Landschaften der LügeVon Martin Jander
Wer erfahren will, wie in deutschen Familien über den
Nationalsozialismus gesprochen wird und dabei – fast ganz nebenbei – die
Verantwortlichen für seine wesentlichen Verbrechen unsichtbar werden, der
sollte sich das Buch von Olaf Jensen "Geschichte machen" zulegen. Es
resultiert aus einer Forschungsarbeit, deren Gesamtergebnisse bereits 2002
von einem Team um den Sozialwissenschaftler Harald Welzer (Universität
Witten/Herdecke) unter dem Titel "Opa war kein Nazi" veröffentlicht wurden.
Welzer hat den Umgang nicht-jüdischer deutscher Familien mit dem
Nationalsozialismus untersucht. In 182 Interviews wurden 142 Menschen aus 40
Familien in Ost- und Westdeutschland befragt. Besonderen Wert legte man
darauf, die Weitergabe von Haltungen von der Zeitzeugengeneration (geboren
zwischen 1906 und 1933) an die Kinder- (geboren zwischen 1934 und 1967) und
an die Enkelgeneration (geboren zwischen 1954 und 1985) zu erforschen. Olaf
Jensen arbeitet in seiner Studie mit dem Material dieser Gesamterhebung.
Das Hauptergebnis der Studie war, dass insbesondere die Generation der
Enkel der Nazitäter jede Gelegenheit nutzt, ihre Grosseltern von Schuld und
Verantwortung im Kontext deutscher Kriegsverbrechen und dem Völkermord –
einschließlich ihrer Vorbereitung – rein zu waschen. Dabei weiß diese
Generation, die in den beiden deutschen Staaten zwischen 1966 und 1986 auf
die Welt gekommen ist, meist sehr viel über die Geschichte des
Nationalsozialismus, seine Ursachen und auch die Dimension der Verbrechen.
Im offenen Widerspruch zum Wissen um den Nationalsozialismus heroisieren die
Enkel jedoch ihre eigenen Vorfahren, beschreiben sie als Opfer oder gar
Widerständler.
Im Familiengespräch wird – wie Welzer und sein Team an vielen
Einzelbeispielen zeigen konnten – das Vergangenheitsbild richtiggehend
ausgehandelt. Dieser Aushandlungsprozess folgt der Logik, dass
Erinnerungsgeschichten nie nur Vergangenheitsbilder darstellen, sondern
zugleich Modelle für die allgemeine Haltung der Gruppe abgeben. Die
erzählten Geschichten und noch mehr das Ereignis ihrer Erzählung selbst (an
der Kaffeetafel oder unterm Weihnachtsbaum) dient dazu, einen bestimmten
Kanon von Familienwerten zu bestätigen. Ein solcher Wert könnte zum Beispiel
sein: "Bei uns bereichert man sich nicht", "Wir sind für soziale
Gerechtigkeit". Eben diese Werte muss die Erzählung bestätigen.
Eines der erstaunlichsten Ergebnisse der Recherche, die in einer
Spezialuntersuchung von Sabine Moller unter dem Titel "Vielfache
Vergangenheit" 2003 publiziert wurde, besteht darin, dass Welzer und sein
Team nur geringe Unterschiede der Tradierungsprozesse in Ost- und
Westdeutschland feststellen konnten. Parallel zur staatsoffiziellen
Geschichtsmythologie in der DDR erhielt sich auch in der DDR das
Familiengespräch als zentraler Ort der Vermittlung von
Vergangenheitsbildern. Mit dem Systemwechsel sei in den fünf neuen
Bundesländern die Generation der NS-Zeitzeugen in ihrer Interpretation des
Nationalsozialismus ("Hitler hat Arbeit und Brot gebracht") bestärkt worden.
Die Generation ihrer Kinder sei – auch wegen ihrer eigenen DDR-Vergangenheit
– völlig verunsichert. Insgesamt sei man sich mit der Enkelgeneration einig,
dass der DDR-Geschichtsunterricht nur der Propaganda gedient habe. Welzer
resümierte skeptisch, die Geschichtsbücher seien zwar ausgetauscht, die
Denkmäler kommunistischer Widerstandskämpfer demontiert und die
Gedenkstätten umgestaltet worden, allein die Grosseltern erzählten im
Familienkreis nach wie vor ihre Geschichten vom Nationalsozialismus.
In der Spezialstudie von Jensen werden jetzt im Jahr 2004 die zentralen
Tradierungstypen beschrieben und an sehr vielen Beispielen aus der Erhebung
demonstriert, die für die Vermittlung des Bildes vom Nationalsozialismus in
deutschen Familien gegenwärtig kennzeichnend sind. Der dominierende
Tradierungstyp ist dabei die "Opferschaft". Jensen schreibt hierzu, dass im
Zuge familiärer Kommunikation immer wieder eine "Umkehrung der historischen
Täter- und Opferrollen stattfindet" (S. 117) und im Gespräch "zwischen den
Generationen Mitleid und Empathie auch dann entwickelt wird, wenn sich die
Befragten in einzelnen Situationen oder auch generell zu Opfern machen, wo
sie objektiv Zuschauer, Mitläufer oder auch Täter waren." (S. 117) Die
dazugehörigen Familienerzählungen sind auch dadurch gekennzeichnet, dass die
eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus in ihnen gar nicht vorkommen.
An zweiter Stelle folgt der Tradierungstyp "Rechtfertigung", dessen
Hauptargument man so zusammenfassen könnte: ich habe von Verbrechen nichts
gewusst, weil ich nicht beteiligt war, der Autobahnbau war aber gut. An
dritter Stelle folgt die "Distanzierung", die im permanenten Verweis darauf
besteht, dass die nationalsozialistische Ideologie und ihre Rituale beim
Zeitzeugen (angeblich) überhaupt nicht angekommen wären. Der Tradierungstyp
"Faszination" hingegen tauchte in der Untersuchung erst an vierter Stelle
auf und meint Erzählungen, die besonders den "Gemeinschaftsgeist" des
nationalsozialistischen Regimes, die öffentliche Ordnung etc. hervorheben
und die Begeisterung dafür als "verständlich" beschreiben. An letzter Stelle
rangiert bei den beforschten Familien der Tradierungstyp "Heldentum", der
dadurch gekennzeichnet ist, dass die Zeitzeugen auf eigene (wirkliche aber
auch angebliche) Widerstandshandlungen verweisen und damit deutlich machen,
dass sie selbst keinen Anteil an den Verbrechen hatten.
Der besondere Wert der Untersuchung von Jensen im Kontext der
Gesamtuntersuchung ist ihre Konzentration auf das Detail. Nirgendwo kann man
besser verstehen, wie denn der Tradierungsprozess im innerfamiliären
Gespräch wirklich vor sich geht. Auch jeder der z. B. in der politischen
Bildung tätig ist, wird gerne auf dieses Buch zurückgreifen, denn hier
werden zum ersten Mal sehr übersichtlich die Gesprächsstrategien der
NS-Zeitzeugen dargestellt, mit denen sie auch noch 60 Jahre nach dem
Untergang des Nationalsozialismus ihre Umgebung davon zu überzeugen suchen,
dass "es" nicht so schlimm war oder aber zumindest sie selbst. nicht
beteiligt waren (was im Einzelfall ja auch gar nicht falsch sein muß!). Olaf
Jensen enthüllt uns jene "Landschaften der Lüge" (Jürgen Fuchs), die uns bei
Familienfeiern in deutschen Familien, in der Kneipe und anderswo umgeben,
ohne dass wir sie immer gleich bemerken.
Olaf Jensen:
Geschichte machen.
Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die
NS-Vergangenheit in deutschen Familien, edition diskord 2004
Euro 20,00,
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Dr. Martin Jander, geb. 1955, Historiker, studierte Geschichte,
Germanistik und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Heute arbeitet er als freier Autor, forscht, lehrt und publiziert zu den
Themen Politische Theorien, Nationalsozialismus, Shoah und Deutsche
Nachkriegsgeschichte. Darüber hinaus ist er Mitarbeiter der Redaktion der
Zeitschrift "Horch und Guck" und betreibt in Berlin die Stadtführungsagentur
"Unwrapping History".