Historischer Vergleich:
Der neue Antisemitismusstreit
Von Michael Brenner, SZ vom
21.12.1998
Wer die Feuilletonspalten
deutscher Zeitungen in den letzten Wochen verfolgte, wird unschwer erkennen,
daß wir uns mitten in einem neuerlichen Antisemitismusstreit befinden –
einer Debatte, die in Deutschland eine lange Tradition hat und im
sogenannten Berliner Antisemitismusstreit von 1879 kulminierte. Ein Blick
zurück läßt erkennen, daß sich trotz aller Verschiedenheit durchaus auch
Parallelen mit der heutigen Auseinandersetzung erkennen lassen.
Richten wir unser Augenmerk einmal nicht so sehr auf die
unterschiedliche Bewertung der jüngsten deutschen Vergangenheit, sondern auf
das Bild der Juden, wie es unlängst bei Rudolf Augstein und bei Martin
Walser gezeichnet wurde. Die Ausführungen von Augstein und Walser, die heute
auf den ersten Blick als eine gemeinsame Seite der Debatte betrachtet
werden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als zwei unterschiedliche
deutsche Traditionen: auf der einen Seite eine, auch in der Wortwahl, wenig
verhüllte Abneigung gegenüber den Juden, auf der anderen Seite eine
Abneigung gegen das Jüdische als eigenständiges Kulturelement. Im Berliner
Antisemitismusstreit standen sich vor über hundert Jahren zwei der
berühmtesten deutschen Historiker gegenüber, um eine wenig historische Frage
zu erörtern. Auf der einen Seite goß der nationalgesinnte Historiker
Heinrich Treitschke frisches Öl in die vom Hofprediger Stöcker geschürten
Flammen des politischen Antisemitismus. In seinem Aufsatz in den
"Preußischen Jahrbüchern", in dem erstmals das Schlagwort "Die Juden sind
unser Unglück" zu lesen war, bezichtigte er die "hosenverkaufenden
Jünglinge" aus dem Osten, zur Überfremdung der deutschen Kultur beizutragen.
In einer entschiedenen Erwiderung ließ sein Kollege Theodor Mommsen keinen
Zweifel an seiner grundsätzlich liberalen Einstellung, die sich gegen
jeglichen Versuch verwahrte, deutschen Juden ihre Rechte zu schmälern oder
ihr Deutschtum zu bestreiten. Gleichzeitig fühlte sich Mommsen jedoch auch
verplichtet, den deutschen Juden Mitverantwortung am aufflammenden
Antisemitismus zuzuschreiben.
Nach all den Worten der Entrüstung über die
antisemitischen Töne seines Historikerkollegen Treitschke kam Mommsen im
Schlußwort seiner Entgegnung zu der Erkenntnis, daß die Juden sich außerhalb
der modernen Zivilisation befänden, wenn sie schließlich nicht doch die
Wahrheit des Christentums erkannten; so sei die beste Art der Integration
immer noch die Taufe. Gewiß lagen die Vorstellungen Treitschkes und Mommsens
meilenweit auseinander, doch in einem waren sie sich einig: die Juden als
Juden würden aus der Gesellschaft verschwinden müssen.
Selbst Treitschke, der wesentlich dazu beitrug, den
Antisemitismus im Kaiserreich hoffähig zu machen, hütete sich wohl, die
Juden als Juden allzu direkt anzugreifen. Im erwähnten Pamphlet, "Unsere
Aussichten" warnt er vor "der Schaar hosenverkaufender strebsamer Jünglinge,
deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen
beherrschen sollen" – das verhängnisvolle Wort "Die Juden sind unser
Unglück" schreibt er dem Volksmund zu. Auch Augstein schafft es, einen
Kommentar über die Juden zu schreiben, ohne sich aber des Ausdrucks "Jude"
zu bedienen. Deutschlands Börsen und Zeitungen werden die Juden wohl nicht
mehr beherrschen, dafür gibt es "die New Yorker Presse und die Haifische im
Alltagsgewand", und Augstein zitiert nur Adenauer, wenn er behauptet: "Das
Weltjudentum ist eine große Macht."
Auch der kommunistische Antisemitismus richtet sich nicht
gegen "die Juden" (Antisemitismus war immerhin in der Verfassung der
Sowjetunion verboten), sondern gegen "Kosmopoliten" und "Zionisten". Man
fragt sich am Ende nur noch, ob tatsächlich, wie Augstein freudig
konstatiert, bereits alle Tabus gebrochen sind. Oder sollte es etwa immer
noch ein Tabu in Deutschland sein, es offen zu bekennen, wenn man die Juden
nicht so gerne mag?
Augstein wollte Walser zu Hilfe eilen. Ob dieser sich
dafür bedanken wird oder über die Geister, die er rief, zu reflektieren
beginnt, mag dahingestellt bleiben. Denn bei aller berechtigten Kritik ist
seine Sichtweise doch eine unterschiedliche, muß das Problemtische an seinen
Äußerungen auf anderer Ebene gesucht werden. Von Haifischen im Anwaltsgewand
zu sprechen ist seine Sache nicht. Vielmehr fühlt er sich als Anwalt der
Juden, zumindest der assimilierten deutschen Juden, die er posthum von den
im osteuropäischen Schicksal verhafteten Juden selektiert. Vieles aus der
Sonntagsrede wurde wieder und wieder zitiert, kaum aber jene Episode, mit
der sich Walser gegen den Vorwurf der Verharmlosung von Ausschwitz zu wehren
versucht: "Ich stellte das Schicksal einer jüdischen Familie von Landsberg
an der Warthe bis Berlin nach genauester Quellenkenntnis dar als einen
fünfzig Jahre lang durchgehaltenen Versuch, durch Taufe, Heirat und Leistung
dem ostjüdischen Schicksal zu entkommen und Deutsche zu werden, sich ganz
und gar zu assimilieren."
Hat man ihn auch hier wieder mißverstanden? Kaum, denn wer
sich an Walsers Laudatio auf den posthum mit dem Geschwister-Scholl-Preis
geehrten Viktor Klemperer erinnert, dem wird diese These bekannt vorkommen.
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte damals: "Tote können sich ihre
Laudatoren nicht aussuchen, und sie können auch keinen Einfluß mehr darauf
nehmen, für was ihr Werk Zeugnis ablegen soll." Unter anderem stellte Walser
damals dem getauften und deutsch-patriotischen Juden Klemperer den Zionisten
Gersh Schober als Negativbeispiel gegenüber. Es erstaunt, daß Walser nicht
einmal auf die Idee zu kommen scheint, hinter diesem beständigen Lob für
jene Juden, die ihrem Jüdischsein "entkommen", könnte man ein durchaus
problematisches Konzept der Integration durch völlige Assimilation erkennen.
Hier scheint mir das Kernproblem nicht nur Walsers,
sondern auch vieler Reaktionen auf seine Rede zu liegen. Der nahezu
selbstverständlichen Weigerung, das Eigene, sagen wir ruhig das Fremde in
den deutschen Juden anerkennen zu können. Sie sind so manchem auch heute
noch nur als völlig assimilierte, ja christlich getaufte Deutsche
vorstellbar. Als Menschen mag man sie wohl tolerieren, nicht jedoch als
Juden. Es waren eben gerade nicht die Antisemiten, sondern die gutmeinenden
Liberalen à la Mommsen, die im Kampf gegen den Antisemitismus dieses
Argument einsetzten.
In der Verteidigungsschrift für die deutschen Juden hieß
es bei Mommsen: "Außerhalb dieser Schranken (des Christentums) zu bleiben
und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll.
Wem sein Gewissen, sei es positiv oder negativ, es verbietet dem Judentum zu
bekennen, der wird dem entsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen."
Daß die Juden sich gegen eine so verstandene Integration bei gleichzeitiger
Aufgabe des Judentums wehrten, und ein jüdischer Publizist verzweifelt
ausrief, "Gott schütze uns vor unseren Freunden," kümmerte sie auch damals
recht wenig.
Trotz gegenwärtiger Zweifel – die "seriöse Diskussion über
das Judentum betreffende Fragen" wird auch nach dem Abkühlen dieser Debatte
weitergehen. Doch mehr als die vorigen Diskussionen hat sie die Fronten
geklärt. Es ist nicht nur legitim, sondern mehr denn je notwendig, von
Deutschen und Juden zu sprechen, wenn es um Fragen der kollektiven
Erinnerung geht. In dieser Beziehung kann es auch nach fünfzig Jahren keine
Annäherung in Form einer deutsch-jüdischen Bindestrichidentität geben.
Anstatt immer wieder eine "Normalität" (gemäß welcher Norm eigentlich)
einzufordern, wie sie Dohnanyi in seinem Lapsus vom "Zentralrat der
deutschen Juden" bereits konstatieren will, und wie sie Walser recht
unbedarft mit seinem Ideal, "sich ganz und gar zu assimilieren" beschreibt,
wäre es geraten, die Juden auch als Juden zu akzeptieren.
Wenn man als Normalität auch ein Stück bleibender
Verschiedenheit akzeptieren kann, die nicht nur wie bei Augstein in
negativen Stereotypen ausgedrückt wird, dann würden zumindest einige
Mißverständnisse der gegenwärtigen Debatte aus dem Weg geräumt. Sollte dies
nicht gelingen, so wäre man wohl kaum weiter als die Treitschkes und
Mommsens vor über hundert Jahren.
Der Verfasser ist Ordinarius für
Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig Maximilian Universität
München.
Mit freundlicher Genehmigung der
Süddeutschen Zeitung und der
DIZ München
GmbH
hagalil.com
2007
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