Von Andrea Livnat
Norbert Frei gehört zu den führenden Zeithistoriker in Deutschland und
hat sich bereits in zahlreichen Publikationen mit "Vergangenheitspolitik"
beschäftigt. In diesem neuen Band, bei C.H.Beck erschienen, findet sich eine
Sammlung von acht bereits erschienen Essays, die um zwei für den Sammelband
neu geschriebenen Beiträge ergänzt werden. Der Zeitpunkt der Erscheinung ist
nicht nur richtig, sondern auch wichtig, ergänzt sie doch die gegenwärtige
Hochkonjunktur zu Fragen der Erinnerungskultur um einen wissenschaftlichen
Beitrag.
"Soviel Hitler war nie", konstatiert Frei, "eine Flut von Filmen,
Fernsehbildern und Erinnerungen bringt uns, den Nachgeborenen, "1945" näher
denn je". Doch in wiefern ist diese Entwicklung der letzten Jahre
tatsächlich ein Teil der aufrichtigen und selbstkritischen
Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit? Wir stehen an einem
Epochenende, das Frei als Übergang von der Zeitgenossenschaft zur "Arena der
Erinnerungen"" bezeichnet. Das vergangene Jahrzehnt habe sich als "Dekade
der Zeitzeugen" erwiesen, in den Medien rückten immer mehr "die Menschen in
den Vordergrund - ihr Leid wie ihre Verbrechen, ihre Handlungsspielräume wie
deren Grenzen".
Dabei habe es auch einen Prespektivenwechsel gegen, von den Opfern der
Deutschen zu den Deutschen als Opfer. Die Ausführungen über den
"Bombenkrieg" von Jörg Friedrich hält Frei noch immer für eine Ausnahme,
doch könne man immer mehr und öfter "erstaunlich unpolitische Töne einer
privatistischen Geschichtsbetrachtung (vernehmen), in der sich die
Unterschiede zwischen Tätern, Opfern und Mitläufern verwischen." Die Rede
von Martin Walser in der Paulskirche sieht Frei dabei als das spektakulärste
Beispiel für sich wandelnde Positionen, seitdem sei die Suche nach einer
Definition des Verhältnisses zur deutschen Vergangenheit aus neuem
Blickwinkel eröffnet.
In aller Deutlichkeit weist Norbert Frei auf eine Situation hin, die
meines Erachtens besondere Aufmerksamkeit erfordert. Die Begegnung mit der
Kriegsgeneration in jenem Epochenübergang führt zu einem Prozess der
Diffusion, der auch die Wahrnehmung auf die Generation des Krieges
beeinflusst und zu einem Transfer von Empathie führt. Die Deutschen der
"ersten Generation", so Frei, rücken dorthin zurück, wo sie sich selbst 1945
gesehen haben, als Opfer des Nationalsozialismus. Die Folge daraus ist für
die Formen der Erinnerung in der Zukunft von besonderer Brisanz: "Damit
stehen, weil die Täter fast ausnahmslos gestorben sind, den wenigen noch
lebenden Opfern des Holocausts und anderer nationalsozialistischer
Verbrechen sowie deren Kindern und Kindeskindern inzwischen immer mehr
Deutsche gegenüber, die sich ihrerseits als Opfer begreifen."
In verschiedenen Kapiteln behandelt Norbert Frei die Nachgeschichte des
Nationalsozialismus und untersucht dabei unter anderem das Epochenjahr 1933,
den Mythos Stalingrad, Justiz und Zeitgeschichte nach 1945 und Geschichte,
Geheimnis und Gedächtnis von Auschwitz. Die Untersuchung der Nachgeschichte
jener "Erinnerungsorte" der deutschen Geschichte legt den Blick frei auf
kollektive Mythen, "die Europa auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs noch beschweren." In der Zukunft werden neue
Anstrengungen gefragt sein, wenn es um die Vergegenwärtigung der
nationalsozialistischen Vergangenheit geht, bilanziert Norbert Frei. Dazu
sei nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung nötig, sondern auch Wissen und
ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein.
Norbert Freis Band leistet sicherlich einen wertvollen Beitrag
zur Forschung der Zeitgeschichte und Erinnerung und ist dabei auch für das
breite Publikum mit großem Gewinn zu lesen. Gerade in dieser Zeit der
"Neujustierung unserer Geschichtsverhältnisses" ist eine eindringliche
Stimme, wie die von Norbert Frei, besonders von Nöten.
Norbert Frei:
1945 und wir
Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen
C.H. Beck Verlag 2005, Euro 19,90,
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