Ungarn 1944:
Schoah - Holocaust
Von Schlomoh Graber
Am 19. März 1944 wurde Ungarn von deutschen Truppen
erobert. Eichmanns Repräsentanten, Hermann Krummei und Dieter Wischlitzni,
erschienen im jüdischen Gemeindebüro von Budapest und forderten eine
Einberufung der Gemeindeführer.
Am 21. März wurde ein achtköpfiger Gemeinderat unter
Vorsitz des Budapester Gemeindepräsidenten Stern Samu gebildet. Am 22. März
folgte die Vereidigung des neuen Regierungschefs Sztójai Döme. Unter seiner
Führung erließ der Ministerrat eine Reihe antijüdischer Gesetze.
Zur selben Zeit richteten sich die Deutschen im Nyírbátorer Bankgebäude ein.
Am nächsten Tag gerieten wir in helle Aufregung, da Gendarmen vor der Tür
standen, um Mutter ins deutsche Hauptquartier abzuholen. Wir hatten keine
Ahnung, warum man sie holte und wann wir sie wiedersehen würden. Wie sich
herausstellte, war Mutter die einzige im Städtchen, die zwischen Deutschen
und Ungarn dolmetschen konnte. Gegen Abend kam sie nach Hause und sagte:
Jetzt habe ich für die Deutschen gedolmetscht. Ich hoffe, ich kann es bald
für die Russen tun.
Wir Juden im Städtchen ahnten noch nicht, was in Budapest vor sich ging. Am
5. April 1944 traf uns die erste Zwangsverordnung: Jeder Jude musste einen
gelben Fleck in Form eines Davidsterns tragen, der in Brusthöhe auf die
Kleidung zu nähen war. Ohne diesen Judenstern durfte sich kein Jude auf der
Straße blicken lassen. Dadurch war die Sicherheit der Juden gefährdet und
die Verfolgungen und Demütigungen nahmen zu. Draußen herrschte der Pöbel mit
Unterstützung der am Ort stationierten Soldaten und es mehrten sich die
Überfälle auf Juden, die aus der Synagoge kamen. Die Polizei ignorierte die
Übergriffe. Recht und Gerechtigkeit waren abgeschafft.
Wir jungen Juden im Alter von 15 bis 18 Jahren wurden zum Arbeitdienst
einberufen, an Stelle des paramilitärischen Dienstes namens Levente, für den
Juden als unwürdig galten. Dabei gab es allerlei Schikanen. Eines Tages
erhielten wir Befehl, uns auf dem Rathaushof einzufinden, wo uns Hacken,
Schaufeln und Hämmer ausgehändigt wurden. Dann mussten wir in Dreierreihen
antreten, die Arbeitsgeräte an Stelle von Gewehren geschultert, und zur
Erniedrigung vor den örtlichen Gojim durchs Stadtzentrum marschieren. Damit
sollte signalisiert werden, dass die Juden fortan zu arbeiten hätten.
„Saujuden" und ähnliche Ausdrücke flogen uns an den Kopf.
Ich fühlte mich wie ein Zootier im Käfig, das von den Passanten als
exotisches Wesen begafft wird. Juden wagten sich während unseres Marsches
nicht auf die Straße.
Die Befehlsführer waren Unteroffiziere, die sich gerade erst freiwillig zu
den Pfeilkreuzler-Einheiten (Nyilas-Kereszt) gemeldet hatten - der örtlichen
Entsprechung der Hakenkreuz-Einheiten. Sie nannten sich Freiheitskämpfer. An
ihrer Spitze stand kein anderer als mein Klassenlehrer aus der allgemeinen
Schule, ein Mann, der mir noch gestern Moral gepredigt hatte und nun in
Uniform mit Pfeilkreuzbinde am Ärmel vor mir stand, grob auftrat und mich
nicht mehr kannte. Unsere Aufgabe bestand darin, die Asphaltdecke des
Straßenstücks vom Stadtzentrum zum Bahnhof, etwa einen Kilometer lang,
abzuheben, die Fahrbahn mit Steinpflaster zu versehen und es mit Sand zu
befestigen.
Da man mit unserer Arbeit nicht zufrieden war, zog man schließlich
Facharbeiter bei, um das Werk zu vollenden. Aus mir unbekanntem Grund wurde
der Arbeitsdienst eingestellt und man ließ uns in Ruhe bis zur Deportation.
In unserem Städtchen wie in anderen kleinen Ortschaften waren wir ziemlich
isoliert und wussten kaum, wie die Dinge liefen und welche Kontakte die
Gemeindemitglieder und jüdischen Organisationen in Budapest zu den Deutschen
unterhielten. Die Rote Armee stand knapp vor der ungarischen Grenze. Wir
hofften auf einen baldigen russischen Einmarsch, ehe die Deutschen uns etwas
antäten. Doch die Deutschen ließen sich von der Lage nicht beeinflussen,
sondern setzten ihr teuflisches Planungswerk fort, als gäbe es gar keinen
Krieg.
Der Pessachabend des Jahres 1944 war der traurigste meines Lebens. Aufgrund
von Gerüchten, dass man uns womöglich in ein anderes Land deportieren
wollte, war die Atmosphäre äußerst düster. Nach dem Sedermahl gingen wir
nicht wie sonst zum Seder des Rabbis. Jeder Jude verrammelte sich in seinem
Haus und harrte seines Schicksals.
In den Mittelfeiertagen des Pessachfests kamen Pfeilkreuzlertrupps in Zivil
mit Armbinde in die Stadt, geführt von einem stämmigen, untersetzten Mann
mit einem Schlagstock in der Hand. Nachdem sie sich im Rathaus eingerichtet
hatten, forderten sie die jüdischen Gemeindeobersten auf, mit einer
Namensliste aller jüdischen Gemeindemitglieder bei ihnen anzutreten. In
Wirklichkeit bestand eine solche Liste bereits. Sie war einige Zeit zuvor
von städtischen Beamten aufgestellt worden und enthielt auch die Namen von
getauften Juden und deren Nachkommen.
Mit der Abholung der Juden wurden die berüchtigten Gendarmen (Csendörség)
beauftragt. Sie suchten die Wohnungen der Juden auf, prüften, ob alle
Bewohner anwesend waren, und beorderten sie sofort auf den Synagogenplatz.
Wir erhielten einen Tag Zeit, einige Sachen zu packen, so viel wir in Händen
tragen konnten. Dann mussten wir uns erneut in der Synagoge versammeln.
In Eile rafften wir unsere Sachen zusammen. Die Familienfotos versteckte ich
bei meinem Großvater auf dem Dachboden. Mutters Brillantring vergrub ich im
Boden des Kellers. Als wir später aus den Lagern zurückkehrten, mussten wir
feststellen, dass all diese Dinge verschwunden waren. Die Gojim hatten sich
nach der Verschleppung der Juden sofort über deren Häuser hergemacht und
alles geplündert, sogar die Höfe umgegraben und die Fußböden aufgebrochen,
um versteckte Gegenstände zu finden.
Kein Jude kam auf die Idee, zu fliehen oder unterzutauchen, weil jeder dabei
sein Leben riskierte. Die Gojim zögerten nicht, ihn zu verraten.
Nachdem wir uns am nächsten Tag im Synagogenhof versammelt hatten, wurden
wir in das jüdische Gemeindezentrum der Bezirkshauptstadt Nyíregyháza
verbracht. Dort hatte man die Juden aus einundsechzig Ortschaften der
Umgebung konzentriert, insgesamt 17.580 Juden, einschließlich der 5.000
Juden von Nyíregyháza selbst. Nach einigen Tagen wurden wir auf drei Ghettos
verteilt, die man auf landwirtschaftlichen Gütern mit eilig erstellten
Notunterkünften eingerichtet hatte.
Wir kamen auf ein Gut namens Simapuszta, das mit Stacheldraht eingezäunt
war. Untergebracht wurden wir auf der Tenne und in den Rinder- und
Pferdeställen. Das Ghetto wurde von Gendarmen bewacht. Kein Mensch ging ein
oder aus. Wir waren von jeglicher Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten.
Zum Glück war es warm und das schöne Wetter erleichterte uns das Leben. Tag
für Tag liefen wir tatenlos in der Gegend herum. Wir hatten sogar ein
Familienereignis: Mein Bruder Dov-Ber hatte das Bar-Mizwa-Alter erreicht,
aber kein Mensch achtete darauf.
Bartträger rasierten sich, um unnötige Belästigungen zu vermeiden, da der
Bart für die Judenhasser den hässlichen Juden symbolisierte. Auf diese Weise
traten bartlose Gemeindeführer im Gewand von Gojim auf, so dass ich sie kaum
mehr erkannte. Das galt auch für Rabbi Aaron Teitelbaum, der sich einen
dicken Schnurrbart stehen ließ und eine bäuerliche Pelzmütze auf dem Kopf
trug.
Aus
dem Buch Schlajme,
von Schlomoh Graber, ins Deutsche übertragen von Ruth Achlama. Den
Gesamttext des hebräischen
Originals finden Sie hier.
hagalil.com
2007
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