Das Pessach-Wunder:
Sie gingen vorüber
Von Hank Stanton,
Texas ehem.: Helmut Weissenstein-Schönwälder, Grundelgasse 5,
9.Bezirk, Wien
Am Sederabend, beginnt für alle Juden - überall auf
der Welt - das achttägige Fest der Freiheit, im Gedenken an die
Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. An diesem Sederabend, den auch
ein junger Rabbi mit Namen Jesus von Nazareth vor 2000 Jahren feierte,
erinnern wir uns - während der guten
traditionellen Mahlzeit, an die Geschichte der Flucht aus Ägypten und
wir erinnern uns an die zehn Plagen, die über das Land hereinbrachen,
besonders an die zehnte.
Während dieser Nacht wurde im ganzen Land der
Erstgeborene jedes Hauses getötet, verschont wurden nur die Häuser, die
mit Blut gekennzeichnet waren. Diese Katastrophe überzeugte den Pharao
nun doch dem Willen G"ttes nachzugeben, der da aus Moses Mund rief:
"Lass mein Volk ziehen!"
Für mich persönlich bedeutet diese Feier auch
gleichzeitig meine eigene Befreiung aus der Gefahr einer neuen Art von
Sklaverei.
Lasst uns also zurückgehen, bis zum 10. März 1938,
meinem 15. Geburtstag. Zwei Tage später würde mein Leben, abrupt und auf
eine schreckliche Art, völlig verändert werden; zu diesem
Zeitpunkt jedoch, wusste ich nichts davon, denn an diesem herrlichen,
sonnigen Tag im März, war ich der König der Berge.
Nach einer wunderschönen einwöchigen Wandertour
durch die österreichischen Alpen wurde ich Sieger einer Slalom
Meisterschaft! Ich hatte "sie" alle geschlagen! Nicht einmal die
Bemerkung eines Schullehrers der sagte, "ich wünschte, der Judenjunge
hätte es nicht geschafft", konnte meine Euphorie schmälern, als ich
etwas später mit 30 anderen Jungs und ein paar Erwachsenen in
Schlangenlinien den Hang hinab rauschte. Wir holten alles raus, was das
Zeug hergab mit unseren schweren Holzski, weil wir unseren Zug nach Wien
erreichen mussten.
Wir fuhren auf den Ski direkt in die Bahnhofstation,
wo unser Zug gerade tuckernd angefahren kam. Ski, Stöcke und Rucksäcke
warfen wir geradewegs in das Gepäckabteil hinein, danach gingen wir zur
Passagier Abteilung. Und obwohl unsere Kleider vor Kälte dampften, die
Augen tränten und unsere Nasen liefen, waren wir überglücklich. Alle
Unterschiede, ob "rassisch", ethisch, sozial – sie alle waren
vergessen.
Bis zum Zeitpunkt unserer Ankunft am Bahnsteig, wo
meine Eltern, G’tt segne sie, auf ihren jüngsten Sohn warteten.
Da standen sie nun, mein Vater, jeder Zentimeter ein
eleganter, tadellos gekleideter Textilfabrikant, dieser aristokratische,
ehemalige Hauptmann des österreichisch-ungarischen Kaiserreich, nachdem
er sich zurücksehnte. Meine Mutter, die ausgezeichnete Ärztin, fast
schon zu schön, eingehüllt in einen luxuriösen Pelzmantel, abseits von
der Menge der Wartenden, wie zwei prächtige Pinien am Rande eines
Eichenwaldes.
Mutter umarmte mich, dann hielt sie mich ein wenig von
sich weg, und sagte: "Du lieber Himmel, du riechst ja schrecklich!" Das
waren nun ihre ersten Worte als Willkommensgruss. Kurz gesagt, ja, das
war sie - meine Mutter, G"tt hab sie selig! Ich krümmte mich ein wenig,
als sich alle anderen Kindern von mir entfernten. Wieder war ich "der
andere" , der Jude, dem man sagte "geh zurück wo du herkommst",
derjenige mit den reichen, offensichtlich betrügerischen Eltern, die
zweifellos zu den Verschwörern des internationalen Finanzjudentums
gehörten.
Dies war ein Teil der Erfahrung, die man machte, nicht
nur in Österreich, sondern fast überall im antisemitischen Europa vor
dem 2. Weltkrieg. Der eine nahm es einfach hin, im Gegensatz zu meinen
Eltern die, wie die meisten, versuchten, ihr Jüdischsein nicht
hervorzuheben. "Assimilation" war das Zauberwort in dieser Zeit. Als ich
nun meine Sachen im Kofferraum unseres komfortablen Autos verstaute, das
1938 eine Rarität darstellte, waren mir die neidischen Blicke und das
zornige Geflüster wohl bewusst. So ist es eben das Leben.
Wir feierten meinen Geburtstag im sozialen
Zentrum von Wien, einem Nachtklub-Keller, neben der St. Stefans
Kathedrale. Und wie wir feierten! Alle, die dabei waren, vergaßen die
Zeit. Und so war es ungefähr 2 Uhr morgens als wir endlich erschöpft,
ein bisschen beschwipst, aber sehr glücklich die Kellerstufen
hinaufstiegen und uns die eiskalte nächtliche Stille empfing.
Die massive Kathedrale war rundum in tiefschwarze
Dunkelheit gehüllt, nur teilweise von den üppig verzierten Straßenlampen
erhellt. Kleine Schneeflecken glitzerten.
Die Stille war unheimlich, und obwohl die Luft klar
und frisch war, erschien die Stille seltsam bedrückend. Benommen standen
wir wie angewurzelt am Straßenrand. Ein unerklärliches Gefühl vor einem
nahendem Schicksal erfasste mich.
Urplötzlich schoss ein großer LKW aus einer
Seitenstrasse, ein offener LKW mit Männer darauf, gekleidet in braunen
Hemden, Reithosen, Stiefel, sie schrien unverständliche Slogans, und
schwenkten große rote Flaggen mit schwarzen Hakenkreuzen auf weißem
Ring. Der LKW donnerte so nah an uns vorbei, dass ich ihre verzerrten
Gesichter sehen konnte während sie heisere Schreie ausstießen, und das
peitschende Geräusch der hin und her wirbelnden Flaggen. Dann waren sie
plötzlich verschwunden, und es war so still wie vorher. Meine Eltern
erwachten aus ihrer Trance, schubsten mich ins Auto, und rasten nach
hause. Kein Wort wurde gesprochen, das Gesicht meines Vaters war wie aus
Stein, meine Mutter starrte nur geradeaus und ich selbst war wie
erstarrt.
Zwei Tage später überfielen die Deutschen Österreich.
Das Wort Überfall übersetze man hier mit "wurden von rasenden Massen
willkommen geheißen". Und nur einen Tag danach, wurde das Auto meines
Vaters beschlagnahmt. Noch ein paar Tage später, wurde unsere
Textilwarenfabrik von den Nazis "gekauft", und die zahnärztliche Praxis
meiner Mutter wurde von ihrem "loyalen" Assistenten übernommen. Ich und
alle anderen jüdischen Kinder wurden in eine gesonderte "Judenschule"
versetzt.
All dies geschah so schnell, als wäre es schon vorher
organisiert gewesen. Tatsächlich war es auch so gewesen. Zu einem
späteren Zeitpunkt tauchte die ersten Gerüchte über Razzien auf. Zu den
Demütigungen, denen Juden beim Straßenreinigen auf Händen und Knien
ausgesetzt waren, kam noch hinzu, dass sie verprügelt oder willkürlich
verhaftet wurden.
Doch nun begannen bewaffnete Deutsche Häuser, in denen
Juden wohnten, durchzukämmen. Viele Juden, manchmal sogar komplette
Familien, wurden verhaftet und wer weiß wohin fortgeschafft. Es war, als
würden diejenigen, die die Razzien durchführten, ganz genau wissen, wo
sie zu suchen hätten. (Was auch stimmte, denn sie wussten es!). Aber
diese Räumungen waren nur Gerüchte, und davon gab es hunderte, außerdem
hatten wir genügend Probleme, die uns beschäftigten.
Monate nach dem "Anschluss" Österreichs sitzen wir
also alle gemeinsam am Esszimmertisch in unserer Wohnung. Aus dem Radio
ertönt Militärmusik, schöne Weisen, erhebender Lyrik wie z.B. diese:
"Wenn das Judenblut vom Messer spritzt" und andere ähnlich anregende
Nazipropaganda. Gelegentlich gab es auch stark zensierte und Tatsachen
verdrehende Nachrichtenprogramme. Als unsere Stimmung ohnehin schon
verzweifelt war, erfahren wir, nunmehr praktisch mittellos, dass die
Quote der Einwanderungen in die USA für die nächsten 3 Jahre
ausgeschöpft sei. Nun, wir können sowieso keinen amerikanischen Bürgen
vorweisen.
Plötzlich hören wir es, das quietschende
Bremsen von Reifen. Mein Vater schnellt von seinem Stuhl hoch, löscht
sofort alle Lichter, es wird stockdunkel, und wir hasten zum Fenster, um
vom 3. Stockwerk nach unten auf die große, mit Kopfstein gepflasterte
Strasse zu sehen. Das Unvorstellbare ist geschehen! Es ist eine Razzia!
Sämtliche Strassen in Sichtweite sind mit riesigen LKWs blockiert, aus
denen nun diese rohen, gemein aussehenden Soldaten herausstürzen.
Sie sind schwarz gekleidet und stark bewaffnet. Mit
genauestens einstudierter Präzision, schwärmen sie aus, formieren sich
zu kleinen Gruppen und stürmen jedes Wohnhaus, das ich vom Fenster aus
sehen kann. Mein Vater zieht die Vorhänge zu, schnappt mich und meine
Mutter und zieht uns in die entlegenste Ecke, so weit wie nur möglich
entfernt von der Eingangstür unserer Wohnung.
Wie geschlagen kauern wir dort, ergeben uns dem
Unvermeidlichen und ich bin wie betäubt. Aber merkwürdigerweise, nehme
ich alle Geräusche ganz genau wahr. Ich höre die Gewehrkolbenschläge,
die das Holz der Türen zersplittern lassen, die trotz Befehl nicht
geöffnet werden. Nicht alle Türen werden aufgebrochen, und es scheint
als ob sie nach Plan vorgehen, als ob die Sturmtruppen genaue
Informationen besitzen, wo ihre Opfer wohnen. Gewehrschüsse hallen durch
die Gänge, zumindest glaube ich das zu hören – und dann höre ich etwas,
das ich noch nie zuvor in meinem jungen, so beschützten Leben gehört
habe, qualvolle Laute, ausgestoßen von Menschen, die sich in großer Not
befinden.
Ich höre dieses zutiefst verängstigte Schluchzen und
kann nicht sagen, ob es von einem Mann oder einer Frau kommt. Schreie
erfüllen die Luft, hohe, klagende Schreie und instinktiv spüre ich, dass
die Schreie eines Menschen in höchster Not geschlechtslos sind. Angst
schnürt mir die Kehle zu. Ich sitze in der Falle, es gibt kein Entrinnen
und selbst wenn ich fliehen wollte, könnte ich mich nicht bewegen, weil
ich wie gelähmt bin.
Die gellenden Schreie und das dumpfe Aufschlagen von
Gewehrkolben auf menschliche Körper, lässt mich erstarren. Die
schrecklichen Geräusche dieser Hetzjagd, das splitternde Holz, die
Panik, das Gebrülle der Schlägertruppe, es kommt alles immer näher und
ich erwarte jeden Moment, dass unsere Haustür aufgebrochen wird.
Das Getrampel auf dem Fussboden im Flur nähert sich,
……jetzt, sie sind an der Tür!!!!! ………….. Und ……………sie laufen weiter! Das
Unmögliche ist geschehen, wir wurden verschont.
Ich zittere wie Espenlaub als ich zum Fenster
schleiche und die Vorhänge ein wenig zur Seite schiebe. Unter mir hetzen
Männer, Frauen und sogar Kinder auf die Strassen, getrieben von Männern
in der verhassten schwarzen Uniform. Sie treiben diese Menschen
zusammen, wie wilde Tiere, auf die man Beute macht, um sie in die Falle
zu jagen. Einige Leute tragen ihre Ausgehkleidung und haben kleine
Handkoffer bei sich, viele jedoch tragen dünne Nachthemden, oder nur
Unterwäsche. Die unglücklichen werden in kleinere Gruppen aufgeteilt,
ohne Rücksicht auf Familien werden sie auseinander gerissen, selbst das
Schreien der Mütter nach ihren Kindern wird ignoriert. Und wie Cowboys
ihre Herde treiben, so drängen die Uniformierten ihre "Herde" zum
bereitstehenden Transport.
Diese Verbrecher arbeiten sehr schnell, sie werfen
regelrecht ihre Beute auf den LKW, und dreschen auf diejenigen ein, die
für ihren Geschmack nicht schnell genug sind. Dann werden die
Seitenverkleidungen heruntergelassen, und mit ihrer menschlichen Fracht
fahren sie in die Nacht.
Stille breitet sich aus in der Nachbarschaft. Es ist
vorüber. Und mir wird bewusst: Wir wurden übergangen! (Englisch:
passed over/Passover = Pesach/Pasach)
Als wären unsere Türen und Fenster mit dem Blut des
Lammes bestrichen gewesen, so wie es in der Heiligen Schrift berichtet
wird. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, warum gerade wir gerettet
wurden. Ein Pessach Wunder? Falls dem tatsächlich so ist, dann war es
das erste in einer ganzen Reihe von Wundern, die es mir ermöglichten,
diese Geschichte niederzuschreiben.
Hank Stanton,
Texas FORMERLY: Helmut Weissenstein-Schönwälder, Grundelgasse 5,
9.Bezirk, Wien. Meine Mutter war eine Zahnärztin "um der Ecke" auf der
Alserbachstrasse 41
hagalil.com
2007 |