Interview mit Claude Lanzmann
"Sobibór, 14. octobre 1943, 16 heures"
beruht auf einem 1979 in Jerusalem während der Dreharbeiten zu "Shoah"
gefilmten Interview mit dem aus Polen stammenden Juden Yoshua Lerner. In der
Endfassung des Films wurde dieses Gespräch aus inhaltlichen Gründen nicht
mehr verwendet. Bei einem Aufstand im polnischen Konzentrationslager
Sobibór, an dem Yoshua Lerner als Sechzehnjähriger teilnahm, spaltete er mit
einer Axt den Schädel des deutschen Offiziers Greischütz. Das Gespräch mit
Lerner kreist um diesen "mythischen Moment" (Lanzmann), der gleichzeitig den
einzigen erfolgreichen Aufstand einleitete, der je in einem
Konzentrationslager stattfand. In seinem neuen Film verbindet Claude
Lanzmann das damals geführte Interview mit heutigen Aufnahmen der Orte und
Landschaften, die Lerner vor und während der Deportation durchquerte. Je
nach Interpretation ist "Sobibór, 14. octobre 1943, 16 heures" die Ergänzung
oder die Fortschreibung von "Shoah". Er wurde bei den Filmfestspielen in
Cannes in einer Spezialvorführung gezeigt und von einer Podiumsdiskussion
begleitet.
Interview KATJA NICODEMUS
taz: Claude Lanzmann, Ihr neuer Film besteht zum Großteil aus einem
bereits 1979 gefilmten Gespräch, in dem der aus Polen stammende Yoshua
Lerner erzählt, wie er im Konzentrationslager Sobibór einen deutschen
Offizier erschlagen hat. Eigentlich sollte das Material in Ihren
Dokumentarfilm "Shoah" eingehen. Warum haben Sie es damals nicht verwendet?
Claude Lanzmann: Weil die Aufstände nicht das zentrale Thema von
"Shoah" sind. Es geht um die Radikalität des Todes, die Radikalität der
Auslöschung, die Unentrinnbarkeit von alledem. Zwar kommen in "Shoah" auch
Aufstände vor, selbst der Aufstand von Sobibór, aber in reduzierter Form.
"Shoah" endet mit der Erhebung im Warschauer Ghetto, die fehlschlug. Dabei
wurden alle Aufständischen getötet, es ist ein Ende der völligen
Verzweiflung. Sobibór dagegen war der einzige erfolgreiche Aufstand, der je
in einem Konzentrationslager stattfand, alle deutschen Bewacher wurden dabei
umgebracht. Nun ist "Shoah" ein Film ohne Kommentar, dessen Konstruktion
allein auf seiner Verständlichkeit beruht. Hätte ich die Sobibór-Geschichte
unter dieser Prämisse hereingenommen, dann wäre er drei Stunden länger
geworden.
Warum haben Sie sich gerade jetzt entschlossen, aus der Erzählung
dieses Juden, der sich wehrt und zurückschlägt, einen eigenständigen Film zu
machen?
Ich habe einfach so viel Zeit gebraucht. Die Vorbereitung des Aufstandes,
der Plan, den Offizier und alle anderen Deutschen zu exekutieren, all das
hätte allein noch keinen Film ergeben. "Sobibór, 14. octobre 1943, 16
heures" ist ein Film, der aus Yoshua Lerner besteht, und dafür muss man
verstehen, wer er ist. Dafür musste ich in die Gegend zurückkehren, in der
alles stattgefunden hat. Ich musste die Landschaften und Orte filmen und
daraus eine Geschichte konstruieren. Lerner hat es tatsächlich fertig
gebracht, aus acht Konzentrationslagern zu fliehen, bevor er in Sobibór
gelandet ist. Es war also nicht einfach irgendjemand, der den Schädel des
Offiziers Greischütz mit einer Axt gespalten hat. Dass dieser Film, der ihm
allein gehört, dann so viel Kraft und Spannung bekommen hat, darauf bin ich
stolz.
Demnächst wird "Shoah" in Frankreich auf DVD herauskommen, auch in
Auszügen für den Schulunterricht. Glauben Sie nicht, dass "Sobibór" jetzt
auch dazu gehört?
Ich hoffe sehr, dass der neue Film ebenfalls verbreitet wird. Denn er
zeigt eine andere Seite, den Mut und den Heroismus. Und er zeigt, dass man
manchmal sein Leben aufs Spiel setzen muss. Das Schöne an der Geschichte
ist, dass der Tod im Konzentrationslager zwar eine sichere Sache war, doch
Lerner und seine Kameraden wollten die Form ihres Todes selbst wählen.
Einmal sagt er den Satz: "Abgesehen vom Tod hatte ein Jude dort nichts zu
gewinnen."
An deutschen Schulen zum Beispiel wurde die Beschäftigung mit dem
Holocaust oft auf eine Fortsetzung der Opfergeschichte reduziert. Sechs
Millionen Opfer sind eine abstrakte Größe, von der man fast erschlagen wird.
War Ihnen Yoshua Lerners Geschichte auch deshalb wichtig, weil er aus diesem
Opfersein herausgetreten ist?
Ich bin überzeugt, dass es gerade für die Deutschen wichtig und
interessant ist, einen Juden wie Yoshua Lerner zu sehen, der darauf
bestanden hat, wieder ein Subjekt zu werden und gegebenenfalls als Subjekt
zu sterben. Der Holocaust war ja nicht nur ein Massaker an Unschuldigen,
sondern vor allem an wehrlosen Menschen. Vor diesem Hintergrund ist der
Augenblick, in dem dieser sechzehnjährige Junge im Konzentrationslager die
Axt erhebt und einen deutschen Offizier tötet, für mich ein mythischer
Moment. Yoshua Lerner lebt heute übrigens in Israel. Was er erzählt und wie
er als Mensch, der zuvor nicht einmal daran gedacht hatte, jemanden zu
töten, zur Waffe greift, hat auch sehr viel mit den Wurzeln des heutigen
jüdischen Staates zu tun.
Sie selbst haben Sobibór als "Wiederinbesitznahme der Gewalt durch die
Juden" bezeichnet. In welchem Zusammenhang steht dieser Film mit "Tsahal",
Ihrem Dokumentarfilm, den Sie 1994 über die israelische Armee gedreht haben?
"Tsahal" hat sehr viel damit zu tun. Die jüdische Armee ist ja nicht
einfach so von selbst entstanden. Für Menschen, die mit Waffen nicht
vertraut waren und keinerlei militärische Tradition hatten, musste das alles
aus kleinen Teilen zusammengesetzt und sozusagen neu erfunden werden.
Insofern gibt es eine wirkliche Verbindung zwischen der Gewalt, die
"Sobibór" schildert, und der Armee, die in "Tsahal" beschrieben wird.
Nehmen wir einmal an, Sie würden "Tsahal", der ja sehr umstritten ist,
heute noch einmal drehen. Würden Sie die israelische Armee vor dem
Hintergrund der aktuellen Gewaltexzesse etwas kritischer untersuchen?
Nein, ich würde den Film genauso drehen. Trotz allem, was man erzählt,
und trotz der Propaganda, die heute verbreitet wird und in der man die
Israelis als Schlächter und Mörder darstellt. In "Tsahal" ging es mir darum,
zu zeigen, dass diese Armee einen nicht gewalttätigen Ursprung hat.
Natürlich gibt es auch in der israelischen Armee Sadisten und Typen, die
gerne töten, aber ich bin davon überzeugt, dass es weniger sind als anderswo
- und ich kenne diese Armee sehr gut. Was heute in Israel passiert, hat
weniger mit dieser Armee als mit den Politikern zu tun.
Als Filmemacher haben Sie immer gefordert, dass man den so genannten
Zeitzeugenberichten eine Form geben muss. Wie stehen Sie zu den Aktivitäten
von Steven Spielbergs Shoah Foundation?
Ich drehe Kinofilme, und diese Film haben nichts mit dem zu tun, was
Spielberg da treibt und was sich "oral history" nennt. Was soll das
eigentlich sein, diese amerikanische Erfindung einer "oral history"? Und was
ist dann die "visual history"? Ich mache ganz bewusst keinen Unterschied
zwischen Bild und Wort, sie sind ineinander verwoben.
Was genau werfen Sie Spielbergs Methode vor?
Spielberg ist inzwischen eine Art Big Brother der Erinnerung. Nehmen Sie
"Shoah", einen Film über den Tod, nicht über das Überleben. Es gibt darin
keinen einzigen Überlebenden, es gibt allenfalls Wiedergänger, die fast
schon im Jenseits über dem Boden des Krematoriums schwebten und
zurückgekommen sind. Diese Menschen sagen niemals "ich", sie erzählen nicht
ihre eigene Geschichte. Sie sagen "wir", weil sie für die Toten mit
sprechen. Es sind sehr bescheidene, einfache Menschen. Und aus dem, was sie
sagen, entsteht kein Abenteuerroman. Ich erzähle nicht, wie sie überlebt
haben, wie sie entkommen sind, was aus ihnen geworden ist. Wenn Steven
Spielberg hingegen die Leute auf Video über ihr Leben Auskunft geben lässt,
dann ist das vielleicht gut für die Familien, die ihre Angehörigen in
Erinnerung behalten wollen. Alles was darüber hinausgeht, braucht jedoch
eine künstlerische Form. Spielberg sammelt nur persönliche Geschichten, die
aber keinen größeren Sinn ergeben. Seine Shoah Foundation hat noch dazu
einen furchtbaren Kinofilm gemacht: "The Last Days". Darin werden die
Erzählungen zerschnitten und mit Musik unterlegt. Das ist ein Albtraum.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der
taz - die tageszeitung
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