Die Analyse: Die Deutschen
und der Auschwitz-Prozess
Von Micha Brumlik
Frankfurter Rundschau,
27.09.2002 Als am 20. Dezember 1963 in
Frankfurt am Main der erste Auschwitz-Prozess eröffnet wurde, war die
wirtschaftswunderliche Bundesrepublik ein anderes Land als heute.
Filmaufnahmen vom Prozess zeigen, wie Polizisten während der
Sitzungspausen noch nicht inhaftierten Angeklagten in aller
Unbefangenheit den militärischen Gruß entboten. Der vom hessischen
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer energisch vorangetriebene Prozess
stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland dar. 1963/64 war es nicht einmal 20 Jahre her, dass die Rote
Armee Auschwitz befreit und die SS noch lebende Häftlinge in brutalen
Todesmärschen nach Westen getrieben hatte.
Wer mehr über den Nationalsozialismus wissen wollte,
hielt sich an Walther Hofers Quellensammlung und Eugen Kogons aus
eigenem Erleben heraus verfassten "SS- Staat"; wer sich mit dem besseren
Deutschland trösten wollte, griff zum 1951 erschienenen Büchlein des
zwangsemigrierten Nationalisten Hans Rothfels zum Widerstand. Hannah
Arendts spektakuläre Studie zu Eichmann lag noch nicht auf Deutsch vor.
Das Problem der deutschen Schuld jedoch wurde anhand von Karl Jaspers
Essay philosophisch und damit in gewisser Weise auch unverbindlich
erörtert. In Bonn trat Konrad Adenauer im Oktober 1963 als Kanzler
zurück, und die Welt war nach der Kuba-Krise froh, einem Atomkrieg
entgangen zu sein.
Mit dem Frankfurter Prozess, der - mitten im Kalten
Krieg - nicht zuletzt durch eine Zusammenarbeit mit dem kommunistisch
regierten Polen möglich wurde, bekam das Böse plötzlich Namen und
Gesicht, Alter und Adresse. Oswald Kaduk, der zehn Menschen alleine und
weitere tausend gemeinschaftlich über Selektionen und Erschießungen
ermordet hatte, wurde wegen Zugehörigkeit zur SS von einem sowjetischen
Tribunal erst zum Tode und dann zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit
verurteilt. 1956 entlassen, ging er nach West-Berlin, wo er sein Leben
als Krankenpfleger verbrachte. Patienten nannten ihn liebevoll "Papa
Kaduk".
Was die westdeutsche Gesellschaft verdrängte, was ihre
Politik nicht vermochte und wozu die Geschichtswissenschaft damals weder
willens noch fähig war, nämlich den von Deutschen begangenen
industriellen Massenmord konkret aufzuklären, das übernahm die Justiz.
Sie nahm damit eine Vorreiterrolle ein, die sie noch lange zu spielen
hatte. Dabei wäre es ganz unsinnig, diese Entwicklung zu bedauern oder
im Rückblick zu wünschen, dass öffentliche Zerknirschung, Bußrituale
oder moralische Umkehr am Anfang der Auseinandersetzung hätten stehen
sollen.
Gerichtsverfahren, zumal solchen der Strafjustiz,
eignet eine eigentümliche Ambivalenz von Rationalität und Dramatik. Im
Strafverfahren treffen emotional bewegende Anteilnahme und auf Wahrheit
zielende Argumentation zusammen. Mit der Wissenschaft verbindet sie der
Bezug auf die Wahrheit, der Wille zu wissen, wie es gewesen ist. Stärker
noch als die Wissenschaft ist sie jedoch an ein streng argumentatives,
in sehr enge Regeln gepresstes Verfahren gebunden. Während es der
Wissenschaft zunächst darauf ankommt darzustellen, wie es gewesen ist,
zielt das Strafverfahren darauf, Schuld und Verantwortung zuzuschreiben.
Dabei geht es rechtsstaatlichen Strafverfahren um Wahrheit, nicht um
Vergeltung. Die Erfahrungen mit der Willkür des Staates haben in der
Geschichte des Rechts dazu geführt, sowohl für die argumentative
Wahrheitssuche als auch für die Zuschreibung von Schuld oder Unschuld
Verfahrensregeln aufzustellen, die eine weitgehende Objektivität ebenso
wie den Schutz des im Verfahren schwächsten Teilnehmers, des
Angeklagten, garantieren. Diese Regeln schützen indes nicht nur die
Beschuldigten, sondern garantieren der Öffentlichkeit, dass Angeklagte,
diesen Hürden zum Trotz für schuldig befunden, auch entsprechend
behandelt werden dürfen - sei es im rechtsstaatlich geregelten Vollzug,
sei es im moralischen Diskurs einer Gesellschaft. Rechtsstaatlich
erhobene Tatbestände und Verantwortungen stellen jene Basis dar, auf der
sich eine Gesellschaft angesichts von ihr zu verantwortender Verbrechen
über sich verständigen kann: Gerichtlich festgestellte Tatbestände sind
im Grundsatz minder zweifelsanfällig als historische Forschungen. Mit
der harten Rationalität juristischer Prozeduren korrespondieren schon ob
ihrer Öffentlichkeit rituelle und inszenatorische Züge. Narrative,
Biografien der Angeklagten und der Opfer, spielen im Verfahren ebenso
eine Rolle wie Rhetorik und oft genug auch Sophistik. Die Verfahren des
rechtstaatlichen Strafprozesses wurden indes für manche Zeugen oft genug
zu Qual und Erniedrigung. Das befreiende Gefühl, Zeugnis ablegen zu
können, wurde oft genug durch die demütigenden Verhöre der Anwälte
beeinträchtigt.
Wenn dieser Prozess Helden kannte, dann waren es neben
Fritz Bauer, den Staatsanwälten, den Nebenklägern und den Richtern vor
allem diese Zeugen, die mit ihrer Kraft der westdeutschen Gesellschaft
die Chance boten, sich nicht nur äußerlich zu einem der Würde des
Menschen verpflichteten Gemeinwesen zu wandeln.
Micha Brumlik ist Direktor des
Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt.
hagalil.com
2007 |