Tate! 'S ist kein Gott:
Auschwitz - Birkenau
Von Schlomoh Graber
"Arbeit macht frei" stand über dem Lagertor.
Unser Zug hielt an der Rampe in Birkenau. Sofort wurden die Türen
aufgerissen, und unter schrillen "Raus! Raus!" - Rufen stießen und pufften
die Wärter die Angekommenen, um sie zum hastigen Aussteigen zu bewegen.
Menschen in Lagerkleidung, die ich hier zum erstenmal sah, hörte ich zu
meiner Überraschung Jiddisch sprechen. Bis heute kann ich ihr Schweigen
nicht verstehen. Warum machten sie uns nicht die kleinste Andeutung? Sie
halfen den Alten und Behinderten beim Aussteigen. Als ich aus dem Zug stieg,
konnte ich kaum sehen, so blendete mich das Tageslicht.
Eine Kapelle in Häftlingskleidung spielte Musik. Gewiss
war das ein weiteres Täuschungsmanöver der Deutschen. Wir mussten alle
persönlichen Habseligkeiten zurücklassen. Um uns zu beruhigen, teilte man
uns mit, wir bekämen die Sachen später ausgehändigt. Irgendwie blieb mein
Blick an einem alten Juden hängen, der aus dem Waggon kletterte. Er folgte
nicht den Anweisungen der Deutschen, sondern drückte arglos die Samthülle
mit Gebetsmantel und Gebetsriemen an die Brust. Ein SS-Soldat bemerkte ihn,
rannte los, riss ihm die Samttasche aus den Händen und schleuderte sie
wütend zwischen die Räder des Zuges. Ich beobachtete diesen Frevel an den
geheiligten Gegenständen und harrte einer Antwort des Himmels. Nach meiner
damaligen Sicht hätte der SS-Mann auf der Stelle zusammenbrechen müssen.
Doch nichts geschah. Enttäuscht sagte ich zu Vater auf Jiddisch: Tate! 'S
ist kein Gott (Vater! Es gibt keinen Gott).
Das Gewimmel war groß, ein wahres Menschenmeer, Familien kämpften zäh darum,
zusammen zu bleiben. Hier und da suchten verirrte Kinder bitterlich weinend
ihre Eltern, aber kein Mensch beachtete sie in dem Gedränge. Die Deutschen
trennten Männer und Frauen. Zwei Kolonnen schoben sich nun nebeneinander
vorwärts. Man trieb uns mit Schlägen zur Selektionsstelle weiter. In
kürzester Zeit war es ihnen gelungen, uns in eine dumpfe Viehherde zu
verwandeln, die gehorsam jedem unverständlichen Schrei gehorchte. Hatte
einer die Schreie nicht verstanden, half man seinem Begriffsvermögen mit
Schlägen und Stößen nach. Wir trieben mit dem Strom weiter, ohne zu wissen,
wohin wir gingen und was man mit uns vorhatte.
Als wir uns der Selektionsstelle näherten, merkte ich, dass der Strom sich
in zwei teilte, erfasste aber noch nicht die Bedeutung dieses Vorgangs. Vor
uns standen SS-Offiziere, die die "Selektion" vornahmen - ein Begriff, der
ins Lexikon der Schoa eingegangen ist. Wie gesagt, war dies meine erste
unmittelbare Begegnung mit dem Satan. Mit einem Fingerzeig nach rechts oder
links wurde über Abertausende von Menschen der Stab gebrochen.
Im Nu sah ich, dass Vater nach links geschickt wurde, und ging ihm
instinktiv nach. Dann wandte ich mich nach den übrigen Familienmitgliedern
um und sah, dass man sie in die andere Richtung wies. Ich konnte gerade noch
Mutter mit meinem nachgeborenen Bruder Levy auf den Armen davongehen sehen.
Die übrigen drei Kinder mit meinem Cousin Jossele und Großmutter hielten
sich an den Händen vor Furcht, auseinander gerissen zu werden. Ich rief
ihnen laut "Mamme! Mamme!" nach, aber meine Stimme drang nicht an ihre
Ohren. Dieses Bild, wie sie dort meiner Sicht entschwanden, hat sich meinem
Gedächtnis tief eingeprägt und taucht von Zeit zu Zeit wieder auf. Ich
denke, es wird sich niemals verwischen. Bis heute quält mich die Tatsache,
dass ich nicht von ihnen Abschied nehmen konnte. In jenem Augenblick hatte
ich keine Ahnung, wohin man sie führte, sondern tröstete mich in der
Annahme, sie bald wiederzusehen.
Auf dem Lagergebiet wurde eine zweite Selektion vorgenommen. Man fragte
jeden nach seinem Beruf. Ich sagte, ich sei Schlosser, und Vater tat es mir
nach. Man zeigte mir einen Messschieber. Zum Glück hatte ich dieses Gerät
bei Schlosser Klein in Nyírbátor benutzt und konnte seine Funktion zur
Zufriedenheit der Prüfer vorführen. Hastig erklärte ich Vater das Prinzip.
So bestand auch er die Prüfung und wir blieben zusammen.
Um uns jeden Verdacht zu nehmen, führte man uns im Lager an einer Baracke
vorbei, in deren Hof scheinbar friedlich lebende Kinder spielten. Auch das
war ein Täuschungsmanöver.
Im Lagerbereich ging alles militärisch zu. Die Fortbewegung von Ort zu Ort
erfolgte nur in Dreierreihe und unter gebrüllten Marschbefehlen: "Links!
Rechts! Eins, zwei, drei!" Egal, ob man Deutsch verstand oder nicht - wehe,
man gehorchte nicht den Befehlen. Das Angstvollste waren die Appelle. Bei
jedem Appell stand eine Selektion zu erwarten. Manchmal ließ man uns
stundenlang strammstehen, ohne dass wir wussten, was dann kommen würde. Ich
sah viele Menschen in Häftlingskleidung und dachte mir, sie seien wohl
woanders her. Uns hatte man versprochen, wir würden zur Arbeit geschickt,
und gewiss warteten wir nur auf Transportmittel. Dann erging erneut Befehl,
in Dreierreihe Aufstellung zu nehmen, und unter begleitenden Schreien
marschierten wir zu der Baracke, die "Sauna" genannt wurde.
In dieser leeren Baracke mussten wir uns im Kreis aufstellen und erhielten
energisch Order, die Taschen zu entleeren, jeden Wertgegenstand aus seinem
Kleiderversteck zu ziehen, etwa Eingenähtes hervorzuschälen und alles auf
die große Decke zu werfen, die auf dem Boden ausgebreitet lag. Die Halunken,
die uns mit gezückten Waffen umstanden, versetzten uns wie echte Räuber in
Angst und Schrecken. Man warnte uns, wer es wagen sollte, Wertgegenstände zu
verbergen oder in Kleidung oder Schuhen eingenäht zu lassen, spiele mit
seinem Leben. Schweren Herzens holte ich die eingenähten Geldscheine hervor
- Geld, das Mutter von ihrer Hände Arbeit übergespart hatte.
Danach mussten wir uns nackt ausziehen und ins Nebenzimmer begeben. Dort
schnitt man uns das Kopfhaar, ließ uns dann auf eine Bank steigen, die sich
die ganze Wand entlang zog, und fertigte uns wie am laufenden Band ab. Man
rasierte uns alle Körperhaare, desinfizierte uns mit einer Flitspritze,
besprühte besonders die Stellen, die behaart gewesen waren, und all das
unter lauten Pöbeleien, Juden stänken und müssten peinlich auf ihre Hygiene
achten. Das Absprühen mit Desinfektionsmittel verursachte furchtbares
Brennen auf der Haut. Als nächstes setzte man uns auf einen Stuhl, und die
Barbiere, die nicht gerade geübte Friseure waren, schoren uns mit
abgewetzten Klingen einen zwei Finger breiten Streifen von der Stirn bis zum
Nacken, der die deutsche Bezeichnung "Lausestraße" erhielt. In einem anderen
Raum händigte man uns die bewusste gestreifte Häftlingskleidung aus, unter
anderem Hose, Hemdjacke und eine Art Barett (wie Leichenkleider). Die
Kleidungsstücke hatten keine Taschen. Wir erhielten je einen Blechteller mit
Loch am Rand, damit man ihn sich an die Taille hängen konnte, eine
Blechtasse und einen Aluminiumlöffel. Vorerst ließ man uns die eigenen
Schuhe.
Da wir nicht lange im Lager Auschwitz blieben, bekamen wir keine Nummer auf
den Arm tätowiert wie die übrigen Häftlinge. Statt dessen übergab man uns
Stoffstreifen, die unsere Häftlingsnummer nebst einem Dreieck auf gelbem
Grund trugen - das Zeichen für Juden. Vater erhielt die Nummer 42648, ich
die Nummer 42649. Der eine Streifen wurde links über der Brust auf die Jacke
genäht, der andere rechts überm Knie auf die Hose. Nachdem wir alle Stadien
durchlaufen hatten, versammelten wir uns draußen in Erwartung des nächsten
Appells.
In Häftlingskleidung fühlte sich jeder von uns gedemütigt. Erwachsene und
ehrwürdige Menschen in ihrer Schmach zu sehen, war nicht leicht. Um die
Verlegenheit zu überwinden und uns abzulenken, machten wir uns erstmal über
das Aussehen unserer Mitmenschen lustig.
Zu unserer Gruppe kam ein Mann ungarischer Herkunft, der den Grafentitel
besaß, aber wegen seiner jüdischen Abstammung nach Auschwitz verschleppt
worden war. Dieser Graf hatte die Orden versteckt halten können, die die
Deutschen ihm im Ersten Weltkrieg verliehen hatten, darunter auch das
Eiserne Kreuz. Die Bedeutung dieser Auszeichnung war so groß, dass die
deutschen Soldaten ihm hätten salutieren müssen. Der Graf heftete die Orden
an seine Häftlingskleidung, in der Hoffnung, die Deutschen würden ihn
daraufhin anständig behandeln. Doch der SS-Befehlshaber sah es, stürzte sich
wütend auf den Grafen und riss ihm mit den Worten: "Sie beschämen und
entehren das deutsche Volk und meine Heimat!" die Orden von der Brust.
Die Rede
Der SS-Unteroffizier, der das Kommando über uns erhielt,
war ein Primitivling mit unbeschränkter Machtbefugnis, ein einfacher,
ungebildeter Bauerntyp, dessen Hass und Despotismus keine Grenzen kannte. Er
ließ uns auf dem Platz vor der Baracke, aus der wir gekommen waren,
antreten. Schon im Voraus hatte er dort eine Kiste an die Wand gestellt, um
sie als Podium zu benutzen. Um seine Überlegenheit zu demonstrieren, stieg
er darauf und begann seine großartige Rede.
Mit viel Pathos und in schreiendem Ton erklärte er: "Von nun an seid ihr
keine Menschen mehr! Ihr seid Untermenschen! Deshalb habt ihr keine Namen
mehr! Namen gibt man nur Menschen. Ihr habt nur eine Nummer und von jetzt an
werde ich jeden bei seiner Nummer aufrufen!" Ich dachte mir, die Nummern
sind gewiss seine Rettung, denn dieser Analphabet hätte wohl kaum Namen vom
Blatt ablesen können. Mitten in seiner Rede zückte er drohend seine Pistole
und sagte: "Über mir gibt es nur noch Gott! Ich kann jeden von euch
erschießen, ohne irgendwem Rechenschaft geben zu müssen."
Nachdem er seine grandiose Rede beendet hatte, mussten wir wieder
Dreierreihen bilden und unter dem üblichen Gebrüll zum Wohnblock
marschieren.
Es war ein länglicher Bau mit Wohnzellen zu beiden Seiten, den sogenannten
"Boxen". Die Boxen aus Holz waren in Stockwerken übereinander angeordnet,
ähnlich wie Lagerregale. In jede Box wurden mehrere Menschen gezwängt. Wir
konnten darin weder sitzen noch stehen, nur untätig herumliegen. Durch das
lange Liegen auf dem völlig ungepolsterten Holzbrett bekamen wir Schmerzen
am ganzen Leib. Deshalb meldete ich mich bald freiwillig als "Scheißeträger"
für das Hinaustragen und Ausleeren des "Scheißkübels", wie das bei den
Deutschen hieß. Den Kübel trug ich mit einem Partner hinaus. Unweit unseres
Blocks entdeckten wir, dass dort ganz ähnliche Kübel mit Essen standen. Ich
gab meinem Partner einen Wink, die Behälter auszutauschen. Zum Glück
bemerkte uns keiner, als wir mit dem Kübel zum Block liefen. Wir verteilten
die sämige Suppe unter uns allen und vermochten den Kübel so in Windeseile
zu leeren, um ihn wieder in einen Toilettenkübel zu verwandeln.
Der "Blockälteste", der dem jeweiligen Block vorstand, war normalerweise ein
Jude. Auch die Kapos sprachen fast alle Jiddisch, denn es war ja wichtig,
dass alle sie verstanden. Was Grausamkeit anbetraf, unterschieden sie sich
allerdings nicht von den deutschen Bewachern. Der Unterschied bestand nur
darin, dass die Kapos einen Stock hatten, die Deutschen eine Schusswaffe.
In der Mitte des Blocks erstreckte sich den ganzen Fußboden entlang eine Art
liegender Backschornstein. Die Öffnung zeigte zum Blockeingang. In diese
Öffnung musste ein Delinquent den Kopf stecken, während man ihm das nackte
Gesäß verprügelte.
Nach einigen Tagen mussten wir zum Appell antreten, erhielten eine
Extraration Brot ("a Razi'e Broit" im jiddischen Lagerjargon) marschierten
durch das Lagertor und warteten auf den Lastwagen. Beim Warten sagte mein
Vater: "Weißt du, dass heute das Wochenfest ist?" Und tatsächlich, am
Wochenfest des Jahres 5704 (1944) verließen wir Auschwitz.
Auszug
aus dem Buch Schlajme,
von Schlomoh Graber, ins Deutsche übertragen von Ruth Achlama. Den
Gesamttext des hebräischen
Originals finden Sie hier.
hagalil.com
2007
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