Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus:
Für Juden Teil ihres
Selbstverständnisses
– und was ist es für
Nichtjuden?
Von
Peter Finkelgruen, haGalil 10-2000
Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, einen Vortrag zum Thema "Kultur –
Über-Ich und die Gedenkreligion des Holocaust" zu hören. Der Titel
verrät sofort ,dass der Vortragende ein Psychoanalytiker war.
Beim Zuhören gewann ich den Eindruck, dass der Festvortrag eine gewisse
Ähnlichkeit mit jenem von Martin Walser hatte, in dem er bekannte nicht
mehr von Auschwitz hören zu können.
Der Psychoanalytiker
behauptete zum Beispiel, dass es in Israel bislang verboten gewesen sei,
über andere Fälle von Völkermord zu unterrichten. Ich habe selber, während
meiner Schulzeit in Israel, erstmals von dem Völkermord an den Armeniern
erfahren. Also weiß ich, daß die Behauptung falsch ist. Warum aber wurde sie
aufgestellt? Setzt man den psychoanalytischen Begriff des Über-Ich mit der
Moralkeule Martin Walsers gleich, dann eröffnet sich ein Sinn für die
Behauptung. Die Erinnerung an die Shoah wird sozusagen "geheiligt". Es soll
keine andere Erinnerung neben ihr geben. Dadurch wird sie Teil eines
gesellschaftlichen Über – Ichs und damit zur Moralkeule, über die Martin
Walser und andere so lamentieren.
Das Erinnern an "das,
was geschah" ( mit dieser vorsichtigen Redewendung pflegte der Dichter
Paul Celan die Ereignisse des "Dritten Reichs", vor allem des Mordes an
Juden, auszudrücken) hat tatsächlich etwas Religiöses an sich, jedenfalls
was Intensität und Emotionalität der Erinnerung angeht. Der Begriff des
Gedenkens legt ja eine religiöse Haltung nahe. Auch die Tatsache der
Festlegung eines bestimmten, jährlich wiederkehrenden Tages, an dem dieses
gemeinsames Gedenken stattfindet, ist eine Ritualisierung die religiöse
Elemente, wie zum Beispiel Gebete, enthält.
Soweit dürfte Einigkeit
herzustellen sein. Aber schon bei der Gestaltung und der daraus
abzuleitenden Bedeutung dieser ritualisierten Erinnerung kann man
Unterschiede feststellen.
In religiösen und
theologischen jüdischen Kreisen ist über den Zusammenhang zwischen "dem, was
geschah" und Fragen des Glaubens schon lange nachgedacht worden. Sowohl in
orthodoxen als auch in reformierten Kreisen. Dazu braucht man nicht nur an
die jüngsten Äußerungen des sephardischen Oberrabbiners in Jerusalem, Ovadia
Josef, zu erinnern. Der soll gesagt haben, dass die Opfer gestorben seien
für Sünden, die sie in einem früheren Leben begangen hätten. Meines Wissens
ist die These erstmals in einer Yeshiva des Shanghaier Gettos formuliert
worden wonach die Verfolgung der Juden eine göttliche Strafe für den Prozess
der Assimilation in Deutschland gewesen sei. Ich erinnere mich auch, in den
sechziger Jahren gelesen zu haben, dass in Kreisen des Reformjudentums in
den Vereinigten Staaten der Gedanke formuliert wurde, dass die
Judenverfolgung im Dritten Reich in der Identitätsgeschichte des jüdischen
Volkes eines Tages einen Platz einnehmen würde wie der Auszug aus Ägypten.
Pessach, Purim, und
Chanuka sind religiöse Feiertage, anlässlich derer an die Verfolgung von
Juden in unterschiedlichen Epochen ihrer Geschichte gedacht wird. An jedem
dieser Anlässe wird aber nicht nur an die Verfolgung und die Gefahr der
Ausrottung erinnert, sondern gleichzeitig wird an den Triumph der Errettung,
und an die Würde des Widerstands erinnert. Das ist im Falle des Jom Hashoah
in Israel – und in der Diaspora - nicht anders. In Israel ist der Tag des
Gedenkens eingebettet zwischen andere Gedenktage, zum Beispiel den an die
Toten und Gefallenen der Kriege Israels, und ist in unmittelbarer Nähe zum
staatlichen Unabhängigkeitstag. Aus diesem Gedenken speist sich, ein Teil
der Identität von Juden.
So gesehen ist es
verständlich, wenn Nichtjuden durch diese "Sakralisierung" irritiert sind.
Bedeutet doch die Erinnerung an die Opfer der Verfolgung auch zwangsläufig
die Erinnerung an die Täter. Die kann man weder betrauern noch positiv in
die Erinnerung hereinnehmen. Und wenn die Nichtjuden dann auch noch die
Nachkommen der Täter sind – mit ererbter Verantwortung, aber ohne jede
Kollektivschuld - empfinden sie zwar, die Erinnerung an die Opfer, für
richtig und notwendig, können sie aber nicht mit den Nachkommen der Opfer
teilen.
Viele unter ihnen
scheinen einen Weg aus diesem Dilemma zu suchen. Peinlichkeiten, die wir in
den vergangenen Jahren oft genug erleben konnten – von der Rede des
damaligen Bundestagpräsidenten Jenninger, der anschließend seinen Posten
räumen musste, weil man seinen Versuch, zu erklären, was gewesen ist,
verstehen konnte als ein Buhlen um Verständnis für die Machtergreifung der
Nazis- sind dafür ein Beispiel. Genauso wie die jahrelange Debatte um das
Berliner Mahnmal, von dem noch immer gezweifelt wird, ob es am Ende
tatsächlich entstehen wird. Manche aber reagieren auf dieses Dilemma mit
Aggressionen. Wie Martin Walser, wie jener Psychoanalytiker, den ich
eingangs erwähnte. Und wie die zahlreichen anonymen Neonazis.
hagalil.com
2007
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