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Nach der Shoah:
Erinnerungskultur und historische Verantwortung

Aus Ulrich Baers Einleitung zu "Niemand zeugt für den Zeugen"

"Niemand / zeugt für den / Zeugen" lauten die Schlußzeilen von Paul Celans Gedicht "Aschenglorie". Ein Zeuge, in Celans Gedicht und allgemein, steht ein für etwas anderes: für das Eingedenken des Schicksals anderer und für Geschehen, die sonst dem Vergessen oder Verdrängen preisgegeben sind.

Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet hat. Celan erinnert uns zunächst an die radikale Isolierung und absolute Singularität des Zeugen. Die Aussage eines Zeugen kann weder durch die Aussage einer anderen Person noch durch eine andere Aussage ersetzt werden. Doch steht neben Isolierung und Singularität noch weiteres: Eine Aussage wird erst dadurch zu einem Zeugnis, dass sich der Zeuge in seiner Erzählung an einen anderen richtet. Die persönlichen Belange des Zeugen werden erst in der Ansprache an andere überschritten, und die Aussage des Zeugen steht erst dann, durch diese Ansprache und diesen Anruf um Gehör, für eine universelle Wahrheit ein.

Zeugen verlangen von ihrem Publikum eine Antwort, und diese Forderung verhallt ungehört, wenn niemand zuhören will oder kann. Im vorliegenden Band ("Niemand zeugt für den Zeugen") geht es um diese Aufforderung an die Zuhörer eines Zeugen. Sie impliziert, zumindest teilweise Verantwortung für die von anderen bezeugte Wirklichkeit zu übernehmen. Es geht um die Verpflichtung und um die Möglichkeit, "für den Zeugen zu zeugen", indem wir auf die in jedem Zeugnis erhaltene Aufforderung zum Zuhören und zur Antwort dadurch reagieren, daß wir für die Wahrheit der bezeugten Erfahrung mitverantwortlich werden.

..."weiter im Osten"

Celan bezeichnet die bezeugte Wirklichkeit in "Aschenglorie" als "Das vor euch, vom Osten her, Hin- / gewürfelte, furchtbar". Er verknüpft in diesen Zeilen die alttestamentarische Prophezeiung einer drohenden Vernichtung des Volkes Israel durch Feinde "aus dem Osten" mit Stephane Mallarmes Sinnbild des Würfelwurfs, das für den französischen Dichter schon 1892 für eine willkürlich erfahrene Realität einsteht.1
Das "Furchtbare", von dem Celan in seiner Dichtung Zeugnis abzulegen versucht, wird durch dieses eng verfugte Bild aus Jesajah und Mallarme als vormodern und jenseits des menschlichen Verstehens und zugleich als unvorhersehbar und außerhalb jeglicher "großen Erzählung" und somit als spät- oder postmodern gekennzeichnet.2 Doch für den Czernowitzer Juden Celan kam 1941 "das Furchtbare" nicht "vom Osten her", sondern aus dem Westen. Die systematische Vernichtung von Celans Familie, Freunden und Bekannten und seiner Welt, der Massenmord an den europäischen Juden, wurde dirigiert von "Meistern aus Deutschland". Trotzdem spricht Celan von etwas Furchtbarem "vom Osten her", da der Zeuge in seinem Gedicht mehr bezeugt als diese historisch und geographisch spezifische Katastrophe. Ihm fällt die Aufgabe zu, gerade auch die Spuren und Nachwirkungen der Vernichtung zu sondieren, die den historisch spezifischen Rahmen sprengen, da sie scheinbar erst heute aus dem "mythischen Gebiet "weiter im Osten", wo die NS-Verwaltung die endgültige Deportation der Juden situierte", zu uns stoßen.3

Celans Dichtung ist diesen Nachbeben gewidmet, die nicht immer als solche erkennbar sind und dennoch unsere Existenz als eine "nach Auschwitz" definieren. Da bald niemand mehr am Leben sein wird, der dieses "Furchtbare" erfahren oder mit eigenen Augen sehen musste, und um sowohl den Opfern der Gewalt als auch uns selbst gerecht zu werden, wächst für uns die Verpflichtung, "für die Zeugen", die die universelle Bedeutung einer Katastrophe singulär verkörpern, durch Wahrnehmung und Handlungen Verantwortung zu übernehmen.4
Im vorliegenden Band wird die Zeugenschaft als bislang übersehenes zentrales Moment in den Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Holocaust und den politischen, intellektuellen und persönlichen Entscheidungen über die Zukunft der Vergangenheit - über Erinnerungskultur und Entsorgung der Geschichte - herausgearbeitet. Ohne die Augenzeuginnen und -zeugen, von denen nach den Plänen der Täter niemand hätte überleben sollen, wäre unser Bild vom Holocaust böswillig verzerrt oder fehlte völlig.5

Die wenigsten der Täter hätten überhaupt geredet, die vorhandenen Dokumente wären nicht entschlüsselt oder verifiziert worden, die vorhandenen fotografischen Aufnahmen wären als militärisch gerechtfertigte Partisanenerschießungen u.ä. abgetan worden, und der weltweite Unwille, gegen die Verbrechen einzuschreiten, hätte sich als allgemeines Vergessen nach dem Krieg fortgesetzt. Ohne den Zorn der Überlebenden hätte es nicht schon 1943 Augenzeugenberichte über die Lager gegeben, die im Eigenverlag erscheinen mussten. Ohne Zeugen hätten die Nachkriegsgerichte wegen unzureichender oder nicht eindeutiger Beweislage wahrscheinlich noch mehr Freisprüche wie Orden verteilt und ehemalige Handlanger des Regimes rehabilitiert, wären die populären Blendwerke von Speer und anderen nicht widerlegt worden, und die Welt hätte die Orts- und Personennamen vergessen, die zu Synonymen der Vernichtung tradierter Vorstellungen von Kultur, Aufklärung und Fortschritt wurden.

"Es ist unser einziger armseliger Widerstand - dass nichts vertuscht wird, dass alle Zeugnisse erhalten bleiben", erklärt die Figur der Helene Marx schon 1933 ihrem ehemaligen Freund Karlanner, der zu den Nationalsozialisten übertritt und sie, als jüdische Deutsche, deshalb verlässt, in Ferdinand Bruckners Theaterstück "Die Rassen". Bruckner schrieb das erschütternde und dunkel prophetische Stück über die drohende Katastrophe nur wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung und seiner eigenen Flucht in die Schweiz; trotz seiner zeitgeschichtlichen und literarischen Bedeutung ist "Die Rassen" heute weitgehend vergessen.

Wir verdanken diesem Willen, Zeugnis abzulegen, von dem Bruckners Helene Marx spricht und der Bruckners eigene Schreibpraxis bestimmt, Victor Klemperers Tagebücher "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", wo die von der gesamten deutschen Bevölkerung mitangesehene tägliche Diskriminierung und Entwürdigung der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 minutiös beschrieben ist. Wir verdanken diesem Willen, daß Menschen wie der Historiker Emmanuel Ringelblum in den Jahren 1942 und 1943 die sogenannten "Oneg Shabbat"-Milchkannen mit unersetzlichen schriftlichen Zeugnissen des Untergangs und der Vernichtung der Warschauer Juden vergruben und daß die letzten Worte des bedeutenden russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow, den die Nazis 1933 aus Berlin vertrieben und am 8. Dezember 1941 im Getto von Riga auf offener Straße erschossen, überliefert worden sind: Shrayb un farshrayb, "Schreibt und zeichnet alles auf!"

Doch konnte auch dieser Wille der Zeuginnen und Zeugen nicht verhindern, dass die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen, durch die extrem traumatischen Erfahrungen der Schoah selbst zumindest teilweise zunichte gemacht wurde. Die Zeuginnen und Zeugen legen Zeugnis ab von eigenen Erfahrungen, die ihnen paradoxerweise oft selbst nicht gänzlich zur Verfügung stehen, deren Ursprung nicht immer klar ist und die sie möglicherweise nicht verstehen. Dem Holocaust ist eigen, dass wir dank der Zeuginnen und Zeugen von seinem Geschehen wissen und dennoch nicht verstehen.

In vielen Fällen gab es außerdem überhaupt keine Überlebenden, die Zeugnis hätten ablegen können, sondern nur vereinzelte, verzerrende Berichte der Täter. Zwei Juden überlebten Belzec, wenig mehr Chelmno (Kulmhof), 32 Sobibór, und von 800.000 überlebten durch einen mutigen Aufstand 52 Häftlinge Treblinka, von denen nur wenige nach dem Krieg Zeugnis ablegten. Manche Historiker stützen sich dennoch eher auf apologetische und euphemistische Dokumente der Täter und nur bedingt auf existierende Augenzeugenberichte und mündliche Überlieferungen, da die Zeugen selbst oft unerträgliche oder entwürdigende Details ihrer eigenen Erfahrungen auslassen, angeblich nichts zur "historischen Faktenlage" beitragen oder - was in Berichten über die systematischen Zerstörungsversuche von kollektiver und individueller Identität ein fragliches Kriterium ist - da sie zu "subjektiv" sind.6 Oder nicht direkt betroffene Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie der Franzose Andre Schwarz-Bart, die Amerikanerin Cynthia Ozick, der Israeli David Grossman, der Deutsche Günter Grass oder die Österreicherin Elfriede Jelinek müssen Verantwortung für die Wahrheit einer Geschichte übernehmen, deren Überlieferung denjenigen, die diese Geschichte selbst durchmachen mussten, nun nicht noch zusätzlich aufgebürdet werden kann.7 Damit die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt, benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als "Zeugenschaft der Erinnerung" verstehen läßt.8
Auch dies ist Celans "für den Zeugen zeugen": die Aufnahme der Zeugenaussagen im Bewußtsein, dass auch unsere Zeugenschaft heute in Frage gestellt ist. Wenn die ursprünglichen Zeugen sprechen wollen, muss ihre Last geteilt werden. Da die Zeuginnen und Zeugen als Gedächtnisträger jedoch singulär und nicht zu ersetzen sind, müssen die Grenzen und Risiken dieser Form der sekundären Zeugenschaft sorgfältig untersucht werden.

Wie steht es also mit dieser Verpflichtung und der Möglichkeit, zusammen mit den Zeuginnen und Zeugen von Geschehen, welche die Rahmen des Verstehens und der Erfahrung überschreiten, Verantwortung für eine Vergangenheit zu übernehmen, die man selbst nicht direkt erlebt hat?

Maurice Blanchot hat den Holocaust als "Ereignis ohne Zeugen" bezeichnet: als eine Krise der Zeugenschaft, die individuelle und kollektive Verhaltensweisen bis in die Gegenwart bestimmt, da das geschichtliche Ereignis die Möglichkeit der Zeugenschaft radikal in Frage stellt.

"Die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen", so Blanchot, "ist die Verpflichtung einer Zeugenschaft, die nur von unmöglichen Zeugen - von Zeugen des Unmöglichen - abgelegt werden kann, und nur in der Singularität eines jeden einzelnen; manche haben überlebt, doch ihr Über-Leben ist nicht länger Leben, es ist der Bruch mit der lebenden Bejahung, die Bezeugung dessen, dass das, was das Leben ist (nicht das narzisstische Leben, sondern das Leben für den anderen) den entscheidenden Anschlag erlitten hat, der nun nichts mehr intakt lässt."9

Die Autorinnen und Autoren des Bandes "Niemand zeugt für den Zeugen" stellen sich den Auswirkungen dieser historischen Krise der Zeugenschaft und diesem Über-Leben, das nicht länger Leben im herkömmlichen Sinne ist. Statt sich auf die mittlerweile zu Klischees abgewerteten Begriffe der "Unsagbarkeit" oder "Undarstellbarkeit" von Auschwitz zu berufen, mit denen direkt nach dem Krieg die weitverbreitete Indifferenz gegenüber den Zeugnissen von Überlebenden gerechtfertigt wurde und die z. B. von Jorge Semprun und Georges Perec in ihren Werken bekämpft werden, arbeitet der vorliegende Band Fragen heraus, die über die historische Spezifizität des Holocaust hinausgehen.10

Die nicht nachlassende Beschäftigung mit dem Holocaust als Ereignis, das unser Begriffs- und Deutungsvermögen übersteigt, wird darauf zurückgeführt, dass moralische, politische und kulturelle Grundannahmen der Nachkriegsdemokratien sich nur im Bewusstsein der radikalen Krise der Zeugenschaft verstehen lassen, als die der Holocaust hier erstmalig konsequent verstanden wird.

Können Personen, die ein traumatisches Ereignis selbst nicht erlebt haben, für die Zeugen, die ihre eigenen Erfahrungen aufgrund der aus dem Trauma resultierenden Ohnmacht selbst nicht gänzlich belegen können, eine Art Mitverantwortung für die Vergangenheit oder sogar eine Art "stellvertretende Zeugenschaft" übernehmen?

In der deutschen Forschung sind theoretisch fundierte Überlegungen zur Zeugenschaft, wie sie hier vorgestellt werden, noch ein Desiderat.11 Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Berichte der nichtjüdischen Zeitzeugen und der Täter lassen sich in der Regel in "den Rahmen kultureller Erinnerungsmuster" der deutschen Nachkriegsgesellschaft einpassen und machen somit eine theoretisch fundierte Erfassung des Aktes und der Bedingungen der Zeugenschaft nicht erforderlich.12 Die Rezeption der Berichte von jüdischen Überlebenden wiederum beschränkt sich weitgehend auf zum Teil in hohem Maße literarisierte Darstellungen, die tradierten Erzählmustern folgen. Der Welterfolg von zwei so unterschiedlichen Werken wie Elie Wiesels Nacht und dem Tagebuch der Anne Frank rührt beispielsweise auch daher, wie diese beiden Publikationen ganz bewusst - und notwendigerweise - auf ein nicht ausdrücklich jüdisches, sondern allgemeines europäisch-amerikanisches Publikum zugeschnitten wurden.13 Die Ehrfurcht im Umgang mit den Zeugenaussagen von Überlebenden mag selbst der begründeten Furcht entspringen, dass kritische Ansätze sich allzu leicht als Ausdruck niederer Motive auslegen lassen.
Die theoretische Überlegung, dass es so etwas wie eine sekundäre oder stellvertretende Zeugenschaft gibt, könnte aber auch das Primat und die Authentizität des Augenzeugens in Frage stellen. "Authentizität" der Zeugenschaft bedeutet in diesem Kontext die Beweiskraft und Glaubhaftigkeit des Zeugnisses für eine von der Zeugin oder dem Zeugen erlebte Wirklichkeit. Geht man vom Primat der Zeugenschaft aus, so setzt man voraus, dass Augenzeugenberichte glaubhafter als Nacherzählungen sind, selbst wenn diese noch so einfühlsam und ausdrucksstark formuliert werden. Wird eine sekundäre Zeugenschaft jedoch anerkannt, zersetzen wir dann nicht die vielbeschworene Differenz zwischen den ursprünglichen, authentischen Erfahrungen der Opfer und dem Nacherleben derjenigen, die später auf deren Aussagen treffen?14 Sobald man die Mithilfe an und die aktive Aufnahme der Zeugenschaft so versteht, dass jemand "für die Zeugen zeugt" und für die Wahrheit dessen, was man nicht selbst erlebte, eine Verantwortung übernimmt, droht der Unterschied zwischen authentischer Erfahrung und vorgestelltem Leid, zwischen geschichtlicher Wahrheit und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Rhetorik, zwischen Fakt und Fiktion zu schwinden.

Es wäre jedoch falsch, die sorgfältige Analyse der Unterschiede, der Struktur und insbesondere die Auseinandersetzung mit der erschütternden Spaltung im Inneren der Zeugenaussagen abzulehnen, da solche Gedankengänge unweigerlich dazu führen würden, daß man der extremen Erfahrung, wie sie die Überlebenden erlitten, ihre singuläre Bedeutung oder Wirklichkeit abspricht. Die Begriffe des "Authentischen" und der "Erfahrung" sind in diesem Jahrhundert auf das Furchtbarste durch Ereignisse erschüttert worden, die die Grenzen des Erfahrbaren überschritten. Die Zeuginnen und Zeugen extremer Katastrophen tragen die Erinnerung an eine Erfahrung in sich, deren Mitteilung keinesfalls immer befreiend wirkt, sondern selbst als traumatisch erlebt wird. Die zerstörerische psychische Gewalt des ursprünglichen Traumas lässt in vielen Fällen eine Einarbeitung in das Gedächtnis nicht zu. Diese als "Fremdkörper in der Seele"15 empfundene Erinnerung drängt auf Mitteilung und muss möglicherweise zugleich vom Bewusstsein der Zeugin oder des Zeugen ferngehalten werden, da durch die Zeugenaussage Affekte mit einer dem ursprünglichen Trauma fast vergleichbaren Gewalt hervorbrechen können. Indem von dieser Wirklichkeit vor einer anderen Person Zeugnis abgelegt wird, kann die einzelne Person durch diese Mitteilung vom psychischen Druck der Erinnerung zumindest teilweise entlastet werden. Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen und um diese Erleichterung zu ermöglichen, bedarf es dieser zuhörenden Person, die eine Art der zweiten Zeugenschaft übernimmt.

Doch sollte man die antithetischen Begriffe der "authentischen Erfahrung" und der "sekundären Zeugenschaft" oder des "Nacherlebten" nicht einfach verwerfen. Sie lassen sich vielmehr unter Berücksichtigung eines nuancierten Verständnisses der wesentlichen und paradoxen Nichterfahrbarkeit von traumatischer Erfahrung dekonstruieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen die Frage in den Vordergrund, inwieweit unser eigenes Denken und Verhalten in der Gegenwart einem nicht immer eingestandenen oder bewussten Verständnis dieser historisch belasteten Begriffe verschrieben ist. Beispielsweise wird uns der verdeckte Zusammenhang zwischen dem Alltagsbegriff der "Authentizität" und den belasteten Begriffen der "Echtheit" und "Reinheit", in deren Namen Millionen von Menschen für lebensunwürdig befunden und vernichtet wurden, erst langsam bewusst. Jacques Derrida hat die Ergründung dieser Verstrickung des eigenen Denkens und Sprechens in die Katastrophe als die unumgängliche Aufgabe unseres Denkens nach Auschwitz bezeichnet:

"Gäbe es aber eine solche Lehre, eine einzigartige Lehre unter den stets einzigartigen Lehren, die man aus einem besonderen Mord, aus allen kollektiven Vernichtungen der Geschichte ziehen könnte (jeder individuelle Mord, jeder Kollektivmord ist ein Singuläres, ist also unendlich und unvergleichlich), so wäre die Lehre, die wir heute daraus ziehen können (und wenn wir sie ziehen können, müssen wir es auch tun), die, dass wir die mögliche Mitschuld all dieser Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht, denken, erkennen, vorstellen, formatieren, beurteilen müssen."16

Statt den Begriff der Authentizität abzulehnen und damit die Singularität und nicht zuletzt auch Unentschiedenheit der Augenzeugenberichte in Frage zu stellen, zeigen die Beiträge dieses Bandes anhand der verschiedenen Formen und Dimensionen der Zeugenschaft, dass sich die Bedeutung von Authentizität in der Auseinandersetzung mit dem Wesen der Zeugenschaft verändert. Die Frage, wer das Recht auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit einer Aussage beanspruchen kann - wer beispielsweise die extremen Erlebnisse von Opfern darstellen oder wiedergeben darf, die sich der Erfahrung selbst entziehen -, findet ihre Antwort darin, dass Authentizität sich nicht in der Zeugenaussage lokalisieren lässt. Die Wahrheit der Zeugenaussage, so zeigen diese Beiträge, entsteht und existiert vielmehr nur in und durch ihre Mitteilung; ohne ein Gegenüber, ohne eine zuhörende Person, kann eine Aussage nicht zum Zeugnis werden. Alle Aufsätze widmen sich dieser schwierigen Einsicht im Bewusstsein der abgründigen und undurchdringlichen Stille, die sowohl hinter den leisesten wie auch ausdrucksvollsten Zeugenaussagen und selbst noch hinter dem Metapherngestöber der Kommentare herrscht; die Autorinnen und Autoren schreiben im Bewusstsein des Schweigens, das heute, aus dem Ereignis der Schoah heraus, von uns eine angemessene Antwort verlangt. Alle Beiträge verstehen das Wesen der Zeugenschaft als dialogischen Aufruf und Appell an die Verantwortung. Authentizität kann folglich nicht mehr so verstanden werden, als "gehöre" sie den Augenzeugen oder kennzeichne diese wie das unsichtbare Wasserzeichen in einem von der Geschichte selbst abgestempelten imaginären Pass. Authentizität ereignet sich vielmehr erst durch die Mitteilung des Zeugnisses an andere. Die diffizile Frage nach der Möglichkeit einer sekundären Zeugenschaft späterer Generationen wird somit nicht als Enteignung der Zeugnisse erster Hand aufgefasst, sondern als ein notwendiger und verantwortungsvoller und schließlich kritischer Vorgang der Rezeption und Aufnahme der Zeugnisse, durch welchen die Last der Überlieferung von Erfahrungen jenseits des Erfahrbaren mit den Zeuginnen und Zeugen geteilt wird.

Zeugnis ablegen zu müssen ist keine Auszeichnung. Für viele Überlebende von systematischer Gewalt wird der Moment, "wenn die Erinnerung kommt", um hier Saul Friedländers Ausdruck aufzugreifen, als weitere Traumatisierung erfahren. Die Aufgabe, Zeugnis abzulegen, scheint in manchen Fällen kaum vernarbte seelische Wunden wieder aufzureißen und die ursprüngliche Entwürdigung und das Leid zu wiederholen.

In ihrer Furchtbarkeit jagen die Zeugenaussagen über die Schrecken der Schoah nicht nur den Zuhörenden, sondern den Zeuginnen und Zeugen selbst Angst ein. So kommentiert ein norwegischer Überlebender von Dachau seine eigene Zeugenaussage mit den Worten, dass ihn die eigene Fähigkeit, unmenschliche Erfahrungen auszudrücken, nicht entlaste, sondern ihm im Gegenteil Furcht einflöße und ihn immer weiter von sich selbst entfremde.17 Die Selbstmorde von Paul Celan, Jean Amery, Primo Levi, Bruno Bettelheim und Richard Glazar und die Texte von Jorge Semprun sind ernüchternde Mahnungen daran, dass das Ablegen eines Zeugnisses oft wie unter Zwang geschieht und als überwältigende Verpflichtung keinesfalls immer befreit. Leicht verdecken Warnungen, dass Außenstehende als "sekundäre Zeugen" die Glaubwürdigkeit der Berichtenden und deren "Schlüsselrolle in der Erinnerung an den Holocaust" in Frage stellen könnten, den Mangel an Willen, sich der spezifischen Gewalt und der allgemeinen Bedeutung dieser Vergangenheit bewusst zu werden.18 Diese sekundäre Form der Zeugenschaft, wenn sie nicht usurpatorisch die Erfahrungen von anderen vereinnahmt, sondern durch das Ablegen des Zeugnisses Verantwortung mit den Zeuginnen und Zeugen teilt, wäre eine Antwort auf die Gefahr einer zweiten Traumatisierung dieser Zeugen.

Die Befürchtungen, daß die ursprünglichen Erfahrungen durch solche Zeugen zweiten Grades vereinnahmt werden können, entsprechen nicht immer dem Interesse oder dem Bedürfnis der traumatisierten Opfer. Auch wenn die singulären Erfahrungen ehemaliger Verfolgter vor der wiederholten Enteignung und Instrumentalisierung durch diverse Interessengruppen geschützt werden müssen, wird in solchen Argumenten leicht die radikale Entfremdung und Spaltung im Innern der traumatischen Erfahrung übersehen, die aufgrund der systematischen Erniedrigung und Vernichtung dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrer extremen Erfahrungen - der Splitter der Geschichte - nicht einfach durch eine "authentische" Zeugenaussage entledigen können. Um zum Erinnern und Gedenken beitragen zu können, benötigen die Zeuginnen und Zeugen oft selbst eine Art Hilfe - ein Gegenüber, zu dem der vorliegende Band ermutigen soll -, die in einem Bewusstsein über unsere sich fortwährend ändernde Aufnahmefähigkeit für die Grauen der Vergangenheit und Gegenwart gründen muss.

Durch eine Analyse der Möglichkeiten und Einschränkungen der Zeugenschaft nach der Schoah werden wir schließlich mit der Frage konfrontiert, ob wir heutzutage nicht außer für die Wahrheit geschichtlicher Ereignisse auch für die Geschehen in der Gegenwart, hier "bei uns" sowie "jenseits" der selbstgerechten Grenzen der eigenen Lebenswelt, eine Art Zeugenschaft und Verantwortung übernehmen können und müssen. Wenn das Bezeugen der Geschichte den Opfern selbst überlassen wird, versäumen wir eine wichtige Gelegenheit, das von anderen erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwart bewusst zu werden.

Es geht also nicht darum, "das authentische Geschehen der Vernichtung im eigenen Erleben wiederzuentdecken" - was immer dies bedeuten mag -, wie in Deutschland bisweilen angemahnt wird.19 Gerade im Land der Nachfahren der verängstigt oder angewidert Weitereilenden, der missgünstigen Zaungäste und Schaulustigen und derjenigen, die kurz nach dem Abtransport ihrer jüdischen Nachbarn und Bekannten "nach Osten" den Inhalt der von diesen zurückgelassenen Koffer und Taschen offiziell ersteigerten oder auf offiziellen Märkten für Spottpreise erstanden20, verleitet eine oft lähmende Ehrfurcht vor dem Primat der "authentischen" Zeugenschaft der Überlebenden dazu, die eigene unverarbeitete Geschichte auf Distanz zu halten und Auschwitz zu einem entfernten und "nicht darstellbaren" Ereignis zu erklären, zu etwas Furchtbarem, was "bei uns" nicht zu finden ist.

Es geht aber auch nicht darum, sich mit den Opfern zu identifizieren, denn im Versuch der Identifikation wird unweigerlich der brutale Anschlag auf die Identität der Opfer, welche die traumatische Erfahrung kennzeichnet, zugunsten der psychologischen Befriedigung der Zuhörer durch die Projektion des Selbst auf andere übergangen oder verkannt.

Auch wenn der Begriff einer kritischen sekundären Zeugenschaft in der Absicht abgelehnt wird, die teilweise jahrzehntelang ignorierten schriftstellerischen und künstlerischen Zeugnisse der Überlebenden als eigenständige Werke bruchlos der deutschen Nachkriegskultur einzuverleiben, ist das Risiko, dass diese Werke damit vergessen werden, zu hoch. Die Zeugenaussagen, die im Namen einer unantastbaren Authentizität somit letztlich sich selbst überlassen bleiben, werden in der Flut der Dokumente versinken. Geschichte erzählt sich nicht von selbst, und die Zeugenaussagen, die unsere Auffassung von Kultur, Sprache und Menschlichkeit radikal in Frage stellen und uns an die Grenzen des Bekannten und Vertrauten bringen, sind alles andere als selbstverständlich. Die Berichte von Überlebenden erfordern von uns kritische und kreative Formen der Antwort, deren theoretische und praktische Dimensionen im Band "Niemand zeugt für den Zeugen" analysiert werden. Wenn die Möglichkeit einer Mitverantwortung von Nichtbeteiligten für die Zeugenschaft der Vergangenheit noch nicht einmal erwogen wird, werden die Augenzeugen schließlich in eine intellektuelle Sperrzone der "Authentizität" verbannt, die den radikalen Weltverlust und die traumatische Isolierung der Betroffenen in der ursprünglichen Erfahrung nun auf der Rezeptionsebene zu wiederholen scheint. Außerdem entfällt somit der Gedanke, dass auch unbeteiligte, entfernte und später geborene Zuschauer nicht nur fähig, sondern verpflichtet sind, eine nachträgliche Form der verantwortungsvollen Zeugenschaft für die Aussagen der traumatisierten und somit per Definition psychologisch überforderten Zeuginnen und Zeugen zu übernehmen.

Der Begriff der sekundären Zeugenschaft betrifft nicht die "deutsche Schuldphantasie" einer Kollektivschuld, welche die Debatten der ersten Nachkriegsjahrzehnte, durch Karl Jaspers ursprünglich 1946 veröffentlichten Text Die Schuldfrage angeregt, bestimmte.21 Wie Lawrence Douglas im III. Abschnitt "Zeugenschaft und Medien" des Bands "Niemand zeugt für den Zeugen" belegt, vermieden die Alliierten den Begriff der Kollektivschuld schon in den Nürnberger Prozessen aus juristischen und politisch-strategischen Gründen; die Überlebenden selbst hätten einen solchen Vorwurf nur erheben können, wenn in Deutschland ein entsprechender "kollektiver" Wille existiert hätte, ihnen zuzuhören und auf diesen Vorwurf einzugehen. Die Deutschen waren nach dem Krieg für eine Weile damit beschäftigt, sich als Volk der vom "Führer" Verführten zu begreifen. Doch durch die Arbeiten von Walter Laqueur, Raul Hilberg, lan Kershaw und anderen Historikern ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Kollektivschuld vielleicht von Beginn an falsch gewichtet war.22 Auch wenn jüngere Beiträge zur Erinnerungskultur mit dem erhobenen Zeigefinger der Nachgeborenen selbstgerecht darauf beharren, bestand und besteht die überwältigende Mehrheit der deutschen Nachkriegsbevölkerung nicht aus den "Angehörigen und Nachkommen der Täter", willigen Vollstreckern oder einem politisch immer noch existierenden "Täterkollektiv",23 sondern aus Millionen von Zeuginnen und Zeugen.
Sicherlich läßt sich seit dem Medienwirbel um Daniel Goldhagens Bestseller und der vom Hamburger Institut für Sozialforschung vielerorts gezeigten Ausstellung über die "Verbrechen der Wehrmacht" die bestürzend hohe Anzahl von Tätern (und Zeugen) der fanatisch betriebenen Ausrottung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Osteuropa unter den deutschen Soldaten nicht mehr abstreiten. Doch die deutsche Zivilbevölkerung bildete in ihrer Mehrheit eine Gemeinschaft von Zeuginnen und Zeugen, die der systematischen Ausgrenzung, Entwürdigung, Beraubung, Diskriminierung, Misshandlung, Verfolgung und Vertreibung der Juden und "Zigeuner"24 aus ihrer Heimat beiwohnten, ein Prozess, der der systematischen Vernichtung "im Osten" neun lange Jahre vorausging.

Mit dem Begriff der sekundären Zeugenschaft wird das Problem der unzureichenden Strafverfolgung der Täter und die letztlich unergiebige Frage nach der Kollektivschuld, die den Diskurs bis in den Historikerstreit und die Denkmaldebatte hinein polarisierte und schließlich oftmals zum Erliegen brachte, durch die Fragestellung über die Verantwortung der Zuschauer, der Dabeistehenden, der Zeugen ergänzt. Die vorliegenden Beiträge widmen sich dieser Problematik der Zeugenschaft, da in der gedanklichen Annäherung an den Holocaust offen blieb, wo die Grenzen zwischen Passivität, Billigung, Zustimmung, Beifallsbezeugung, Mitverantwortung und Beihilfe zu ziehen sind. Alle Aufsätze in diesem Band gehen von der Frage aus, wie die Erfahrung, durch die man zum Zeugen von etwas wird - ohne notwendigerweise zu verstehen, was erlebt oder gesehen wird -, in den Akt umgesetzt werden kann, durch den von dieser Erfahrung Zeugnis abgelegt wird. Es geht um das Verhältnis zwischen dem nicht immer voll bewussten und oft passiven Zum-Zeuge-Werden und dem Ablegen eines Zeugnisses. Es geht darum, wie Einzelpersonen und ganze Teile der Gesellschaft zufällig oder gewollt ein Geschehen mitansehen, aber diesen Teil der Wirklichkeit - auf noch unzureichend verstandene Weise - dann ausblenden, d.h. nicht in ihr Bild der Realität einlassen können. Es geht darum, wann und wie der Akt der Wahrnehmung zum Akt des Bezeugens und schließlich zum Bewußtsein der Verantwortung für die mitangesehene Realität werden kann.

Daß diese Fragestellung heute von zunehmender Bedeutung ist und über die spezifische Situation des Holocaust hinausgeht, zeigen zwei eigenständige Positionen, die unabhängig vom medialen oder akademischen Diskurs über den Holocaust entwickelt wurden und zentrale Punkte der gegenwärtigen Debatte über Verantwortung umreißen. So argumentiert Hans Magnus Enzensberger 1993 in seinen provokanten Aussichten auf den Bürgerkrieg, worin er sich auch auf die deutsche Passivität während der Nazizeit bezieht, dass Verantwortung heute zu einer permanenten Überforderung geworden ist. "Jede Ethik der Verantwortung", schreibt Enzensberger in seinen Betrachtungen zu gewalttätigen Konflikten, die sich sowohl fern als auch in unserer Nähe ereignen, hat es mit der "quälenden Ausweglosigkeit zu tun, die sich am Extremfall zeigt".25 Diese Ausweglosigkeit resultiert aus folgender Lage: Da wir mittlerweile mit minimaler Verzögerung in Bild und Text Berichte von Grausamkeiten empfangen, die vor einem halben Jahrhundert erst Tage, Wochen oder Monate nach ihrem Geschehen an die Weltöffentlichkeit drangen, befinden wir uns pausenlos in einem Zustand der leichten moralischen Benommenheit oder, mit Enzensbergers Worten, in einer Lage der "psychischen und kognitiven Überforderung".26 Wie soll man auf das uns täglich ins Haus gelieferte Leiden in der Ferne angemessen reagieren?27 Wenn wir durch die Medien ein Geschehen live mitverfolgen können, das unser Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt, steht es uns dann noch frei, nur die am Ort Anwesenden und direkt Betroffenen für das Bezeugen dieses Vorfalls verantwortlich zu machen?

In seinen Überlegungen zu dieser ständigen moralischen Überforderung kritisiert Enzensberger die universalistische Ethik, da wir uns, wenn wir uns nach ihr richten, angesichts der medialen Überflutung mit schockierenden und unüberschaubaren Konflikten zwangsläufig einigeln und schließlich unsere moralische Entrüstung und unsere Reaktions- und Handlungsfähigkeit ganz abschalten. Enzensberger folgert daraus, dass wir die Nächstenliebe höher setzen sollten als die Fremdenliebe und uns "insgeheim" eingestehen müssen, dass wir uns zuerst, auch auf Kosten anderer, um unsere unmittelbare Umgebung und unsere eigene Zukunft - sprich "unsere Kinder" - kümmern sollten.28

Im Gegensatz zu dieser scheinbar "pragmatisch" orientierten Antwort auf die Krise der Zeugenschaft, in die uns die täglich übertragene Gewalt bringt, insistiert Derrida in Politiques de l'amitie, worin er die belasteten Begriffe der Freundschaft und Brüderlichkeit dekonstruiert, darauf, dass die Verantwortung nicht auf diese Weise dem berechnenden Denken preiszugeben sei.29

Im Kontext einer Lektüre der Texte zur Ethik von Emmanuel Levinas entwickelt Derrida Verantwortung als etwas, das per Definition unsere Fähigkeiten übersteigt und sich so "der Vorherrschaft der Interessen des Ichs entzieht".30

Wenn man Verantwortung im Rahmen des Machbaren und Möglichen und der Vor- und Nachteile einer Handlung kalkuliert, handelt man nicht verantwortlich, sondern berechnend. Derrida definiert den Begriff der Verantwortung als den Aufruf zur Anerkennung des Anderen, der uns vor jeglicher gesetzlichen oder empirischen Verpflichtung und vor der Möglichkeit erreicht, diesen Aufruf abzulehnen oder anzuerkennen. Derrida schlägt vor, den Begriff der absolut unberechenbaren Verantwortung nicht als Verwässerung und Nivellierung der Ethik, sondern als Vermittlung zwischen den partikularen Anforderungen der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem universalistischen Anspruch der Verantwortung zu denken.

Auch wenn Enzensberger und Derrida daraus andere Schlüsse ziehen, bestehen sie auf der grundsätzlichen Überforderung, die aus der Verantwortung entsteht, für die Erfahrung und die Aussagen von anderen zu zeugen. Zwischen den Partikularinteressen des einzelnen und den unerfüllbaren Anforderungen einer universellen Verantwortung lässt sich nun genau das Problem der Zeugenschaft als eine Handlung situieren, die sich nur im und als Austausch zwischen Personen oder Gruppen ereignen kann. Es geht im vorliegenden Band um die Gegenseitigkeit dieser Beziehung - um ebendiese vermittelnde Funktion zwischen dem universellen Anspruch der Verantwortung für andere und der singulären Bedürfnisse des einzelnen, die durch die Zeugin oder den Zeugen eingenommen wird. Es geht um die von Enzensberger und Derrida besprochene ethische Verpflichtung, für geographisch, kulturell oder zeitlich entfernte Geschehen - ob 50 Jahre zurück oder fünf Meter entfernt - Zeugnis abzulegen. Die Verfasserinnen und Verfasser des vorliegenden Bandes schreiben in dem Bewusstsein, daß die nach Auschwitz aufgeworfenen beunruhigenden Fragen nach der Authentizität und dem Primat der Zeugenschaft für niemanden vermeidbar sind. Da sie die Ehrfurcht vor einer sakrosankten authentischen Erfahrung durch eine Neudefinition des Begriffs der Verantwortung abbauen, wird deutlich, dass sich niemand für geschichtlich und geographisch ferne Geschehnisse unzuständig erklären kann. Ganz gleich, auf welche Identität oder Gruppenzugehörigkeit wir uns berufen, hat die Vernetzung der Medien uns alle zu Nachfolgern eben jener "Zuschauer" in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt gemacht, die vor einem halben Jahrhundert die von Deutschen ausgeführte Vernichtung der europäischen Juden geschehen ließen.

Unser eigenes Alltagsverhalten muss dieser Einsicht folgen und das Gefühl der moralischen Benommenheit, das eher zu- als abnimmt, in politisches Bewusstsein und Handlungen auflösen, durch welche die Rechte von Minderheiten untrennbar mit den Interessen der Mehrheit - in politischen, gesellschaftlichen und privaten Einrichtungen - verknüpft werden.

Die Auseinandersetzung mit den Leiden der Vergangenheit und den Leiden anderer kann in verantwortlichem Handeln münden, statt in der unmöglichen Einfühlung und Identifikation mit den Toten, in Verdrängung, in politisch lähmendem Mitleid, in melancholischer Fixierung oder im stummen Entsetzen über die schockierende Fremdheit der traumatischen Erfahrung zu enden.

Für den Zeugen zu zeugen, um auf Celan zurückzukommen, ist letztlich eine Aufgabe für uns selbst und bedeutet, um dies mit einer Formulierung von Cathy Caruth in diesem Band auszudrücken, "nicht das einfache Verstehen der [traumatischen] Vergangenheit von anderen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit, innerhalb der Traumata der zeitgenössischen Geschichte die Bewegungen zu vernehmen, die uns alle von uns selbst weggeführt haben". Die Auseinandersetzung mit den Traumata der Geschichte führt zu einer zentralen Frage dieses Bandes, wie sich eine ethische Position in der Gegenwart einnehmen lässt.

Die Tatsache, dass in den mittlerweile mit symptomatischer Regelmäßigkeit in den deutschen Medien inszenierten öffentlichen Debatten über das Nachwirken des Holocaust einige der hier aufgeworfenen Fragen bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden, kann als kulturspezifisches Phänomen erklärt werden. Das Denken über die "Erfahrung" der Schoah wird oft "Betroffenen" zugeteilt, als ginge dieses Ereignis nicht alle Deutschen so direkt an, daß auch wohlmeinende Distanz - die durch ein reges Interesse an jüdischem Leben und philosemitische Bekundungen keineswegs verringert wird - leicht zu Verleugnung und Selbstschutz auf Kosten anderer wird. An vielen Zeugenaussagen ist zu erkennen, dass diese selbst ihre Autorität in Zweifel ziehen - deshalb fragen die hier versammelten Autorinnen und Autoren nach der Bedeutung von Zeugenaussagen, die über ein Verständnis der Geschichte als Wissensbildung hinausgeht. Die vorliegenden Beiträge präsentieren theoretisch fundierte und pädagogisch umsetzbare Überlegungen dazu, wie die jetzt aufwachsenden Generationen die Geschichtserfahrungen ihrer Vorfahren bezeugen und Verantwortung für Geschehen in der Gegenwart übernehmen können.

"Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte", fragt Celan in dem 1965 verfassten Gedicht "Ich kenne dich". Celan lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass auch sekundäre Zeugenschaft eine Überforderung sein kann; dass die Zeuginnen und Zeugen zwar von einem Gegenüber entlastet werden können, doch dass diese schmerzliche Aufgabe für dieses Gegenüber dann ebenso unerträglich ist.

Jan Karski, der als Kurier der polnischen Exilregierung 1942 ins Warschauer Getto und ein Lager eingeschleust wurde und dann den Alliierten, dem amerikanischen Präsidenten und der Welt von der Massenvernichtung der polnischen Juden Bericht erstattete, bezeichnete seine gesamte Nachkriegsexistenz nach dem Erfüllen dieser offiziellen, aber auch persönlichen Aufgabe als emotional "leer" und ausgebrannt.31 Ebenso wie der Überlebende Abraham Bomba, der von seiner Aufgabe, Zeugnis abzulegen, völlig überfordert war, bricht Karski in Claude Lanzmanns Film Schoah vor der Kamera in Tränen aus und unterbricht das Interview, als er von seiner Besichtigung des Gettos vor Jahrzehnten berichten soll. Da wir als Zuschauer solcher Szenen in der Gegenwart der anhaltenden seelischen Belastung und der lebenslangen zerstörerischen Wirkungen dieser Geschichte selbst ebenso überfordert werden, brauchen wir Texte und Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können. Neben der Wichtigkeit der sekundären Zeugenschaft soll hier deshalb auch die Schwierigkeit unterstrichen werden, die entsteht, wenn wir versuchen, auf Zeugnisse verantwortungsvoll zu reagieren.

Wo besteht ein Wort, fragt Celan, "wo flammt ein Wort", welches diese zweifache Belastung seitens der Zeugen und seitens der Zuhörer zugleich bezeugen und mindern könnte? Das Wort, das diese Doppelung der Überforderung des Zeugen durch die Aufgabe des Publikums ausdrücken könnte, wäre ein "flammendes Wort": ein Wort, das auflodert, bevor es der Vernichtung durchs Feuer anheimfällt. Was zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.

Was für ein Gewinn lässt sich aus der Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen über eine so erschreckende Wirklichkeit wie die Schoah ziehen? In seinem Beitrag "Intellektuelle Zeugenschaft und die Schoah" (Abschnitt I. "Zugänge zur Zeugenschaft" von "Niemand zeugt für den Zeugen") entwickelt Geoffrey Hartman das Konzept der "intellektuellen Zeugenschaft", die die Zeugenschaft der Überlebenden nicht verdrängt, sondern deren Anspruch auf Zuhörerschaft gerecht wird. In seiner provokanten Verteidigung des kritischen Denkens und Lehrens und des reflektierenden Innehaltens untersucht Hartman, ob nach der Schoah die Rolle des Intellektuellen, wie vielerorts behauptet, wirklich einem notwendigen Pragmatismus weichen muss.

Auf Hartmans passionierte Rechtfertigung des Denkers im Umgang mit der Schoah folgt Lawrence Langers Aufsatz zur Zeiterfahrung in den Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden. Als Verfasser der wichtigsten Studien zu Videozeugnissen über den Holocaust zeigt Langer, wie der Holocaust nicht nur traditionelle Formen des Erinnerns, sondern auch das allgemeine Verständnis einer durch die Zeit sich entwickelnden Erfahrung zum Erliegen bringt. Durch eine genaue Analyse des Paradoxes der "fortwährenden Dauer" führt Langer vor, wie vorhandene zwangsläufig abstrahierende und teleologische Diskurse nach der Schoah umzudenken sind.

In ihrem Artikel legt Cathy Caruth dar, daß das Bezeugen des Traumas zwangsläufig die starre Zeitlosigkeit des Traumas durchbrechen muss und somit auch ein Sakrileg an seiner Integrität bedeuten kann. Wie auch Langer betont Caruth, dass der Appell an einen Zeugen schon immer in die traumatische Erfahrung eingeschrieben ist. Caruth erkennt die absolute Genauigkeit der traumatischen Erfahrung als ein Symptom des Leidens und weist darauf hin, dass diese Genauigkeit keinesfalls fetischisiert werden darf und nicht nur in Psychiatrie und Therapie, sondern für uns alle neue Formen der Darstellung, des Denkens und des Handelns erforderlich macht.

Die Frage, wie Überlebenden des Holocaust eine Art Hilfestellung für ihre Zeugenschaft gegeben werden kann, wird von Dori Laub in seinem Beitrag behandelt. Laub analysiert, inwieweit einzelne Zeugen in ihrem Versuch der Darstellung der traumatischen Vergangenheit von der Hilfe und notwendigerweise begrenzten Aufnahmefähigkeit anderer abhängen. Der Rahmen eines rein historisch orientierten Verständnisses der Wirklichkeit kann, so Laub, durch das Konzept einer dialogischen Zeugenschaft gesprengt werden. Die Beiträge von Hartman, Langer, Caruth und Laub erschweren es, den Holocaust weiterhin als eine eindeutige historische "Erfahrung" zu definieren. Sie bieten neue Möglichkeiten, die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen den furchtbaren persönlichen Erfahrungen der Opfer und unserem Verständnis der Geschichte, ohne eine Nivellierung dieser Erfahrungen, zu etwas Nachvollziehbarem in unser Denken einzulassen.

Die fortdauernde Gegenwart der Schoah und die Unmöglichkeit, das Ereignis einem Verständnis von chronologischer Zeit und Kausalität einzupassen, wird von Claude Lanzmann hervorgehoben. Als Autor des richtungweisenden Films Schoah erklärt Lanzmann, wie seine unerschütterliche Weigerung, das Geschehene zu erklären oder zu verstehen, die einzig mögliche Grundhaltung war, das Ereignis darzustellen. In der Beschreibung seines Films als einer Dokumentation nicht der geschichtlichen Vergangenheit, sondern der Gegenwart, in der die Zeugen ihre geschichtliche Bedeutung als handelnde Figuren heute nachspielen müssen, zeigt Lanzmann, dass seine eigene Rolle als Zeuge der Zeugen - und damit unsere Rolle als Zuschauer seines Films - noch nicht abgeschlossen ist.

In Shoshana Felmans Aufsatz zu Lanzmanns Film werden die verschiedenen Positionen ausgeleuchtet, die den Holocaust als Krise der Zeugenschaft kennzeichnen. Felman zufolge könne Lanzmanns Film eine Wahrheit bezeugen, die den auf sich selbst gestellten Zeugen nicht zur Verfügung steht. Die Wahrheit, die in der Geschichte unbezeugbar bleibt, wird hier als das erkennbar, was uns alle heute, ganz gleich wie wir uns selber definieren, im Hinblick auf die Zeugenaussage über die Belange der Geschichtswissenschaft hinaus zur Verantwortung ruft. Felmans Aufsatz versteht sich als Antwort auf Lanzmanns Werk, welches uns zum Hören und zur Auseinandersetzung mit den Zeugen - zur Aufnahme des Grauens und zu verantwortlichem Handeln - sowohl befähigt als auch verdammt.

Jared Stark erwägt die widersprüchlichen Forderungen, die durch jede Zeugenaussage von traumatischen Erfahrungen an uns gerichtet werden. Sollen die Erinnerungen einer Überlebenden des Holocaust genau so dargestellt werden, wie die Zeugin sie heute verstehen will, oder sollen die heutigen psychologischen Bedürfnisse der Zeugin den Maßstäben der historischen Genauigkeit, Faktizität und Verständlichkeit untergeordnet werden? Was für eine Verantwortung erwächst aus unserer angestrebten oder zufällig entstandenen Berührung mit einer Erfahrung, zu der die erzählende Person selbst nur eine fragile Verbindung hat? Wie können wir uns dieses Wissens wieder entledigen, ohne die ursprüngliche traumatische Isolierung und Ausgrenzung der Überlebenden und die weltweite Weigerung, die Realität der Verfolgung und des Leidens wahrzunehmen, ungewollt zu wiederholen?

Ähnlichen Fragen geht auch Robert Cohen in seiner Analyse der Rezeption von Peter Weiss' Die Ermittlung nach. Das Stück entfachte eine heftige Debatte über die Authentizität der Zeugenschaft und die Berechtigung, wer für die Opfer sprechen darf. In seiner Untersuchung der Identitätspolitik, die diese Debatte von Anfang an bestimmte, zeigt Cohen, inwieweit der gesellschaftliche Kontext Möglichkeit und Inhalt von Zeugenaussagen bedingt. Er umreißt damit auch das Dilemma, wie Auschwitz als Ereignis von universaler Bedeutung verstanden werden soll, das Grundannahmen unserer Gesellschaft in Frage stellt, wenn es zugleich als spezifisch jüdische Katastrophe definiert wird.

Der französische Historiker Pierre Vidal-Naquet untersucht, wie sich eine Zeugenaussage dem sich ändernden ideologischen und geschichtlichen Kontext anpaßt. Er widmet sich der Zeugenaussage von Germaine Tillion über ihre Erfahrungen in Ravensbrück, die 1946, 1973 und 1988 veröffentlicht wurde. Wie ändert sich die Rezeption dieser Aufzeichnungen, wenn Tillion dieselben Vorfälle im Kontext der jeweiligen politischen und historischen Situation anders erklärt? Zusätzlich überdenkt Vidal-Naquet das Verhältnis zwischen den zutiefst persönlichen Zeugenaussagen Überlebender und der sich immer noch weitgehend auf Täterdokumente stützenden Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus. Lanzmann, Felman, Stark, Cohen und Vidal-Naquet erforschen die Bedingungen, unter denen auf uns, als Zeugen der Zeugen, heute Verantwortung entfällt. Statt Schuld und Scham werden hier Möglichkeiten besprochen, sich in der aktiven Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen der eigenen Position in der Gegenwart bewusst zu werden.

Das Verhältnis der Medien zur Problematik der Zeugenschaft wird im letzten Teil des Bandes thematisiert. Um die scheinbare "Zeitlosigkeit" der technischen Medien zu betonen, die von der anhaltenden psychischen "Dauer" der traumatischen Erfahrungen nicht zu trennen ist, wird hier bewusst auf eine strikt chronologische Folge der behandelten Themen verzichtet. Lawrence Douglas geht der Frage nach, was im Holocaust überhaupt gesehen und somit bezeugt werden konnte. Er analysiert den Einsatz eines von den Alliierten produzierten Dokumentarfilms bei den Nürnberger Prozessen, um nachzuweisen, dass der Holocaust gerade in dem Augenblick aus dem juristischen und historischen Kontext ausgeblendet wurde, als er erstmalig der Welt bekannt gemacht werden sollte. Die Frage, wie Einzelpersonen oder eine ganze Gesellschaft vollkommen offensichtliche Geschehnisse "übersehen" können - wie und warum Zeugenschaft oft erst nachträglich einsetzt und warum eine Situation oft erst zu spät in ihrem Grauen erkannt wird -, wird hier im Kontext der institutionellen Wahrheitsfindung gestellt.

Bernd Hüppauf untersucht, was wir heute in den Bildern des Vernichtungskriegs sehen können und was die fotografierenden Täter damals sahen. Hüppauf stellt die Selbstverständlichkeit der primären Zeugenschaft in Frage und zeigt, dass die Fotos des Vernichtungskriegs sich nicht als bildliches Äquivalent oder Ausdruck der NS-Ideologie verstehen lassen. So wird ersichtlich, wie die Debatte über die Schuld der beteiligten Fotografen bisher den Blick auf die schwierigere Einsicht verstellt hat, dass die Täter selbst nicht sahen, was sie dennoch dokumentierten.

In meinem Aufsatz zu einer Fotografie von Dirk Reinartz gehe ich der Frage nach, wie ein Gefühl der Verantwortung für diejenigen entstehen kann, die den Holocaust nur aus dem Abstand von über einem halben Jahrhundert durch Darstellungen kennen. Der Rückgriff auf die ideologisch hochbelastete romantische Tradition der Landschaftsdarstellung im Werk eines deutschen Fotografen, der heute ehemalige Mordstätten fotografiert, belegt, dass Darstellungen des Holocaust sich nicht auf bestimmte Medien oder Konventionen beschränken lassen oder Schockeffekte einsetzen müssen. Ohne den Holocaust zu verkitschen, kann die aller Merkmale entleerte Landschaftsfotografie eines ehemaligen Vernichtungslagers zur Allegorie davon werden, dass die Position des Bezeugens der eigenen Geschichte für uns alle unausweichlich ist.

Dieser Unausweichlichkeit widmet sich auch Avital Ronell in ihrer Analyse des Fernsehereignisses, durch das die Welt Zeuge der rassistischen Brutalität der amerikanischen Polizei gegen den Afroamerikaner Rodney King wurde. Ronell macht deutlich, dass die Zeugenschaft, in der erst nachträglich erkannt wird, was man gesehen hat, für unsere allgemeine Verfassung in der Gegenwart maßgeblich ist. Adorno hatte auf die Eigenart des Faschismus hingewiesen, "äußerste technische Perfektion mit vollkommener Blindheit" zu vereinen.32 In ihren Überlegungen weist Ronell nachdrücklich darauf hin, daß die oft verteufelten Massenmedien die Kopplung von Staatsgewalt und Medientechnologien auf eine von Adorno nicht erkannte Art unterbrechen können, um uns zum Bezeugen der Gewalt in den heutigen Demokratien zu verpflichten. Die Auswirkungen der Schoah sind keineswegs vorbei, so Ronell, sondern manifestieren sich auf unvorhergesehene Weise an unerwarteten Orten. Gerade wenn wir annehmen, daß unsere Verantwortung für die Wirkungen der unverarbeiteten "Demozide" des 20. Jahrhunderts sich auf das passive Studium der Geschichte oder das Vertrauen auf den Einsatz von Streitkräften in strategisch oder politisch wichtigen "Krisengebieten" beschränkt, betont Ronell, daß auf uns sogar "zu Hause" vor dem Fernseher die unausweichliche Verantwortung entfällt, Zeugnis für die Gegenwart abzulegen.

Die abschließenden vier Beiträge des Bandes kehren damit zur ursprünglichen Frage zurück, ob die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht auch dazu verpflichtet, uns unserer eigenen Rolle als indirekte Zeugen der in der Gegenwart alltäglich durch die Medien vermittelten Gewalt bewusst zu werden. Statt das Wegschauen zu empfehlen, was einem moralischen und intellektuellen - d. h. kritischen - Abschalten gleichkommt, arbeitet Ronell Möglichkeiten heraus, wie das Mitwissen am Leiden anderer nicht instrumentalisiert, sondern zum Maßstab für das eigene Denken und Handeln werden kann.

  1. Vgl. Paul Celan, "Aschenglorie", in: Gesammelte Werke, hg. v. Beda Allemann, Stefan Reichert und Rudolf Bücher, Frankfurt/M. 1983, Bd. 2, S. 72, und Stephane Mallarme, "Un coup de des", in: Oeuvres Completes, hg. v. Henri Mondor und G. Jean-Aubry, Paris 1945, S. 457-477.
  2. Zum Holocaust als Ereignis "außerhalb der großen Erzählungen" vgl. Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 1987. In Anlehnung an Lyotard sind "Moderne" und "Postmoderne" nicht als chronologisch aufeinanderfolgende Epochen zu verstehen.
  3. Nadine Fresco, "Diaspora des cendres", in: Nouvelle Revue de Psychoanalyse 24(1981), S. 215.
  4. Außer den hier publizierten Aufsätzen zur Zeugenschaft vgl. auch Jacques Derrida, Demeure, Paris 1998; Sarah Kofman, Erstickte Worte, Wien 1988; Alexander Garcia Düttmann, Laparole donnee, Paris 1990.
  5. Zu den ideologischen, philosophischen und politischen Dimensionen der Termini "Holocaust", "Schoah" und "Auschwitz" vgl. auch Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, und Omer Bartov, Murder in Our Midst. The Holocaust, Industrial Killing, and Representation, New York 1996, bes. S. 56 ff.
  6. Zur Relevanz und Verläßlichkeit von Zeugenaussagen vgl. Raul Hilberg, "Developments in the Historiography of the Holocaust", in: Asher Cohen/ Joav Gelber/Charlotte Wardi (Hg.), Comprebending the Holocaust: Historical and Literary Research, Frankfurt / New York 1988, S. 28 ff. Um dem Gebot der "geschichtlichen Wahrheit" nachzukommen, beschränken sich die Herausgeber einer der ersten in Deutschland publizierten Bände mit wichtigen Dokumenten zur Vernichtung der Juden auf die Zeugenaussagen von überlebenden Wissenschaftlern, da diese "durch ihre nüchterne Sachlichkeit und [...] Vollständigkeit bestechen", und von Kindern, da diese sich "verständlichen Ressentiments [wie leidenschaftliche Ablehnung der Einrichtungen des Dritten Reichs] enthalten". Vgl. Leon Poliakov/josef Wulf (Hg.), Das Dritte Reich und die Juden: Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955, S. 1 und 250.
  7. Vgl. Andre Schwarz-Bart, Der Letzte der Gerechten, München 1964; Günter Grass, Die Blechtrommel, Darmstadt 1959, und ders., Schreiben nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1990; Cynthia Ozick, Rosa or The Shawl, New York 1988; David Grossman, Stich wort: Liebe, München 1994, und Elfriede Jelinek, Die Kinder der Toten, Hamburg 1997.
  8. Vgl. Geoffrey Hartmans Überlegungen zu dieser Fragestellung in "Sichtbare Dunkelheit", in: Der längste Schatten, Berlin 1999, S. 63-69. Vgl. auch Norma Rosen, "The Second Life of Holocaust Imagery", in: Accidents of Influence: Writing as a Woman and a Jew in America, Albany/N. Y. 1992, und Efraim Sicher (Hg.), Breaking Crystal: Writing and Memory after Auschwitz, Urbana/Chicago 1998. Lawrence Langer spricht von "Zeugen der Erinnerung", in: Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, New Haven 1991, S. 39.
  9. Maurice Blanchot, Apres coup, precede par Le ressassement e'ternel, Paris 1983,8.98.
  10. Zum Begriff des "Unsagbaren" und der Rezeption der Zeugenaussagen nach dem Krieg vgl. Annette Wieviorka, Deportation et genocide: entre la memoire et l'oubli, Paris 1992, S. 159-191. Vgl. auch Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, Frankfurt/M. 1995, und Georges Perec, der in W oder die Kindheitserinnerungen (Frankfurt/M. 1982) schreibt, daß "das Unsagbare sich nicht im Geschriebenen [verkriecht], es ist das, was das Schreiben lange zuvor ausgelöst hat" (S. 54).
  11. Auf einer Tagung betonte Elisabeth Domansky, daß "der Beitrag, den wir leisten könnten, darin besteht, [...] zu diesen informierten Zeugen zu werden, [indem] wir den Opfern zuzuhören beginnen und die Geschichte der Opfer als die Geschichte des Nationalsozialismus begreifen lernen". Wie Manuel Koppen in einer Zusammenfassung hervorhebt, "richtete sich heftiger Widerstand" der anderen Konferenzteilnehmer (mit Ausnahme von Micha Brumlik) gegen Domanskys Vorschlag. Vgl. "Zur Zukunft des Er-innerns: Eine Diskussion mit Jurek Becker, Micha Brumlik, Elisabeth Domansky, Gerhard Schönberner, Horst Denkler", in: Manuel Koppen (Hg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin 1993, S. 204.
  12. Vgl. auch Harald Welzer, Verweilen beim Grauen: Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997, S. 128 und 142.
  13. Zu Wiesels Un di Velt hot geshvign und der Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte dieses jiddischen Textes vgl. Naomi Seidman, "Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage", in: Jewish Social Studies 3:1 (Herbst 1996), S. 1-20.
  14. Siehe Klaus Scherpe, "Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur 'nach Auschwitz'", in: Hartmut Böhme/Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften, Hamburg 1996, S. 254-282; hier S. 265; Manuel Koppen, "Auschwitz im Blick der zweiten Generation", in: Koppen (Hg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, a. a. O., S. 68.
  15. Dieser Ausdruck findet sich bei Ruth Klüger, weiter leben: Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 138.
  16. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991, S. 124f. Übersetzung leicht modifiziert.
  17. Zeugenaussage von Arne K., im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale Universität, HVT-1123.
  18. Zum Status der Augenzeugen siehe auch Jonathan Webber, "Erinnern, Vergessen und Rekonstruktion der Vergangenheit", in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt/M. 1996, S. 28 f.
  19. Vgl. Scherpe, "Von Bildnissen zu Erlebnissen", in: Scherpe/Böhme (Hg.), Literatur- und Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 24 j.
  20. Raul Hilberg berichtet über einen solchen Vorfall in Leipzig in Täter, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt/M. 1992, S.216.
  21. Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Vgl. hierzu: Wolfgang Benz, "Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Bewusstsein der Deutschen", in: Peter Freimark / Alice Jankowski / Ina S. Lorenz (Hg.), Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 438; Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M. 1987, S. 137-148; und Anson Rabinbach, "Der Deutsche als Paria: Deutsche und Juden in Karl Jaspers' Die Schuldfrage", in: Bernhard Moltmann u. a. (Hg.), Erinnerung: Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost, Frankfurt/M. 1993, S. 169-189.
  22. Vgl. Walter Laqueur, Was niemand wissen wollte, Berlin 1982; Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, a.a.O.; lan Kershaw, "German Public Opinion During the Final Solution: Information, Comprehension, Reactions", in: Comprehending the Holocaust: History and Literary Research, a. a. O., S. 145-159.
  23. Vgl. Micha Brumliks sonst überzeugende Überlegungen zur angemessenen Auseinandersetzung mit der Schoah im heutigen Deutschland: "Im Niemandsland des Verstehens", in: Wieland Eschenhagen (Hg.), Die neue deutsche Ideologie: Einsprüche gegen die Entsorgung der Vergangenheit, Darmstadt 1988, S. 97.
  24. Ich verwende hier den Begriff "Zigeuner", statt mir die für Außenstehende wahrscheinlich nicht zu erlangende Vertrautheit mit den ehemals Verfolgten anzumaßen, die zur Unterscheidung verschiedener Gruppen erforderlich wäre. Ich berufe mich auf die Zeugenaussage von Lilly L., einer überlebenden deutschen Zigeunerin: "Wir sind als "Zigeuner" verfolgt worden [...], und wir werden uns als "Zigeuner" erinnern" (Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale-Universität, HVT-2767). In diesem Zusammenhang sei auch auf Gershom Scholems scharfe Kritik der nachträglichen Umdefinierung der Opfer verwiesen. Scholem empfahl, daß wir "gar nicht nachdrücklich genug von den Juden sprechen [können], wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen reden". Vgl. Scholem: Deutsche und Juden, Frankfurt/M. 1967, S. 23.
  25. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/ M. 1993,5.89.
  26. 26 Ebd., S. 79.
  27. Vgl. hierzu Luc Boltanski, La Souffrance ä distance, Paris 1993.
  28. Enzensberger, Aussichten, a. a. O., S. 84.
  29. Vgl. Jacques Derrida, Politiques de l'amitie, Paris 1994, S. 25 5 f.
  30. Ich entlehne diese Formulierung Elisabeth Webers Einleitung "Die jüngsten Kinder der Republik", in: Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt/M. 1994, S.27. Vgl. auch E. Weber, Trauma und Verfolgung, Wien 1990, und Helmut Peukert, "Unbedingte Verantwortung für den Anderen", in: Helmut Schreier / Matthias Heyl (Hg.), "Daß Auschwitz nicht noch einmal sei. ." Zur Erziehung nach Auschwitz, Hamburg 1995. S. 234-246.
  31. Vgl. Jan Karski, The Story of a Secret State, Boston 1944, und Karskis Kommentar zu seinem Leben in: Brewster Chamberlin / Marcia Feldman (Hg.), The Liberation of the Nazi Concentration Camps 1945, Washington/D. C. 1987, S. 191.
  32. Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1993, S. 64.

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