"Wir erledigten die Schmutzarbeit der Schoah":
Sonderkommando Auschwitz
"Sonderkommandos" nannte man die Häftlinge in den
Konzentrationslagern, die an den Fließbändern des Todes ihre Arbeit taten.
Ein neues Buch gibt Auskunft über ihr Überleben. Einer dieser Überlebenden
sagte: "Ich hörte auf, ein Mensch zu sein."
Von Ronit Roccas, Haaretz, 02.05.2000
Übersetzung von Daniela Marcus
Shlomo und Abraham Dragon kamen im Dezember 1942 in
Auschwitz an. Kurz darauf ließen die Deutschen ihre gesamte Arbeitstruppe
-200 noch einigermaßen gesunde und robuste Männer- in einen nahe gelegenen
Wald marschieren. Die Luft war eiskalt und der Boden war von Schnee bedeckt.
In einiger Entfernung sahen die Männer Rauch aus dem Krematorium kommen und
sie rochen ihn auch. Doch sie kannten noch nicht die schreckliche Wahrheit,
die hinter diesen übel riechenden Schwaden steckte. Otto Moll, ein
SS-Offizier, befahl den Männern, ein Stroh bedecktes Gebäude im Wald zu
betreten. Dieses war voller nackter Leichen. "Wir sahen Massen von nackten
Körpern, Männer, Frauen und Kinder. Wir wurden von Entsetzen gepackt und um
uns herum war eine unheimliche, unnatürliche Stille. Wir brauchten zwei
Tage, um wieder einen gewissen Anschein von Normalität zu erlangen."
Dies war für die Dragon-Brüder der erste Tag beim Sonderkommando in
Birkenau, wo die Todesfabrik untergebracht war, die etwa drei Millionen
Juden vernichtete. Ein neues Buch mit dem Titel "We wept without tears" (Wir
weinten ohne Tränen) des Historikers Gideon Greif, das von Yedioth Ahronoth
und Yad Vashem herausgegeben wurde, beinhaltet die Berichte von acht
Mitgliedern der Sonderkommando-Truppe der Dragon-Brüder.
Gemäß der gängigen Auffassung hat niemand von den Sonderkommando-Häftlingen
überlebt, da sie normalerweise in die Gaskammern geschickt wurden, nachdem
sie einige Monate lang diese Arbeit getan hatten. Viele Historiker haben
diese Auffassung als Tatsache akzeptiert. Wie jedoch Greifs Buch beweist,
gelang es etwa 100 Mitgliedern von Sonderkommandos, das Todeslager zu
überleben, nachdem es von der Roten Armee befreit worden war. Von diesen
etwa 100 Personen leben heute schätzungsweise noch 30 in verschiedenen
Ländern. Greif hat ihre Lebensgeschichten etwa 40 Jahre lang verfolgt, um
sicher zu stellen, dass dieses besondere Kapitel des Horrors nicht vergessen
wird. Darüber hinaus geben die Berichte einen einzigartigen Einblick in die
täglichen Operationen der Fließbänder des Völkermordes und werfen Licht auf
diesen Aspekt der Schoah, der zwei Generationen lang unter einem
geheimnisvollen Schleier der Verschwiegenheit verborgen wurde.
Die Sonderkommando-Häftlinge hatten bessere physische Bedingungen als andere
Auschwitz-Insassen. Sie hatten anständiges Essen, schliefen auf
Strohmatratzen und konnten normale Kleidung tragen. Yosef Sackar, ein
griechischer Jude und Mitglied eines Sonderkommandos, der heute im Zentrum
Israels lebt, erinnert sich: "Relativ gesprochen fehlte es uns an nichts,
wir hatten Zugang zu vernünftigen Mahlzeiten, Kleidern und Unterkünften."
Trotz dieses scheinbar rosigen Bildes schreibt Prof. Yisrael Gutman im
Vorwort des Buches, dass der Selektionsprozess bezüglich der
Sonderkommandotruppen genauso Furcht erregend und schrecklich war wie
derjenige, bei dem entschieden wurde, welche Neuzugänge in die Gaskammern
geschickt werden würden. Sowohl Shlomo als auch Abraham Dragon, die heute
beide in einem Vorort von Tel Aviv leben, waren von den Erlebnissen ihres
ersten Tages vollkommen geschockt. "Ich hatte niemals so etwas gesehen",
erinnert sich Shlomo. "Ich war so entsetzt, dass ich dachte, ich könnte die
Arbeit dort nicht fortsetzen. Deshalb nahm ich ein Stück Glas und schnitt
mir in den Arm in der Hoffnung, durch den Tod könnte ich mich von diesem
Schicksal erlösen."
Der in Polen geborene Yaakov Silberberg kam ebenfalls Ende 1942 in Auschwitz
an. An seinem ersten Tag in der Sonderkommandotruppe traf er einen
Bekannten, Shlomo Kirschenbaum. Dieser war der zuständige Kapo für die
Sonderkommandotruppe. Er erzählte Kirschenbaum, dass er es nicht aushalten
könne, diese Arbeit zu tun und deshalb an Selbstmord denke. "Kirschenbaum
sagte mir, dass er genauso gefühlt habe, als er zum Sonderkommando geschickt
wurde, doch es sei ihm möglich gewesen, sich anzupassen. Er sagte, auch mir
werde dies möglich sein. Er gab mir zwei harte Drinks. Ich schlief ein und
nachdem ich am nächsten Tag aufgewacht war, dachte ich anders über das Thema
und brachte mich nicht um."
Gemäß Greif sandten die Nazis absichtlich Juden zur Arbeit bei den
Sonderkommandos. "Die typisch sadistische Ader der Deutschen fand Vergnügen
an einem System, in dem das Opfer die größte Erniedrigung erlitt bevor es in
einer Wolke von übelriechendem Rauch aufging." Wie einer der Überlebenden
sagte: "Wir erledigten die Schmutzarbeit der Schoah."
Sonderkommandos waren in mehrere Gruppen aufgeteilt. Jede hatte eine
spezielle Funktion. Einige begrüßten die Neuzugänge und erzählten ihnen,
dass sie desinfiziert und geduscht werden würden, bevor sie zu den
Arbeitstruppen kämen. Sie waren verpflichtet zu lügen. Sie mussten den
Gefangenen, die bald ermordet werden würden, erzählen, dass sie nach dem
Entlausungsprozess einem Arbeitstrupp zugeteilt werden und ihre Familien
wieder treffen würden. Dies waren die einzigen Sonderkommandos, die mit den
noch lebenden Opfern Kontakt hatte. Andere Teams fertigten die Leichen nach
den Gaskammern ab indem sie die Goldzähne zogen und Kleider und
Wertgegenstände entfernten, bevor die Leichen zur endgültigen Beseitigung
ins Krematorium gebracht wurden.
Sackar war 20 Jahre alt als er im April 1944 in Auschwitz ankam. Einige
Wochen später durchlief er den berüchtigten Selektionsprozess und wurde zum
Sonderkommando geschickt. "Wir arbeiteten im Krematorium Nummer 2, in dem
Raum, in dem den Gefangenen befohlen wurde, sich auszuziehen." Als er
gefragt wurde, ob er jemals daran gedacht habe, den Gefangenen zu sagen,
dass sie gleich getötet werden würden, erwiderte er: "Was hätte das
gebracht? Sie waren vollkommen wehrlos. Welchen Sinn hätte es gehabt, sie
ohne guten Grund in Angst und Schrecken zu versetzen?"
Sein Landsmann Yaakov Gabai, der während der Zeit, in der Greif die
Interviews vornahm, gestorben ist, erinnerte sich, wie zwei seiner Cousins
unter den letzten der "Muselmänner" waren (Langzeitinsassen, die zu
ausgehungerten wandelnden Leichnamen verkümmert waren), die im Oktober 1944
getötet werden sollten. "Am 13. Oktober waren zwei meiner Cousins unter 400
Muschelmännern, die an diesem Tag an die Reihe kamen. Ich sagte ihnen die
Wahrheit und sagte ihnen, an welcher Stelle der Gaskammer sie sich aufhalten
sollten, um sofort und ohne zu leiden, zu sterben."
Das Vergasen wurde von der SS durchgeführt. Die Sonderkommandos betraten die
Gaskammern hinterher, holten die Leichen heraus, bearbeiteten sie und
brachten sie zum Krematorium. Dann wurden die Überreste zerkleinert und mit
der Asche vermengt. Wenn der Ascheberg zu hoch wurde, trugen ihn die
Sonderkommando-Häftlinge unter den wachsamen Augen der SS ab und warfen ihn
in den nahe gelegenen Fluss Vistula.
Greif erklärt, dass das Leben der Sonderkommando-Häftlinge von den ständigen
Transporten von Juden abhing. "Jede Verlangsamung der Operationen auf Grund
eines Mangels an Opfern bedeutete, dass die Sonderkommandos in Gefahr waren,
eliminiert zu werden."
Der einzige Aufstand
Die Sonderkommando-Häftlinge wussten, dass die Deutschen nicht
beabsichtigten, irgendwelche Zeugen ihrer Verbrechen zurück zu lassen und
deshalb die Sonderkommandotruppen in regelmäßigen Abständen töteten. "Wir
glaubten nicht, dass wir überleben würden", sagt Shlomo Dragon. "Gegen Ende
wurde klar, dass die Transporte weniger wurden, da es keine Juden mehr gab,
die man hätte töten können. Ich war sicher, dass die gesamte jüdische Nation
ausgelöscht werden würde."
Im Oktober 1944 erfuhr die Truppe, dass die Deutschen sie vergasen wollten.
Bereits seit einiger Zeit hatte der Untergrund einen umfassenden Aufstand
geplant. Doch er war nicht ausgeführt worden. Die verbliebenen
Sonderkommandos entschieden, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Und am 7. Oktober erhoben sich die drei Sonderkommandos von Birkenau. Sie
griffen die SS mit behelfsmäßigen Waffen an: Steine, Äxte, Hämmer, weiteres
Werkzeug und improvisierte, selbst hergestellte Granaten. Sie überraschten
die SS-Wachen, überwältigten sie und sprengten das Krematorium in die Luft.
Zu diesem Zeitpunkt schloss sich ein weiteres Sonderkommando an, das
ebenfalls seine Wachen überwältigte und aus dem Gefängnishof ausbrach.
Der Aufstand scheiterte. Es gab keine Massenrevolte und innerhalb kurzer
Zeit gelang es den Deutschen, beinahe alle Flüchtlinge gefangen zu nehmen
und zu töten.
In diesem Todesrachen lebten die Sonderkommandos weiter. Es gab relativ
wenig Selbstmorde. Wie Gabai sagt: "Unsere Fähigkeit zur Anpassung ist
beinahe unbegrenzt. Wir funktionierten wie seelenlose Roboter. Unter solchen
Bedingungen war dies die einzige Möglichkeit, bei Verstand zu bleiben."
Shaul Chazan, ein weiterer Sonderkommando-Häftling aus Griechenland, sagte,
die einzige Möglichkeit zu überleben war "aufhören, ein Mensch zu sein. Wir
erreichten die Stufe, da wir inmitten von Leichen essen und trinken konnten,
vollkommen gleichgültig, komplett getrennt von unseren Gefühlen. Wenn ich
heute daran denke, dann weiß ich nicht, wie wir überlebten."
Dr. Natan Dorset, leitender klinischer Psychologe von Amcha (eine
Organisation, die Schoah-Überlebende und deren Familien psychologisch
betreut) sagt: "In Extremsituationen sind Menschen fähig, ihre Gefühle
auszublenden, um zu überleben." Moshe Sternberg-Harel, ein Psychotherapeut,
der bei Amcha arbeitet, erklärt, es gäbe keine Studien darüber wie
Sonderkommando-Häftlinge emotional überlebten. "Es kann jedoch angenommen
werden, dass ein Prozess emotionaler Betäubung stattgefunden hat, so wie
dies im Allgemeinen bei Überlebenden der Fall war. Die gesamte Energie und
alle Gedanken waren nur darauf konzentriert, einen weiteren Tag
durchzustehen. Alle anderen Gedanken wurden ausgeblendet. Der menschliche
Verstand ist fähig, seine emotionalen Elemente zu verringern und zu
neutralisieren, um physisches Überleben in extrem stressigen Situationen zu
ermöglichen."
Nach dem Krieg versuchten Sonderkommando-Häftlinge, zu einem normalen Leben
zurückzukehren, doch für sie war es sogar noch schwerer als für andere
Überlebende. Der verstorbene Leon Cohen, dessen Aufgabe darin bestanden
hatte, den Leichen die Goldzähne zu ziehen, erinnerte sich kurz vor seinem
Tod daran, wie er über ein Jahr lang auf die Zähne der Menschen gestarrt
hatte, um zu sehen, ob sie Goldzähne hätten. "Ich benötigte mehr als ein
Jahr, um diese Gewohnheit abzuschütteln, um anzufangen, Auschwitz aus meinem
System zu bekommen."
Viele Sonderkommando-Häftlinge haben ihre Geheimnisse niemals verraten,
sowohl aus Scham als auch aus dem Gefühl heraus, dass ihnen niemand Glauben
schenken würde. Bis zu diesem Tag glauben viele Menschen, dass kein
Sonderkommando-Häftling überlebt hat.
Abraham Dragon sagte Greif, dass er sich schäme. "Die israelische
Gesellschaft betrachtete Sonderkommando-Häftlinge mit Misstrauen und sah sie
als Verwandte von Kollaborateuren, die diese Arbeit wählten, um dem Tod zu
entkommen. Sie verstand nicht –vielleicht wollte sie nicht verstehen-, dass
es einfach das Schicksal war, das uns in die Reihe der
Sonderkommando-Häftlinge stellte. In diesem Höllenloch hatten wir
schlichtweg keine Kontrolle über unser Schicksal." Chazan beschrieb die
Fassungslosigkeit, der er begegnete, als er seiner Familie versuchte zu
erzählen, was er durchgemacht hatte. "Sie dachten, ich sei verrückt. Sie
hätten mir nicht geglaubt. Bis zu diesem Tag kennen nicht einmal meine
engsten Verwandten meine Vergangenheit als Sonderkommando-Häftling."
Greif gibt zu, dass es nicht einfach war, die Interviews zu führen. "Ich
musste vollen Gebrauch von meinem etwas dickköpfigen Charakter machen, um
ihre Zustimmung zu erhalten, für das Buch interviewt zu werden."
Dies ist angesichts der Tatsache, dass die meisten Überlebenden und in
gewissem Maß das jüdische Establishment im Allgemeinen dahin tendieren, die
Sonderkommandos negativ zu sehen, keine Überraschung. Sogar in den Lagern
selbst waren die Sonderkommandos als unsauber, beinahe als Aussätzige,
betrachtet worden. Der Autor Primo Levi beschrieb sie als "den
Kollaborateuren ähnlich". Er sagte, ihren Zeugenaussagen solle nicht viel
Glauben geschenkt werden, "da sie viel zu büßen hatten und deshalb natürlich
versuchten, sich auf Kosten der Wahrheit zu rehabilitieren".
Greif gibt zu, dass der größte Teil der Literatur, die nach dem Krieg
geschrieben wurde, eine ähnliche Haltung einnimmt. Und erst vor kurzem
begann sich diese Haltung zu ändern. Die Änderung ist noch sehr begrenzt,
sagt Greif. Erst vor zwei Monaten sagte ein Überlebender, den er während
eines Vortrags in Miami getroffen hatte, zu ihm: "Die
Sonderkommando-Häftlinge waren die schlimmsten Mörder."
Deshalb ist es nicht überraschend, dass die Sonderkommando-Häftlinge die
Notwendigkeit verspüren zu erklären, dass sie genauso Opfer waren wie die
anderen. "Wir haben das Blut nicht vergossen. Das taten die Deutschen", sagt
Shlomo Dragon. "Sie zwangen uns, den Sonderkommandos beizutreten. Die
Tatsache, dass wir gezwungen wurden, schreckliche Arbeit zu tun, ändert
nichts an der Tatsache, dass wir die Opfer und nicht die Ungeheuer waren."
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