Es
kann immer noch schlimmer werden:
Der Judenhass und die Juden
Brunner nahm die deutschen Nicht-Juden vor der
Behauptung der Antisemiten in Schutz, dass
ein einziger Jude neunundneunzig Nicht-Juden in der Hand habe. Eine
solche Aussage sei doch wohl nicht nur eine eigentümliche Überschätzung
der Juden sonder auch eine ungeheuerliche Beleidigung der Nicht-Juden:
"Wie sollten 99% sich durch das 1% vergewaltigen und beständig im
Zittern erhalten werden — solche Gimpel, Memmen, Kränklinge sind die
Deutschen keineswegs und so groß ist ihre "Furcht der Juden" nicht".
von Constantin Brunner, II. Auflage 1919, S. 78ff.:
Es hat andern Anschein, als meinten die nichtantisemitischen Nicht-Juden
Deutschlands, an Stelle des Wortes Juden könnte man ebenso gut sagen:
Verbrecher und Schurken aller Art. Trotz bestehenden Vorurteilen gelten
ihnen die Juden im allgemeinen nicht für schlechter als die übrigen
Volksgenossen, auch nicht für schlechter als die Antisemiten; ihre
wichtigsten Angelegenheiten, die Sorge für Vermögen, Gesundheit und
Leben wie auch die Vertretung der politischen Interessen legen sie in
ihre Hände; haben mit ihnen Gemeinschaft, worin kaum mehr Unverständnis
und Missverständnis spielt, als sonsthin unter Menschen der Fall zu sein
pflegt; der Mischehen, bis in die bekanntesten und angesehensten
Familien hinauf werden immer mehr (wodurch auch die Behauptung von einer
angeblichen Rassenabneigung physiologischer Natur erschüttert wird), und
es bestehen noch zahlreiche andre Verhältnisse in der Atemluft der
herzlichsten Liebe. Und ferner: es gibt auch noch Anti-Antisemiten, von
denen die Antisemiten als Leute bezeichnet werden, die das unter uns
vorhandene Unglück und unsre sozialen Leiden in frevelvollem Spiel für
ihren Vorteil auszubeuten suchen; von denen also die Antisemiten für so
verderblich wie verdorben gehalten werden (1).
Und ferner gibt es sogar — gegen die Gefäße, die überlaufen von der
Ungerechtigkeit der Juden, gibt es auch noch andre, die ihre
Gerechtigkeit und Tugend fassen: es gibt sogar Philosemiten, welche den
Juden nicht nur als Menschen ihr natürliches Menschenrecht zugestehen,
sondern noch obendrein als Juden sie besonders lieben und hochhalten —
und schließlich gar, aus entgegengesetzten Gründen, dasselbe von ihnen
prophezeien wie ihre Feinde; so sagt z. B. Emile de Laveleye: "Die Rasse
der Juden ist meiner Meinung nach die intelligenteste und tatkräftigste
unter allen Rassen der Welt, sie wird die Herrin dieser Welt werden und
wird es auch verdienen"; und ich kenne zwei (und darf also wohl
annehmen, dass solcher mehr sind), von denen allen Ernstes beklagt wird,
dass sie keine Juden seien. Und zu allerletzt, mit Respekt zu melden,
gibt es noch Juden — die Juden so, wie sie an sich selber wirklich sind.
1) Max Müller nannte sich selber einen Anti-Antisemiten. Ein
Judenfeind, sagte Varnhagen von Ense, müsse "einen dunklen Fleck im
Herzen oder im Verstande und wohl auch in seinem Leben haben"; man hat
auch wohl bereits gefragt: "Ist es ein Zufall, dass von den Führern der
Antisemiten Dutzende, selbst von ihren Parteigenossen fallengelassen, in
der Dunkelheit, im Gefängnisse oder im Zuchthause nach einiger Zeit
verschwanden?" und man hat gesagt: "wenn die Juden in ihrer Mehrzahl von
derjenigen sittlichen Beschaffenheit wären, die wir bei fast allen in
der Öffentlichkeit hervorgetretenen Antisemiten finden, dann wäre der
Antisemitismus berechtigt."
Es fehlt auch nicht an Männern, von denen die Anklagen der Antisemiten
schnurstracks umgekehrt werden; so sagt z. B. Gottlieb August Schüler
(Die Judenfrage, Marburg 1880): "Das deutsche Volk hat seine große
Überzahl im Verhältnis zu den Juden in seiner Mitte, die Macht und die
Stellung der Herren zu den Gefangenen, welche ihm Gott gegeben hatte, in
charakterlosester, unedelster und unwürdigster Weise missbraucht;" es
hätte die Juden zu seinen Unsittlichkeiten und zu seinen eignen
Verbrechen verführt, "die heiligsten Bande der Natur, jedes Rechtes,
jeder Sitte, jedes Adels, jedes Anstandes, jeder Gewissenspflicht hat es
damit zerrissen.
In welch unerhörter Weise hat das deutsche Volk die armen Juden seit
Jahrhunderten mit dummem Stolze, vor welchem Paulus die Heidenchristen
schon warnt, mit unerhörter Verachtung, mit bittrem Hohne, mit größter
Grausamkeit, mit kältestem Hasse misshandelt... Ja, sprechen wir es
ungescheut aus: das deutsche Volk hat dem Gaste Israel durch dieses
alles tausend und abertausendmal mehr geschadet als die Juden ihm je
geschadet haben und schaden."
Wer kennt nun die Juden nach wahrhafter Intimität, — so wie sie
tatsächlich sind in ihrem Fühlen, Wissen, Wollen und im innersten
Triebwerke ihrer Natur ? Wo finden wir von den inwendig steckenden Juden
das Spiegelbild, welches nichts wiedergibt als die wirklichen Juden?
Soll man sich an die Antisemiten halten oder an die Philosemiten oder an
die Juden selber? Es heißt: Keiner kennt den Andern, und es heißt:
Keiner kennt sich selbst.
Nun, am Ende ist nicht das Kennen das Wichtigste, sondern andres. Was
aber das Kennen betrifft — immerhin doch auch gewaltig Wichtiges —, so
will mir scheinen, dass jedenfalls von den Antisemiten die Juden nicht
gekannt werden; das sind keine Richter, die immer gleich Henker sein
wollen. Das meiste, was die Antisemiten vorbringen, ist Verleumdung; und
vieles, was Andre über die Juden sagen, ist nicht besser als Stummheit,
manchesmal schlechter. Ach, die Literatur über die "Judenfrage"! Ich
kenne ja nicht alle Bücher, aber leider viele; alle kennen zu lernen
geht über die Kraft des gewöhnlichen Sterblichen — die ganze Literatur
für und die ganze Literatur gegen die Juden hat vielleicht nur Herkules
gelesen. In der Tat, diese beiden Literaturen sind die beiden
fürchterlichsten und langweiligsten Riesenwiederkäuer der Welt.
Selbstverständlich sind auch Ausnahmen und lobenswerte Bücher zu finden
— sogar unter den modernen. Über die modernen Bücher sei noch folgendes
bemerkt. Die statistischen und alle die übrigen sozusagen philologischen
Bücher sind natürlich in höherem Sinne nicht als Bücher, sondern
bestenfalls als Material für Bücherschreiber zu rechnen; Philologen sind
keine Schriftsteller, nicht viel mehr als Leinewand- und
Pinsellieferanten Maler sind. Aber ebensowenig verdienen den Namen
Schriftsteller die Schreiber, welche mit dem Anspruch, mehr als
Philologen zu sein, nämlich nicht nur mit Stofflichem, sondern mit
Gedanklichem zu kommen, der modernen Vornehmigkeit sich befleißigen und
sine ira et studio schreiben (außer wo Eitelkeiten ihrer Mattherzigkeit
und Schlafmützigkeit ein Temperamentchen machen).
*) sine ira et studio = Ohne Zorn und ohne Leidenschaft
Solche Schreiber haben sich zwischen die Stühle
der Philologie und Schriftstellerei gesetzt, und schon ihr "Sine ira et
studio" gibt das sichere Kennzeichen an die Hand, dass ihr Geschriebenes
nicht schreibenswert und nichtsnutzig ist; denn alles Gute ist immer
wesentlich nec sine ira nec sine studio aus herzgeborenen Gedanken,
denen auf Andres ankommt als auf glattgestrichene Objektivität. Und gar
nun bei einem Buche, das mit Verkehrtheit und Schändlichkeit sich zu
befassen hat, müsste ja, der es schreibt, selber verkehrt und schändlich
sein, wenn er so schreibt, als gäbe es keinen Unterschied zwischen
Wahrem und Verkehrtem, Schönem und Schändlichem. Da hört "die
Objektivität" auf, in dem ganz Wille und Kraft des Guten gewordenen
Gewissen — Gewissen ist niemals objektiv und neutral, sonst wäre
Gewissen kein Gewissen, fühlte nicht, was es fühlt, wüsste nicht, was es
weiß, wollte nicht, was es will, vor allem aber, könnte nicht, was es
kann: etwas ausrichten in der Welt! — Urteilen über die Juden ist nicht
einfach, keiner auch glaube, sie nach ihrem wirklichen geheimsten Leben
erfasst zu haben, wenn er etwa die Mitte nimmt zwischen Philosemitismus
und Antisemitismus — ein gelbes Glas vor das eine und ein blaues Glas
vor das andere Auge gehalten, macht grüne Gegenstände; und die Wahrheit
ist nicht in der Mitte: der Schafskopf ist in der Mitte.
Wir müssen nach links und nach rechts und nach hinten uns umsehen,
dürfen nicht das Verhältnis der Juden zur Geschichte außer acht lassen
und auch wahrlich nicht vergessen, die in ihnen ruhenden Hilfskräfte in
Anschlag zu bringen und vorwärts zu blicken. Es ist auf keinen Fall
genug, dass wir ihren jetzigen Zustand betrachten: es gilt, die Stellung
und Bedeutung der jüdischen Eigenart unter den übrigen Menschheitsarten
und Mentalitäten nach Seiten der Körperlichkeit wie der Geistigkeit zu
ergründen und zu formulieren; und, was das allgemeine Urteil über die
Juden betrifft, müssen wir endlich sogar auch das Urteil überhaupt und
das Allgemeine der menschlichen N a t u r in Betracht
nehmen. Sogar? Dass ich es nur heraussage: das ist vielleicht das
allerwichtigste; es ist mindestens so wichtig, wie das andere, wie die
Bestimmung der jüdischen Eigenschaft nach ihrem Verhältnis zu den
übrigen Eigenschaften. Fragt man: Warum schreibst du dieses Buch über
den Judenhass und die Juden, und was unterscheidet es von den bisherigen
Büchern?, so lautet die Antwort: ich komme endlich, nachdem ich lange,
lange vergeblich gewartet habe, dass ein anderer kommen und die zwei
noch nicht begangenen Wege gehen würde, die denn nun ich gehen werde —
wo diese Wege zusammentreffen, und nur dort, haben wir die Erklärung für
die Juden sowohl wie für den Judenhass; die Berechtigung dieses Werkes
liegt in der Verbindung der richtigen Bestimmung von der jüdischen
Eigenheit mit der Betrachtung der allgemeinen menschlichen
Beschaffenheit.
Hauptsächlich die gänzliche Vernachlässigung dieser letzterwähnten
Betrachtung erklärt uns die Tatsache, dass in der Literatur über unsern
Gegenstand, bei so viel überschüssig Überflüssigem, noch kein Grundbuch
zu finden, welches das Wort zur Sache spricht, und, höhere Forderungen
befriedigend, auch den Denkenden einen Standpunkt gewinnen macht. Wir
begeben uns, was das allgemeine Urteil über die Juden anlangt, jeder
Möglichkeit des Begreifens, wenn wir nicht auch den Zustand der
menschlichen Seelenbeschaffenheit und im besonderen das Urteil ansehen:
welch eine Bewandtnis es eigentlich mit der Fähigkeit auf sich hat, die
wir Urteil nennen, wieweit sie überhaupt zum Urteilen und Verstehen
geeignet ist, und wie jegliches Nichtverstehen nicht etwa nur ein
Nichtverstehen, sondern sogleich auch ein Missverstehen ist.
Gar auf die Antisemiten ist, wie gesagt, hier nicht viel zu geben;
denen der Hass zu sehr das Urteil erleichtert. Die Juden sollen von ewig
her nur der niedrigsten Gedanken und des schändlichsten Lebens fähig
gewesen sein ? — Andre urteilen entgegengesetzt über sie; so zum
Beispiel Hegel, bei dem sie das Volk des Geistes heißen, Ibsen nennt sie
den Adel der Menschheit und (der von mir nicht gern zitierte) Nietzsche,
der "die Maxime" geprägt hat: "Mit keinem Menschen umgehen, der an dem
verlogenen Rassenschwindel Anteil hat", bezeichnet sie als das ethische
Genie unter den Völkern. Urteil so oder so, ob man sie hasst oder liebt—
Hassen macht so wenig klüger als Lieben —: Tatsache ist jedenfalls, dass
die Völker diejenigen Gedanken, welche von ihnen selber als die höchsten
und erhabensten bezeichnet wurden und werden, bei den Juden sich geholt
haben, und der erlauchteste Name, den die Menschheit zu nennen weiß, ist
der eines Juden. Leroy Beaulieu schreibt: "Um uns die Unfähigkeit des
Semiten für den Idealismus zu beweisen, führt man uns den Chaldäer, den
Phönizier, den Karthager, den Araber an: was soll all diese Völkerkunde,
da doch seit zweitausend Jahren unsre Seelen von dem Ideale leben, das
uns die Kinder Judas gebracht ?" In bezug auf diese Tatsache übrigens
stimmt keineswegs alles, nicht allein nicht bei denAntisemiten: auch
nicht im allgemeinen Urteil der Welt; auch nicht bei den Juden.
Das geschichtliche Denken, die ganze Weltgesinnung ist hier ins Schiefe
und Verwirrte, in Verdrehung und Widerspruch zu sich selbst geraten;
worauf mit gebührendem Nachdruck hingezeigt werden soll. Aber die
Tatsache stimmt, man kommt über sie nicht hinweg, am wenigsten mit Hass
und Verachtung der Juden; zuletzt muss ihnen dennoch ein bedeutendes
Sein und Wirken zugesprochen werden, welches die Antisemiten auch nicht
einmal zu begreifen imstande sind, die statt dessen, wie der erste
Schreiber gegen den Antisemitismus (1) sich ausdrückt, "den
schändlichsten Frevel treiben: solche, welche die Wahrheit zu erforschen
sich keine Mühe geben, in Irrtum, Flausen und Lügen zu erhalten".
(1) Gemeint ist Josephus Flavius (Josef Ben
Matitjahu) contra Apion. II, 9.
Vom Phantom zur Psychopathologie:
Der Judenhass und die Juden
Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie viel bereits zu diesem
Thema gesagt und geschrieben, geforscht und gedacht wurde, und wie
resistent sich das Leiden gehalten hat. Gemeint ist der Antisemitismus,
der besser als Judenhass bezeichnet werden sollte, wie es C. Brunner
sehr überzeugend anmahnt...
Was tun?
Über das
Unglück der Antisemiten
Kern dieser Überlegungen ist C. Brunners Frage, wie man an die
"Antisemitenfrage" - in Analogie zur vielfach postulierten "Judenfrage"
- herangehen soll, oder noch präziser: "Wie und wie weit lässt sich den
bejammernswerten Leuten helfen, die an den Juden verrückt geworden sind,
und auf welche Art können in Zukunft andre vor dem gleichen Unglückslose
bewahrt werden?"...
Constantin Brunner:
Leiden an Deutschlands Unglück
Wie liebe ich mein Deutschland in seiner düstern Schmach und in
seiner lichtbeseelten Wundergröße! Ich liebe Deutschland, Deutschland
über alles...
|