Constantin Brunner, eigentlich Leo Wertheimer, (geb. am 27.
August 1862 in Altona; gestorben am 27. August 1937 im Exil in Den Haag)
war ein deutsch-jüdischer Philosoph.
Als Enkel Akiba Wertheimers, dem Oberlandesrabbiner von Altona und
Schleswig-Holstein, wurde Constantin Brunner im orthodox jüdischen
Glauben erzogen und studierte in Köln als Leo Wertheimer am jüdischen
Lehrerseminar. Auf der Suche nach der „besten“ Religion brach er das
Studium ab. Vergleichende Religionswissenschaften standen nun im
Mittelpunkt seines Interesses. In Berlin und Freiburg studierte
Constantin Brunner von 1884 bis 1888 Philosophie und Geschichte.
Judenhass und
Antisemitismus, wie sie ihm dort begegneten, wurden zu seiner
zentralen Beschäftigung. 1882 schrieb er sein erstes Werk, die „Rede der
Juden“ (Erstveröffentlichung 1918), worin er sich mit Antisemitismus,
Religionsgeschichte, der Möglichkeit einer jüdischen Emanzipation in
Deutschland und mit philosophischen Fragen beschäftigt.
Brunner lernte bei dem Neukantianer Alois Riehl und war zeitweise der
Philosophie Kants verbunden. Später wurde er einer der schärfsten
Kritiker des Kantianismus. Bei Eduard Zeller erwarb er Kenntnisse der
griechischen Philosophie. Einflüsse im Studium hatten auf Brunner auch
die Indologie und die Philosophie Schopenhauers, die ihm Paul Deussen
vermittelte. Hinzu kommen das Denken Wilhelm Diltheys und das von Julius
Ebbinghaus, die neuere Ethnologie Adolf Bastians und der Unterricht bei
dem Zoologen August Weismann. Brunner kritisierte den Darwinismus,
insbesondere dessen Auslegung bei Nietzsche und seine
Instrumentalisierung durch die Rassenlehre der NS-Ideologie.
Seinem Studium der Kantischen Philosophie folgte eine gründliche
Auseinandersetzung mit Hegel und schließlich mit Spinoza. An Spinoza
schätzte er die „wahre“ und „aktive“ Philosophie und deren Umsetzbarkeit
ins praktische Leben. Brunner sah in Spinozas ebenso wie in Moses,
Sokrates, Buddha und Jesus Menschen, die er als Genies bzw. als
"Geistige" bezeichnet, da sie Leben und Werk vereinen und dabei die
eine, immerwährende und überall gleiche absolute, geistige Wahrheit
vermitteln, wie er meint.
Nach dem Studium arbeitete Constantin Brunner seit 1891 als
Literaturkritiker in Hamburg. Brunner freundete sich dabei an mit
Detlev von Liliencron,
Gustav Falke und
Richard Dehmel. Er gründete ein Literaturvermittlungbüro, aus dem
1893 die Zeitschrift „Der Zuschauer“ hervorging, die er zusammen mit
Leo Berg und
Otto Ernst (der „Freund Trozdem“ in seiner späteren Schrift
"Materialismus und Idealismus") herausgab. Darin verwendet er auch sein
Pseudonym Constantin Brunner. Diesen Namen ließ er sodann als
bürgerlichen Namen eintragen. „Der Zuschauer“ richtet sich an die
Multiplikatoren im Literaturbetrieb. Die Zeitschrift vertritt eine
praktische Ästhetik, die sich orientieren müsse an den
Erfahrungswissenschaften. Plädiert wird für eine sinnliche und
vorstellungsreiche Dichtung und die anschauliche Darstellung abstrakter
Begriffe. Dagegen wird das „Aufbrütesame“, aus dem „Einfluss Max
Stirners und Nietzsches, mit der großen Begriffsverwirrung, die durch
Socialismus, Individualismus, Pessimismus in so viele Köpfe gekommen ist“,
als unproduktiv für das künstlerische Schaffen kritisiert. Deutlich
wendet sich Brunner seit 1893 gegen das scholastische Begriffsdenken,
die jüdisch-christliche Religion und den
Judenhass.
Die
erste Auflage des Buches "Der Judenhass und die Juden" erschien 1916,
noch während des Ersten Weltkriegs.
Zwar veröffentlichte Brunner noch in seiner Hamburger Zeit den für
seine Philosophie wichtigen Aufsatz „Zur Technik des künstlerischen
Schaffens“, aber erst nachdem er Ende 1895 nach Berlin umgezogen war,
begann eine umfangreichere Ausarbeitung seiner Philosophie. Anlass für
den Wechsel von der Berufstätigkeit hin zur Konzentration auf die eigene
Philosophie war ein Kunsterlebnis: 1895 ließ Brunner sich während eines
Museumsbesuches in London durch die Skulptur „Tauschwestern“
in seiner Philosophie grundlegend inspirieren.
Im selben Jahr 1895 heiratete er
Rosalie Auerbach. Mit ihrer Tochter
Elise Charlotte Auerbach verband Brunner später ein intensiver
Austausch über Literatur und Philosophie. Charlotte Auerbach
veröffentlichte unter dem Pseudonym E. C. Werthenau und führte von
1903-1932 ein Tagebuch über Bemerkungen Brunners zu seiner Philosophie
und über Besuche und Gespräche im Hause Brunners.
Nach dem Umzug aus Hamburg widmete sich Brunner nahezu ausschließlich
seiner Familie, seiner Freundschaft u.a. mit
Gustav Landauer und seiner Philosophie. Durch die Unterstützung
seiner Freundin
Frida Mond und ihres Sohnes Lord
Alfred Melchett war er in Berlin finanziell unabhängig und frei von
den Zwängen erwerblicher Betätigung.
1908 mündete die dreizehn Jahre währende Ausarbeitung seiner
Philosophie in der Veröffentlichung seines Werkes „Die Lehre von den
Geistigen und vom Volk“. Gustav Landauer, mit dem Brunner in jener Zeit
zusammenarbeitete und freundschaftlich verbunden war, unterstützte
Brunner bei der Veröffentlichung. Das „Internationaal Constantin Brunner
Instituut“ (ICBI) beschreibt diese Werk wie folgt: „Durch die
Unterscheidung von drei ‚Fakultäten‘
des Denkens - die praktische, die geistige und die analogische - legt
Brunner in diesem Buch das Fundament seiner Philosophie. Da nach ihm das
praktische Denken des Menschen notwendig entweder auf das wahre,
geistige oder aber auf das
fiktive,
analogische Prinzip gegründet ist, kommt er zu der These eines durch
die gesamte Geschichte hindurch aufzeigbaren
Antagonismus' zwischen geistig und
abergläubisch Denkenden. Das analogische Denken ist kein rein,
sondern ein verworren absolutes, das heißt ein verabsolutiert
praktisches Denken. Grundlegend für seine Lehre ist die nicht weiter
erforschbare Unterscheidung zwischen dem absoluten, geistigen und dem
relativen, praktischen Denken, die auf Spinozas Differenz zwischen
Substanz und
Attribut zurückgeht. (...)Seine Bewegungslehre mündet in eine
‚Psychologie ohne Seele‘, schließlich in eine ‚Pneumatologie‘,
in der Brunner die Herkunft unsres Bewußtseins aus der Beseeltheit der
Welt ableitet. In zahlreichen Exkursen hebt er den scholastischen
Moralismus Kants hervor, den er der folgerichtig durchdachten
Philosophie Spinozas gegenüberstellt.“
Brunner arbeitete intensiv über Spinoza und unterhielt enge Kontakte
zu den Spinozaforschern seiner Zeit, wie
Carl Gebhardt,
Adolph S. Oko,
Stanislaus von Dunin-Borkowski.
Ernst Altkirch regte er dabei zu den Arbeiten „Spinoza im Porträt“
(1913) und „Maledictus und Benedictus“ (1924) an. An der
Veröffentlichung
K. O. Meinsmas Buch „Spinoza und sein Kreis“ (1909) in deutscher
Sprache wirkte er im Lektorat mit und verfasste ein Vorwort zu diesem
Werk, das 1910 unter dem für Brunner programmatischen Titel „Spinoza
gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit“ eigenständig publiziert
wurde.
Zu den Schülern um Brunner, die sich in der von
Fritz Blankenfeld gegründeten „Constantin Brunner-Gemeinschaft“ in
Berlin versammelte, gehörten
Goeorge Goetz,
Fritz Ritter und
Ernst Ludwig Pinner.
Bedeutender für die Auseinandersetzung mit Brunner war jedoch die von
Friedrich Kettner geleitete Brunner-Studiengruppe in
Czernowitz, das so genannte „Ethische Seminar“. Dazu zählten der
Biologe
Israel Eisenstein, Autor des Buches „Irrtum und Wahrheit der
Biologie - Kritik der Abstammungslehre“, und der Psychologe
Walter Bernard. Dem aus dem Seminar sich bildenden
„Brunner-Freundeskreis“ gehörten sowohl
Lothar Bickel, der von Brunner bestimmte Nachlassverwalter, als auch
die Dichterin
Rose Ausländer an, eine langjährige enge Freundin Brunners.
Brunner warnte schon früh vor den Gefahren des Nationalsozialismus
und war nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft, sondern auch wegen
seiner Äußerungen gegen den Nationalsozialismus zu einem erklärten Feind
der Nazis geworden und flüchtete 1933 ins Exil nach Den Haag. Dort wurde
er von seiner Schülerin Magdalena Kasch betreut. Seine Bücher wurden
verbrannt und verboten.
Im Exil suchte Brunner sein Werk „Unser Charakter oder Ich bin der
Richtige!“ zu vollenden. Brunner zeichnet darin einen in
„Selbsttäuschung befangenen“ Menschen, der „seinen natürlichen Egoismus“
nicht wahrhaben möchte und „hochmütig moralisierend meint, recht zu
haben.“
Der Freundeskreis Brunners wurde durch Nationalsozialisten brutal
zerschlagen. Auch nach 1945 gelang keine Fortführung. Magdalena Kasch,
die viele Schriften Brunners retten konnte, gründete mit Überlebenden
das „Internationaal Constantin Brunner Instituut“ (ICBI)in Den Haag.
Brunners Denken wird als
Holismus charakterisiert. Bedeutende politische Positionen markieren
sein Engagement für die Emanzipation der Juden in Deutschland und das
Judentum sowie seine anti-zionistische Einstellung und Ideologiekritik.
Yehudi Menuhin,
Ferdinand Alquié,
André Breton und der Hamburger Literarhistoriker und Essayist
Heinz Stolte bezogen sich auf das Denken Constantin Brunners.
Vom Phantom zur Psychopathologie:
Der Judenhass und die Juden
Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie viel bereits zu diesem
Thema gesagt und geschrieben, geforscht und gedacht wurde, und wie
resistent sich das Leiden gehalten hat. Gemeint ist der Antisemitismus,
der besser als Judenhass bezeichnet werden sollte, wie es C. Brunner
sehr überzeugend anmahnt...
Es kann immer noch schlimmer werden:
Das Leiden am Judenhass
Brunner nahm die deutschen Nicht-Juden vor der Behauptung
der Antisemiten in Schutz, dass ein einziger Jude neunundneunzig
Nicht-Juden in der Hand habe. Eine solche Aussage sei doch wohl nicht
nur eine eigentümliche Überschätzung der Juden sonder auch eine
ungeheuerliche Beleidigung der Nicht-Juden...
Was tun?
Über das
Unglück der Antisemiten
Kern dieser Überlegungen ist C. Brunners Frage, wie man an die
"Antisemitenfrage" - in Analogie zur vielfach postulierten "Judenfrage"
- herangehen soll, oder noch präziser: "Wie und wie weit lässt sich den
bejammernswerten Leuten helfen, die an den Juden verrückt geworden sind,
und auf welche Art können in Zukunft andre vor dem gleichen Unglückslose
bewahrt werden?"...
Constantin Brunner:
Leiden an Deutschlands Unglück