verlangte, wodurch die orthodoxe Befolgung des Gesetzes verhindert
wurde; sonst war ihnen die Politik außerordentlich gleichgültig. Aus
religiösen Motiven allein hat zweimal die pharisäische Partei dem
Herodes den Eid der Treue verweigert. Sie waren eine ecclesiola in
ecclesia, sie nannten sich hebräisch Peruschim, aramäisch Perischin,
woraus das griechische Pharisaioi entstanden ist; das bedeutet die
Abgesonderten; abgesondert von aller Unreinheit, das heißt von allen
Nicht-Juden, von den unreinen Heiden, aber auch von allen jenen, welche
die Reinheitsgesetze nicht pünktlich beobachteten, das heißt vom
jüdischen Volke des Landes (Am haArez), ein Wort, das Judenfeinde häufig
rundweg mit Christen (!) übersetzt haben. Sie fallen mit dem Begriffe
Chassidim der Makkabäer zusammen. Die Makkabäer waren solche Chassidim
(Fromme). Ihre Nachfolger blieben jedoch der Partei nicht immer treu,
denn als Herrscher hatten sie die Aufgabe zu regieren, und gerade das
schien ihnen nach pharisäischem System unmöglich. So kam es unter Hyrkan
zum Bruch. Anfangs hatte er noch zu den Pharisäern gehalten, später
wandte er sich den Sadduzäern zu; so wurden die Pharisäer Gegner der
hasmonäischen Fürsten, behielten aber doch das Volk auf ihrer Seite. Sie
erfreuten sich eines bedeutenden Einflusses auf alle Gemeinden, so dass
alle gottesdienstlichen Handlungen sich nach ihren Anordnungen richten
mussten.
Dadurch waren aber auch die Sadduzäer gezwungen, in
ihrer amtlichen Tätigkeit die Wünsche der Pharisäer zu berücksichtigen,
da diese sonst das Volk gegen sie aufgehetzt haben würden.
Die Sadduzäer stellten die Aristokratie, die
Aufgeklärten und die Wohlhabenden vor. Ihnen gehörten die
hohepriesterlichen Familien an, sowie die vornehmen Priester; sie
leiteten ihre Abstammung von Zadok ab, dessen Nachkommen seit Salomo den
priesterlichen Dienst in Jerusalem versahen. Die Sadduzäer leugneten die
Unsterblichkeit, sie hielten nur die Heilige Schrift für verbindlich,
nicht aber die Tradition, widersprachen somit der pharisäischen Lehre.
Sie hatten auch verschiedene Bestimmungen hinsichtlich rein und unrein
und verspotteten ihre Gegner wegen ihrer Auslegung des
Reinheitsgesetzes. Die Pharisäer replizierten, indem sie jede
Sadduzäerin, wenn sie die Wege ihrer Väter wandelt, für unrein
erklärten. Die Sadduzäer leugneten auch die Existenz von Engeln und
Geistern und behaupteten, dass Gott die Taten der Menschen nicht
beeinflusse. So standen die Sadduzäer auf dem altisraelitischen
Glaubensstandpunkte, der keine Auferstehung und Vergeltung im Jenseits
kannte, sowie keine Engel und Dämonen im Sinne der späteren jüdischen
Religion. Dazu kam noch eine weltliche, praktische Gesinnung, ja bei den
Gebildeten wohl auch etwas Aufklärung, was begreiflich ist, wenn man
bedenkt, dass sie die Politik leiten mussten. Die unausbleibliche Folge
davon war griechische Bildung, somit wieder Aufklärung und Abschwächung
des Glaubens. Nur unter Alexandra nahmen ihnen die Pharisäer das
politische Heft aus den Händen. Im großen ganzen akkomodierten sie sich
aber, um das Volk nicht zu reizen, den Wünschen der Pharisäer.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Gegensatz
zwischen Pharisäern und Sadduzäern nur in einer verschiedenen
Religionsauffassung bestand. Der Sadduzäismus ist nach dem Sturze des
römischen Reiches ganz von der Bildfläche verschwunden. Der Pharisäismus
lebt noch heute im Talmudismus und Rabbinismus weiter. Wir sehen auch
hier wieder den Triumph der Orthodoxie gegen den Liberalismus. Ganz
dasselbe geschah später im Islam. Die Aufklärung im Islam unterlag
vollständig in ihrem Kampfe gegen die Orthodoxie und in allen
islamitischen Ländern gilt heute der Satz: "Die Offenbarung steht höher
als die Vernunft." Bravo, nur so weiter!
Bekanntlich hat die Synagoge von Montpellier den Bann ausgesprochen im
Jahr 1232 gegen alle Juden, welche die Werke des grössten und
gelehrtesten Rabbiners Maimonides lesen würden, und vier Jahrhunderte
später ist der große Jude Spinoza von der Synagoge in den Bann getan
worden. Nicht besser ist es den arabischen Philosophen in den Ländern
des Islams ergangen. Arme Aufklärung! Arme Philosophie! Du darfst nicht
offen auftreten, sonst hetzt dich gleich eine Meute zu Tode! Du bist nur
das Erbteil einer kleinen Minorität von Menschen, die dich aber um so
mehr lieben, je mehr du verfolgt wirst! Doch getrost, schließlich wirst
du siegen, aber wann? Das weiß Gott allein.
Eine dritte grosse jüdische Partei waren die E s
s e n e r; selbstverständlich ebenfalls eine religiöse
Gemeinschaft.
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