Aus den Erinnerungen von Eric Lucas:
Junge Juden in München unter Hitler
Ich wurde 1915 in Aachen geboren und kam im
Frühsommer 1935 nach München. Hitler war mittlerweile über zwei Jahre an der
Macht, und ich lernte bald, daß jeder mit dem Nazigruß grüßen mußte, der an
der Feldherrnhalle vorbei ging. Ich erfuhr aber auch, daß man dem Grüßen
entgehen konnte, wenn man einen Bogen um das Monument machte. Das war immer
im Hintergrund unserer Gedanken präsent, im Denken der Juden meine ich. Aber
1935 entbehrte dies nicht einer gewissen Komik.
Ich wurde nach München geschickt, um jungen Juden zu
helfen, die später nach Palästina auswandern wollten. Viele Münchner
Juden wußten bereits 1935, daß sie nicht länger in Deutschland leben
konnten. Die jungen Menschen wurden dazu gedrängt, sich auf ein Leben in
Palästina vorzubereiten. Eine kleine Gruppe von Zwanzigjährigen sollte
ihnen dabei helfen.
Die jüdische Gemeinde hatte für uns eine große Wohnung
besorgt, in der sieben Jungen und fünf Mädchen lebten. 1994 ist es wohl
schwierig zu verstehen, daß wir damals nach strengen Prinzipien und ohne
Sex lebten.
Die jüdische Gemeinde hatte auch einen großen Garten in
Milbertshofen angemietet, wo ein barscher, nicht-jüdischer Gärtner - er
war übrigens mit einer Jüdin verheiratet, äußerte sich in abfälliger
Weise über ihre jüdischen Eltern und machte sich über sie lustig -
unsere Arbeit überwachte. Jeden Morgen radelten wir nach Milbertshofen
und waren noch immer furchtlos, was unsere tägliche Arbeit anbetraf.
1935 konnten wir das Leben noch genießen, auch die
kulturellen Aktivitäten der Münchner Juden, die sehr zahlreich waren. Da
war Dr. Ludwig Feuchtwanger, der Bruder des berühmten Schriftstellers
Lion Feuchtwanger. Er gab die Zeitung der jüdischen Gemeinde heraus und
hielt Vorträge, die stets überfüllt waren. Kein geringerer als Martin
Buber kam nach München, um im Rahmen der jüdischen Erwachsenenbildung
vor jüdischem Publikum zu sprechen.
Er nahm sich insbesondere Zeit, um zu Jugendgruppen zu
sprechen, wie wir es waren. Ein junger Mann meines Alters namens Hans
Lamm war der ehrenamtliche Sekretär des Jüdischen Jugendzentrums.
Eines Tages, als ich in der schönen Staatsbibliothek
saß, ließ mich ein ungewöhnlicher Lärm von meiner Lektüre aufsehen. Ich
sah, wie Adolf Hitler direkt auf mich zuging, seine Hand zum Nazigruß
erhoben, begleitet von seiner schwarzgekleideten SS-Leibgarde. Zu meinem
Schrecken bemerkte ich, daß alle Bibliotheksbesucher aufstanden und mit
erhobenen Händen grüßten. Ich erkannte, daß ich das auch tun mußte. Dann
sah ich, wie Hitler seinen Kopf abrupt von einer Seite auf die andere
bewegte, als wäre er eine Marionette.
Am Ende des großen Lesesaales wandte er sich ruckartig
um und marschierte in Begleitung seiner Leibwache aus dem Gebäude
hinaus. Alle Anwesenden liefen ihm nach. Ich tat das gleiche. Nur nicht
auffallen, sagte ich mir, es könnte den Tod bedeuten.
An einem Abend hatte ich einmal meine Haustürschlüssel
vergessen. Ich kam spät nach Hause von meinem Treffen mit anderen
Jugendleitern. Ein Mann kam mir entgegen, der "Heil Hitler" rief. Ich
antwortete ihm kurz mit "Guten Abend". Plötzlich kam er ganz nah an mich
heran und schrie "Heil Hitler". Wiederum sagte ich "Guten Abend". Dann
fragte er mich: "Entschuldigen Sie, sind Sie Deutscher?" "Nein", sagte
ich, "ich bin Jude" - "Oh, ich verstehe", sagte er, "bitte entschuldigen
Sie!"
Gegen Ende des Jahres 1935, als Hitler schon fast drei
Jahre an der Macht war, erhielt ich ein offizielles Schreiben von der
Heeresverwaltung, in dem ich aufgefordert wurde, mich in einer Kaserne
zu melden. 1935 besprach man solche Dinge nicht am Telefon, vor allem
nicht als Jude. Also tat ich das einzig mögliche: Ich ging hin.
Außerhalb der Baracken standen mindestens 50 junge Männer, die lachten
und schmutzige Geschichten erzählten. Ich hielt mich abseits, wollte
mich nicht zu ihnen gesellen. Schließlich wurde das Tor zum
Exerzierplatz geöffnet. Wir hörten die dröhnende Stimme eines stämmigen
Feldwebels, der "Links um" brüllte.
Er führte uns in einen großen Raum, in dem Holzbänke an
den Wänden standen. "Zieht Euch aus und legt die Kleider neben Euch auf
die Bank". Nun überlief mich kalte Panik. Alle würden nunmehr sehen
können, daß ich beschnitten war. Was würde mir geschehen?
Wir wurden in den nächsten Raum geschoben zur
medizinischen Untersuchung. Nicht einmal der Arzt machte eine Bemerkung
über meine Beschneidung, und so stand ich mit einigen Papieren in einer
Reihe vor einer geschlossenen Türe.
Als ich dran war, trat ich in einen noch größeren Raum
ein. In der Mitte stand eine Reihe von Holztischen, hinter denen saßen
ein Oberfeldwebel, einige Offiziere, sowie ein Mann, den ich für einen
Oberst hielt. Der Oberfeldwebel nahm meine Papiere, dann pfiff er durch
seine Zähne und gab die Unterlagen an den nächsten Offizier weiter.
Dieser sah mich an und sagte: "Schade, daß Du ein Jude
bist, Du bist nämlich A1 und sehr fit." Er gab mir zu verstehen, daß ich
mich vor dem Oberst aufstellen sollte. Ich fühlte, wie Schweißtropfen
meinen Körper entlang nach unten liefen. Ich stand splitternackt in
Habacht-Stellung. Während er in meine Papiere sah, sagte ich: "Bitte
verzeihen Sie, ich kann nicht in der Armee dienen, weil ich Jude bin."
Er sah auf und antwortete mit Bestimmtheit: "Wenn Sie dienen wollen,
dann können Sie auch dienen."
Kalte Panik ergriff mich, und ich hielt die kürzeste
prozionistische Ansprache meines Lebens. "Bitte entschuldigen Sie",
sagte ich, "aber ich werde bald nach Palästina auswandern. Dort wollen
wir unfruchtbares, steiniges Land bebauen, Bäume pflanzen und unsere
Bauerndörfer errichten."
Der Oberst stand auf, reichte mir die Hand und
sagte mit einem Lächeln: "Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr Leben in
Palästina." Auf meinem Weg aus dem Gebäude übergab mir der Oberst meinen
Wehrpaß, auf dessen vorletzter Seite der Vermerk "Ersatzreserve II,
wegen Abstammung" zu lesen war.
Das war fast drei Jahre, nachdem die Nazis an die Macht
gekommen waren, die mit ihrem unermüdlichen Sperrfeuer abscheulichste
Judenhetze betrieben. Aber dennoch hat ein Oberst der deutschen Armee
einem Juden nahezu Gleichbehandlung angedeihen lassen. Er war
aufgestanden und hatte mir vor den andern Offizieren seine Hand
gereicht, ohne offensichtliche Angst.
Im Frühsommer des Jahres 1936 erhielt ich vom
"Zionistischen Bund" in Berlin die Erlaubnis, für die Dauer eines Jahres
an der Hochschule für Wissenschaft des Judentums zu studieren. Das war
damals eine bekannte, angesehene Institution für jüdische Geschichte,
die auch als Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner fungierte.
Eine Woche vor meiner Abreise nach Berlin besuchte mich
ein kleiner Herr mit einer dicken Aktentasche. "Sie sind Herr Erich
Lucas?" Als ich bejahte, sagte er: "Es tut mir leid, ich bin vom Paßamt
und muß Ihnen den Reisepaß wegnehmen. Sie bekommen ihn zurück, aber dann
wird jede Seite mit einem großen "J" gestempelt sein, um zu zeigen, daß
Sie Jude sind" ...
Ich antwortete, daß dies für mich sehr schlecht sei, da
ich Ende der Woche nach Berlin fahren und keinesfalls ohne Paß dorthin
reisen könnte. Er dachte ein wenig nach und sagte dann im guten alten
Münchner Dialekt: "Wissen'S wos (...) ich hätt' auch a paar Tag' später
zu Eana kommen können, dann wären'S scho' in Berlin (...)" Dann ging er.
So behielt ich meinen "sauberen Reisepaß" bis Dezember
1938, als ich mein Visum für England bekam. Erst die Berliner Paßbehörde
nahm mir den Paß ab und gab mir einen, der markiert war. Mein Reisepaß
wies den Eintrag auf "Nur gültig für eine Ausreise aus Deutschland".
Während des ganzen Krieges blieb ich in England. Erst im
Jahre 1945 erhielt ich die Erlaubnis für eine Ausreise nach Palästina.
Die ersten fünf Jahre verbrachte ich in einem Kibbuz. Später wurde mir
dann eine bedeutende Stellung in einer Finanzierungsgesellschaft für
Immigranten angeboten.
Ende der achtziger Jahre kam ich besuchsweise nach
München. Diesmal besaß ich einen israelischen Paß. München war noch
immer eine schöne Stadt.
Übersetzung aus dem Englischen von Karl Auwärter
Jüdisches Leben in München
Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags
Hsg. Landeshauptstadt München
Buchendorfer Verlag
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Eric Lucas in Brauneck im Jahre
1935
(aufgenommen von Hans Lamm)
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Eric Lucas: Geboren 1915 in Aachen. Ab Frühsommer 1935
in München bei der Vorbereitung junger Menschen jüdischen Glaubens auf
ihre Auswanderung nach Palästina. Im Februar 1939 Ausreise nach England.
1945 Emigration nach Palästina und Eintritt in den Kibbuz Kfar
Blum. 1953 Ernennung zum stellvertretenden Direktor und später zum
Vorsitzenden der Britischen Einwanderungsgesellschaft (Olim). Vortrags-
und Publikationstätigkeit. Lebt in Israel.
hagalil.com
2007
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