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Über das allmähliche Verfertigen des Ressentiments beim Reden:
Eine psychoanalytische Betrachtung des Antisemitismus

Von Kurt Grünberg

Der Antisemitismus ist aus unseren Köpfen nicht wegzudenken. Wohl nicht zu Unrecht ist er als Grundkonstante zivilisierter Gesellschaften beschrieben worden. Psychodynamisch betrachtet dient der Antisemitismus der "Selbstentgiftung" von Minderwertigkeit und Schuld; das eigene Schlechte (aber auch das, worum man sie beneidet) wird auf die Juden projiziert. Vor allem ist der Antisemitismus aber ein massenpsychologisches Phänomen: ein Grundbestandteil großer Kollektive.

Juden in Deutschland bilden eine bestimmte Sensibilität aus, um Strategien der Verleugnung und Rationalisierung des nationalsozialistischen Judenmordes zu erkennen. Denn Juden werden, sofern man sie als solche wahrnimmt, meist keine unmittelbaren Zeugen antisemitischer Anwürfe, während philosemitische Äußerungen in ihrer Gegenwart durchaus zum Alltag gehören.

In unseren Begegnungen mit anderen, in persönlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz, wird Antisemitismus nur vage und diffus geäußert. Ein solch diffuser Antisemitismus ist oftmals nur auszumachen, wenn Juden im Sinne einer Gegenübertragungsreaktion eigenen Affekten oder Phantasien nachspüren: etwa wenn man plötzlich emotional erkaltet oder sich gelähmt fühlt, wenn einem inmitten bekannter Gesichter plötzlich zumute ist, als sei man ganz allein, wenn Empfindungen von ohnmächtiger Wut, von Hass oder Verzweiflung in einem aufsteigen. Dieser Wahrnehmungsmodus eines diffusen Antisemitismus ist kaum zu vermitteln, denn nicht nur den anderen, sondern auch einem selbst erscheint er oft als unbegründet.

Gerade weil sich Antisemitismus vor ihnen versteckt, ist es für Juden ganz besonders wichtig, den nachweisbaren, den öffentlich zugänglichen Antisemitismus zu erkennen. Dabei sind sie darauf angewiesen, den antisemitischen Gehalt von Aussagen aus einem bestimmten Sprachgebrauch oder aus Fehlleistungen zu erschließen.

Vor diesem Hintergrund betrachte ich die heutige Rehabilitierung des Antisemitismus in Deutschland. Dabei gehe ich von der These aus, dass die massenpsychologische Wirksamkeit des Antisemitismus mittels zweier Funktionsprinzipien erzielt wird: einer zeitlichen Synchronisierung und einer inhaltlichen "Gleichschaltung". Ob eine einzelne Äußerung als antisemitisch oder nicht antisemitisch zu betrachten sei, ist für die massenpsychologische Wirksamkeit der Judenfeindschaft nicht so bedeutsam. Es gilt vielmehr, die arbeitsteilig organisierte gesellschaftliche Produktion von Antisemitismus in den Blick zu nehmen. Solche sozialen Prozesse der Bildung und Bindung gesellschaftlicher Massen möchte ich anhand von zwei Beispielen verdeutlichen: der vom stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Möllemann ausgelösten Antisemitismus-Debatte und Walsers neuem Roman.

Was ist geschehen? Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Jamal Karsli hatte behauptet, die israelische Armee wende Nazi-Methoden an; Jürgen Möllemann war ihm mit einem Statement über palästinensische Selbstmordattentate zur Seite gesprungen: Es sei die Politik Israels, die den Terrorismus fördere, er selbst würde sich ebenfalls wehren, "auch im Land des Aggressors" . . . Karsli reichte dies offenbar nicht ganz, denn er äußerte sich einen Monat später in der "Jungen Freiheit" über die Macht und den zu großen "Einfluss der zionistischen Lobby". Davor hätten "die Menschen in Deutschland verständlicherweise Angst".

Wenig später legte Möllemann nach, indem er das Auftreten von Juden für das Anwachsen des Antisemitismus verantwortlich machte: Kaum jemand verschaffe den Antisemiten mehr Zulauf als "Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art".

Der ehemalige Außenminister Kinkel wiederum verharmloste den Konflikt, als er meinte, seine Partei sei "wegen einiger weniger unglückseligen Äußerungen" so in Misskredit geraten. Sein Parteikollege Rexrodt meinte, Möllemann habe sich "im Ton vergriffen". Der Hinweis, es gehe wohl nicht um den Ton, sondern eher um eine Haltung (Henryk Broder), verpuffte folgenlos. Es bliebe zu ergänzen, dass sich auch der Bundeskanzler zu Wort meldete; die unsägliche Debatte der Freien Demokratischen Partei schade dem deutschen Ansehen im Ausland. So viel zum "Aufstand der Anständigen".

Die Sammlung solcher Zitate, Anwürfe und Richtigstellungen ließe sich unendlich fortsetzen. Der spätere Rückzug Karslis aus der FDP-Fraktion und Möllemanns Entschuldigung ist dabei ganz unwesentlich. Was nämlich die gesellschaftliche Produktion von Antisemitismus angeht, ist es vollkommen gleichgültig, ob Karsli begreift, was er macht, ob sich Möllemann entschuldigt oder ob er es bleiben lässt. Die Juden werden in jedem Fall als die Schuldigen gelten: Im einen Fall wird man ihnen vorwerfen, sie glaubten bestimmen zu dürfen, was man in Deutschland sagen darf. Andernfalls - falls sich einer der Akteure "unterwirft" - wird es heißen: Da sehe man es wieder einmal, wie viel Macht die Juden hätten.

Das arbeitsteilige Prinzip zur Konstruktion von Antisemitismus besteht nun darin: Jede Einzelaktion komplettiert die andere. Möllemanns Ausfälle werden in ihrer Wirksamkeit erst angemessen erkannt, wenn man außerdem Tausende von antisemitischen Leserbriefen und Emails beachtet, die er bekam. Menschen, denen unterstellt wird, ihre Aussagen seien antisemitisch, weisen dies in der Regel entrüstet von sich - gleichzeitig aber eilen ihnen Gesinnungsgenossen zu Hilfe, etwa Jörg Haider: "Ich kann Möllemann nur empfehlen: Kopf hoch und nicht gleich in Deckung gehen."

Ist ein antisemitischer Prozess erst einmal in Gang gekommen, wird bald relativ gleichgültig, wer sich wann zu Wort meldet, wer wen kritisiert, korrigiert, ob das Gesagte wirklich gemeint oder scheinbar zurückgenommen wird. Im Sinne der "Gleichschaltung" entstehen antisemitische Stimmungen, die, sind sie einmal losgetreten, kaum noch zu bändigen sind. Antisemitismus steckt an.

Martin Walser, der bereits mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und in diesem Jahr auch dadurch geehrt worden war, dass der Bundeskanzler ihn am 8. Mai zu einem "Gespräch über Deutschland" eingeladen hatte, legt nun seinen neuen Roman vor. In diesem Werk geht es interessanterweise gar nicht um den "Tod eines Kritikers", sondern um einen Tötungswunsch. Der Autor zeichnet lediglich ein Abbild der antisemitischen deutschen Wirklichkeit. Peu à peu wird, unter Nutzung der oben beschriebenen Arbeitsteilung, das antisemitische Klischee vom ewig wandernden, mächtigen und auf Macht versessenen, geilen, selbstverliebten, geizigen, reichen und rachsüchtigen Juden entfaltet.

Es macht nichts, dass die eine Romanfigur die andere korrigiert, dass der eine die Schuld, der andere die Unschuld derselben Person belegen will. Das im Sinne der Gleichschaltung entstehende Gesamtbild tritt deutlich in Erscheinung: Die mächtigen Juden verfolgen ihre Kritiker.

Tatsächlich ist es aber Walser, dem es um die Vernichtung seines Gegners geht. Obwohl sein Roman augenscheinlich von einem Untersuchungsverfahren gegen den Schriftsteller Lach, den vermeintlichen Mörder des Literaturkritikers Ehrl-König geht, spricht Walser vom "Fall Ehrl-König / Lach": also von dem, was Ehrl-König dem Schriftsteller Lach angetan hat. Es gilt hier nicht, einen Mord aufzuklären und zu verurteilen; vielmehr soll nahe gelegt werden, jemand wie Reich-Ranicki habe es gar nicht anders verdient, als ermordet zu werden. In diesem einen Punkt sind sich alle Romanfiguren einig.

Der missliebige Literaturkritiker wird - Walser ist gründlich - folgerichtig nicht nur aufgrund seiner öffentlichen Äußerungen angeklagt. Im Verlauf der Handlung gesteht außerdem noch seine Ehefrau, sie habe ihn ermordet, weil er sie sexuell nicht befriedigt habe: "Seine unbremsbare Ejakulation. Also, er ist die Nullbefriedigung schlechthin. Und zwar immer schon und immer noch. Wenn du das verrätst, habe er nach ihrer Andeutung gesagt, wirst du es nicht überleben."

Zur Verwirklichung des Vernichtungszieles sind Walser dann alle Mittel recht. Im Rückgriff auf eine hier zu Lande über Jahrzehnte verpönte Form des unverblümten Antisemitismus greift Walser sogar dazu, den hässlichen, kleinen Juden anzuprangern: "das grinsende Männlein mit einem zu breiten Mund". Später heißt es: "Seine Tragödie: er blieb ewig hängen im Giftigsein", der Jude sei ein "Giftzwerg", "Ehrl-Königs Delikatesse, Schwangere bis zum dritten Monat" ...

"Die Umwertung aller Werte" habe Reich-Ranicki vollbracht, so dass Walser sich berufen fühlt, am Ende auch die jüdische Fratze seines Widersachers anzuprangern: "Man müsste mit den Kameraleuten reden, dass die ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, dass endlich einmal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum . . . Scheißschaum, gellte Bernd Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt."

Hier findet eine Täter-Opfer-Inversion statt. Das Opfer wird als Täter, der Täter wird als Opfer hingestellt. Genau dies kennen wir hinlänglich aus der Debatte um den nationalsozialistischen Mord an sechs Millionen Juden, um die es Walser letztlich geht. Sein Schriftsteller äußert sich unverhüllt: "Auch wenn ich es getan haben sollte, wäre ich unschuldig. Es muss auch unschuldige Mörder geben."

Muss es das?

Kurt Grünberg ist Psychoanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main.
Erstveröffentlichung in der Welt vom 29.6.2002

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