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Der Tag des Widerrufs:
Erinnerungen an den 30. Januar 1933
Von Hans Mayer
Auch dieser Tag verlief, von heute aus
gesehen, im "Dunkel des gelebten Augenblicks". Das ist eine wohlbekannte
Formel aus der Philosophie von Ernst Bloch und will sagen, daß nicht nur der
Einzelne, sondern manchmal auch die sogenannte Menschheit den
folgenreichsten Augenblick ihres Daseins zwar als Vorgang erlebt, doch ohne
zu ahnen, was sich bei diesem Vorgang für ihre Gegenwart und Zukunft
ereignet hatte. Das Dunkel steckt mitten in der Tageshelle. Die Geschichte
hat überreichlich dafür Belege zu bieten.
König Ludwig XVI. von Frankreich, das ist wohlbekannt, notierte am 14. Juli
1789, am Tage des Bastille-Sturms, es sei nichts Besonderes geschehen. Hat
er bereits Nachrichten aus Paris erhalten in seinem Versailles? Er dachte
wohl an Besonderheiten wie Jagd oder Festlichkeiten. Dieses Thema hat später
die Schriftsteller immer wieder beschäftigt. Was wußte man am Abend des
quatorze juillet? Arthur Schnitzler hat den Vorgang als "Farce" geschildert
in dem Einakter "Der grüne Kakadu". Eine Künstlerkneipe in Paris am Abend
nach der Erstürmung der Festung. Abgeschlagene Köpfe werden in der Straße
herumgetragen. Allein nun scheint wieder Alltag zu sein. Die Herzöge in der
nicht sehr standesgemäßen Gaststube, gelangweilt von den Schäferspielen im
Trianon, empfinden ein bißchen Sensation, äußern auch spöttischen Hochmut.
Das Lachen wird bald vergehen.
Heinrich Mann schildert in seinem während des ersten Weltkrieges erfolgreich
aufgeführten Schauspiel von der Pariser Putzmacherin Madame Legros, wie
diese Heldin wider Willen, die bloß darauf bedacht war, einen Unschuldigen
aus der Bastille zu befreien, zwar dieses Ziel erreichte und viel mehr, doch
nun in den Alltag zurückzukehren gedenkt. Da war so viel Arbeit
liegengeblieben.
Dunkel des gelebten Augenblicks offenbar auch bei Ausbruch der Petersburger
Februar-Revolution von 1917, die den Zarismus beseitigte. In seiner
außerordentlich lesenswerten Geschichte dieser Revolution schildert Leo
Trotzki in dem Kapitel "Der Zar und die Zarin", übrigens ausdrücklich unter
dem Hinweis auf Ludwig XVI., daß Zar Nikolai II. ähnlich ahnungslos auf den
Ausbruch der Umwälzungen reagierte. Nichts Besonderes. Er ahnte nicht, daß
er sein Todesurteil erhalten hatte.
Der 30. Januar 1933 begann gleichfalls, wie der 14. Juli 1789 bei Arthur
Schnitzler, als Farce, und er hat sich zur Menschheitstragödie ausgeweitet,
das wissen wir heute.
[...]
Am 30. Januar 1933 spielte sich in der Wilhelmstraße zu Berlin im Palais des
Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein Vorgang ab, den offenbar keiner
der unmittelbar Beteiligten, vom Hauptdarsteller freilich abgesehen,
besonders ernst nahm. Wieder einmal Rücktritt einer Reichsregierung,
abermals die autokratische Ernennung eines neuen Reichskanzlers durch den
Reichspräsidenten, der Gebrauch gemacht hatte von seinen Sondervollmachten
aufgrund des Artikels 48 der republikanischen Reichsverfassung von 1919. Der
neue Reichskanzler stammte aus Österreich. Es hatte Mühe gemacht, ihm das
deutsche Bürgerrecht zu beschaffen. Als seine Partei, die sich in ihrem
Titel besonders viel vorgenommen hatte, denn sie wollte national sein und
sozialistisch, deutsch natürlich und überdies eine Arbeiterpartei, im Land
Thüringen die Regierung stellen durfte, gab es im thüringischen
Hildburghausen nur eine zu besetzende Planstelle für einen Beamten, der eben
dadurch deutscher Staatsbürger werden konnte. Man sprach in den Zeitungen
von der Nachtwächterstelle in Hildburghausen. Die konnte man einem Führer
nicht anbieten. Dann bekam das Land Braunschweig auch eine braune Regierung,
die hatte immerhin die Stelle eines Regierungsrates zu bieten. So wurde der
Braunauer ein deutscher Staatsbürger, nun Reichskanzler vom 30. Januar 1933.
[...]
Der Katholik Heinrich versuchte, die Infaltion und die wachsende
Arbeitslosenzahl durch strenge Einsparungen zu bekämpfen, denn nun mußten
die gepumpten amerikanischen Gelder zurückgezahlt werden. Damit machte er es
niemandem recht, vor allem nicht den östlichen und zumeist adligen
Grundbesitzern aus Hindenburgs Umgebung. Ein zynischer Intrigant wie Franz
von Papen dachte bloß daran, sich zu profilieren, ein Gesetz zu erlassen
gegen angeblichen "Schmutz und Schund", festlegen zu lassen, wie eine
Badehose auszusehen hat (das ist buchstäblich wahr!) und im übrigen eine
sozialdemokratische Regierung in dem mächtigen Land Preußen durch eine
kleine militärische Abordnung aus ihren Ministerien zu verjagen. Man "wich
der Gewalt", rief das Reichsgericht aus, das bedächtig an die Arbeit ging
und schließlich ein Urteil erließ, das nichts änderte an den vollendeten
Tatsachen.
Franz von Papen wurde durch einen anderen Adelsmann, den General Kurt von
Schleicher, abgelöst. Der war dann auch zu Beginn des Jahres 1933 als
Reichskanzler am Ende. Nun brauchte man eine Regierung, die zwar auch
zahlenmäßig keine Mehrheit im Reichstag besitzen würde, aber vielleicht mit
Hilfe der präsidialen Notverordnungen etwas dauerhafter regieren könnte.
Dazu brauchte man den Reichskanzler aus Braunau am Inn. Man hatte ihn in
seiner Handlungsfähigkeit gut umwickelt. Jener Papen wurde Vizekanzler, der
deutschnationale Zeitungsmagnat Alfred Hugenberg, ein ehemaliger
Krupp-Direktor, war auch im Kabinett. Die Reichswehr wurde durch einen
Berufsoffizier vertreten.
[...]
Alles war kurzfristig angelegt, man mußte die Augenblickskrise überwinden,
dann würde man weitersehen. Mit Hilfe des neuen Reichskanzlers konnte man
die sozialistischen Gewerkschaften zähmen, weitmöglich ausschalten. Wenn der
Mohr seine Arbeit getan hatte, mit Schiller zu reden, würde man ihn gehen
heißen. Dies war der Plan der Papen und Hugenberg und der Leute um
Hindenburg. Auch hier wäre ein Schiller-Zitat fällig, diesmal aus dem
Wallenstein. Dort spottet der abtrünnige Feldherr über die Intrigen seiner
Gegner am Hof zu Wien. Ihr Plan sei "so verwünscht gescheit", daß man
versucht sei, "ihn herzlich dumm zu nennen". Genau so ist es gewesen und
gekommen.
Im wörtlichen Sinne gab es kein "Dunkel" des gelebten Augenblicks an jenem
Abend des 30. Januar 1933. Allenthalben in Deutschland, damals noch von der
Maas bis an die Memel, feierte man die neue Regierung mit Fackelzügen, und
Braunhemden der SA mit dem Hakenkreuz am Arm und die schwarz-weiß-roten
Leute vom "Stahlhelm" zogen durch die Straßen. Allgemeiner Jubel.
Erschreckend war die Wandlung nicht nur im Inhalt, sondern im Tonfall der
Rundfunksprecher. Sie hatten bis dahin ruhig republikanische Informationen
vermittelt. Nun schrien sie bereits genau so, wie es ihnen später der
Reichsminister Dr. Goebbels befehlen sollte, noch auf eigenen Füßen und ohne
Weisungen.
Ein Soziologe hatte kurz zuvor von einer "großen antikapitalistischen
Sehnsucht" unter den Deutschen gesprochen. Die Fackelzüge bedeuteten
Verbrüderung, Gemeinschaft. Gleichzeitig aber auch Ankündigung künftiger
Gewalttaten. "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt...". Hell war die Nacht
von vielen Fackeln im Deutschen Reich. In der Wilhelmstraße zog man vorbei
an dem Führer und dem Reichspräsidenten. Hindenburg hatte kurz zuvor noch,
übrigens in geographischer Unbildung, über den "böhmischen Gefreiten"
gelächelt. Nun hat er ihn zu sich herauf geholt. Jetzt war er zu dessen
Geschöpf geworden. Mit den Fackeln hat es begonnen, daran entzündete sich
ein Weltenbrand.
(Mayer,
Hans: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden,
suhrkamp taschenbuch 2585, Frankfurt am
Main 1996) |
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2007
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