Antisemitismus und bürgerliche Gesellschaft
Von Fabian Kettner
Teil I.
Der Zugang zu einer Kritik des Antisemitismus soll hier
erfolgen über eine Kritik seiner Alltagswahrnehmung, eine Form von
Wahrnehmung und Bearbeitung, die zu theoretischen Systemen ausgearbeitet und
verdichtet werden kann. Diese können grob in subjektivistische und
objektivistische
Erklärungsmuster eingeteilt werden.
Im subjektivistischen Erklärungsmuster gilt
Antisemitismus als subjektive Disposition, als Hass. Ihnen sind die
'bürgerlichen Theorien' zuzuordnen, also die akademischen und
außer-universitären Diskurse der Sozialwissenschaften und der Pädagogik.
Antisemitismus wird hier bestimmt als schlichte Abneigung eines
Individuums gegen irgendeine Gruppe, die nur durch das Ziel der verfemten
Gruppe, in diesem Fall "Jude", näher spezifiziert wird. Dem Antisemitismus
zur Seite stellen lassen sich auf diese Weise ebenso der Hass auf Farbige
(Rassismus), auf Frauen (Sexismus), überhaupt auf alles Andere, auf Tiere
etc. Dies ist eine Erklärung, die keine ist und die dies nichtmals merkt.
Denn das Phänomen Antisemitismus wird nicht erklärt,
sondern auf das Individuum abgewälzt, und jenes damit zum Objekt
didaktischer und pädagogischer Bearbeitung: Vorurteile seien das Resultat
mangelnder oder verfälschter Bildung und Erfahrung, weswegen "Begegnungs-
und Verständigungswochen" zwischen Deutschen und Juden organisiert oder auch
straffällig gewordene Neonazis auf Bildungsurlaub nach Israel geschickt
werden müssen. Das antisemitische Subjekt gehöre über die Juden und den
Nationalsozialismus aufgeklärt.
Zum zweiten sei die antisemitische Einstellung das
Resultat persönlichkeits- deformierender Kindheitserfahrungen, welche von
der sie konstatierenden Klientel direkt ausgebügelt werden können. Was
Antisemitismus ist, wird nicht erklärt, sowenig wie dessen
De-Thematisierung, der nebulöse "Hass auf Andersartige". Vielmehr wird
dieser als Phänomen voraus- und gleichzeitig als Erklärung hinten angesetzt,
wenn man sich nicht auf die Postulierung anthropologischer Konstanten
verlegt. Diese Erklärung, die keine ist, setzt voraus, was selber erst
erklärt werden müsste: den "Hass auf das Andersartige", denn diese
'Erklärung' besteht ihrerseits aus basalen Kategorien, die unreflektiert
verwendet werden; -- und darin erweist sich diese Art der Theoretisierung im
strikten philosophischen Sinne als unkritisch. Denn geklärt werden müsste:
Was ist "der Hass"? Was artikuliert sich in ihm? Was ist "das
Andersartige"? Wodurch wird es konstituiert, wodurch wird es zu dem
Andersartigen und in welchem Verhältnis steht es zu dem Eigenen? Und wie
hängt das eine mit dem anderen zusammen? Wieso richtet sich "der Hass" auf
"das Andersartige"?
Die objektivistischen Erklärungsmuster sind die,
die zum klassischen, traditionellen Marxismus und zu seinem Derivat, der
Autonomen und des Linksradikalismus, zu zählen sind. Antisemitismus gilt
hier als "gesellschaftliches Produkt". Streng nach dem auswendig gelernten
und zur ontologischen Grundwahrheit erhobenen und damit um seinen kritischen
Impetus gebrachten Satz von Karl Marx, dass das Sein das Bewusstsein
bestimme, wird Antisemitismus irgendwie aus dem 'Sein', also aus 'der
Gesellschaft' abgeleitet. Die nebulösen 'gesellschaftlichen Ursachen'
stellen sich schnell als 'soziale Umstände' heraus, und linke Theorie wird
demgemäss als Milieutheorie betrieben: Antisemitismus, der auch hier als
ideologische Form nicht weiter spezifiziert wird, entstehe, wenn die
'sozialen Umstände' 'schlecht' sind. Der Kapitalismus habe die unangenehme
Eigenschaft, die Subalternen verrohen oder entarten zu lassen. Nicht nur in
Zeiten der manifesten Krise greife soziale Deprivation: durch das
verantwortungslose Profitstreben komme es zu Arbeitslosigkeit, zur
Verelendung der Städte oder zu einer allgemeinen Verelendung etc.
Aus deprimierender Umgebung, aus Arbeits- wie aus
materieller Mittellosigkeit resultiere eine allgemeine Perspektiv- und
Sinnlosigkeit, die zu Kapitulation, Drogenkonsum, Gewalt oder
Rechtsradikalismus führe. Der Frost der 'Verhältnisse' schaffe Hass und
dieser schaffe Gewaltbereitschaft, und dieser Frust müsse raus, müsse
abgelassen werden wie in einem Konrad Lorenz'schen Triebstaumodell. - Darin,
in diesen dürren und von mir nur ein wenig zugespitzten Sätzen soll bereits
der gesamte Zusammenhang von Kapitalismus und Antisemitismus resp. Rassismus
bestehen. Der Kapitalismus treibe die Subalternen in die Enge und jene
handelten dann dem Kapitalismus gleich, der als gesellschaftliche Praxis
äußerster Brutalität und Gewissenlosigkeit gilt.
Die einzige Frage, die sich noch gestellt wird, ist die,
warum der Hass der gebeutelten Subalternen sich nicht gegen "die
Herrschenden" oder gegen "die Verantwortlichen" richte. An dieser Stelle
greift die Ideologietheorie, die gerne als Manipulationstheorie
auftritt: Die antisemitischen Subjekte sind Objekt - oder gar Opfer - von
Beeinflussung, sei es durch die Medien, die Erziehung, Schule, Kirche,
direkte staatliche Propaganda - wie auch immer, je nach theoretischer
Konjunktur und persönlicher Vorliebe und Paranoia-Präferenz, die
"ideologischen Mächte" genannt werden mögen. Diese Medien greifen die
widrigen sozialen Umstände auf und bearbeiten sie. Antisemitismus diene also
als Instrument, sei's "um den Hass der Unterdrückten von den waren Ursachen
abzulenken" (so die Autonomen) , sei's um die an sich doch internationale
Arbeiterklasse zu spalten und zu desorganisieren (so der beliebte
Diskurstheoretiker Stuart Hall).
Direkt nebenan liegt, man kommt von ganz alleine darauf,
die aktive Entschuldung antisemitischer und rassistischer Taten. Denn
diese seien Opfer von (a) widrigen sozialen Umständen und (b) umgarnt von
Manipulation. Das durchaus gerechtfertigte und sei's an sich unschuldige
sei's immer schon irgendwie revolutionäre Aufbegehren gegen "die da oben"
(wer auch immer das sei) werde um- und fehlgeleitet. Eigentlich meinen sie
etwas ganz anderes, mit dem, was sie da tun. In der Diktion des berühmten
Alt-Marxisten Wolfgang Fritz Haug gibt es einen fulminanten Unterschied
zwischen den "ideologischen Großformationen" und dem "spontanen Rassismus
von unten", "der im Alltagsleben verwurzelt ist". Dieser "spontane
plebejische Rassismus kann den Herrschenden Sorge bereiten", weil dieser
auch schon mal gewalttätig auftritt und damit das staatliche Gewaltmonopol
antastet. Der "Rassismus-von-unten" braucht v.a. Mitgefühl: "Denkt man die
Krisen und ihre Folgen hinzu, lässt sich verstehen, dass der Aufschrei der
sozial getretenen Kreatur zum Hass-Schrei werden kann. Brandstiftung und
Mord können verwandelte Formen des Protestes sein - im Modus des
entfremdeten Protestes gegen Entfremdung." Der linke Theoretiker weiß es
immer schon besser als sein revolutionäres Subjekt der Begierde; jenes sei
unfähig zu meinen, was es tut. Er kann den Schein der Weltgeschichte auf das
Eigentliche durchschlagen.
Am fatalsten jedoch wird es, wenn linke Theoretiker
meinen, in der Agitation gegen Banken und Börsen etc. Ansätze einer
kommunistischen Kritik erkennen zu können. Es zeigt sich, was die
traditionelle Linke unter Kapitalismus versteht: den fetten Kapitalisten mit
Zigarre, Monokel und Zylinder, der wie Marionetten die "Schwatzbude"
Parlament und die Exekutivorgane Polizei und Soldaten für seine Pläne lenkt,
gegen den der aufrechte Arbeiter aufstehen und mächtig mit der Faust auf den
Tisch schlagen müsste; -- so also, wie jeder Nazi den Kapitalismus versteht.
Sicher ist es richtig, dass mit Rassismus oder
Antisemitismus Hass und Frustration ab- oder umgelenkt werden; sicher ist es
richtig, dass Rassismus oder Antisemitismus "entlastende Orientierungs- und
Handlungsangebote" anbieten, wie es der linksnationalistische
Diskurstheoretiker Wieland Elfferding in einem neutralen Soziologendeutsch
so schön sagt. Aber die Frage ist: Wovon wird entlastet? Wovon
wird abgelenkt? Wieso lässt man sich ablenken? Für welches "Angebot"
entscheidet man sich? Und wieso entscheidet man sich gerade ausgerechnet für
dieses oder jenes?
Um diese Frage zu beantworten, wie um die gezeigten Mängel
der ideologischen Formbestimmtheit des Antisemitismus zu beheben, soll
zunächst das ideologische Phantasma Antisemitismus adäquat erfasst werden.
TEIL II.
Der antisemitische Diskurs des Nationalsozialismus greift
verschiedene, teilweise jahrhundertealte antisemitische Diskurse auf und
synthetisiert und systematisiert sie. Es lassen sich v.a. folgende Bilder
festmachen :
Der Ahasver geht zurück auf einen Mythos in Bestsellerform
aus dem 17. Jahrhundert, der sich durch beständige Kolportage und durch
beständiges Ab- schreiben erweiterte und fortpflanzte. Der Ahasver ist der
"ewige Jude", der, weil er Jesus auf der via dolorosa Rast verweigerte, dazu
verdammt wurde, ewig gleich, barfuß, heimat- und wurzellos die Welt zu
durchwandern.
Der Urbantyp kommt in den großen Städten vor, die als
Produkt moderner Gesellschaften, v.a. als Folge der Landflucht - oder eher
Landvertreibung - im Zuge der ursprünglichen Akkumulation erst
entstanden. In ihnen werden die Menschen in Massen zusammengefasst. Das
Stadtleben sei schädlich an sich, es verderbe die Menschen (besonders die
deutschen), weil sie ohne heilbringenden Kontakt mit ihrer natürlichen
angestammten Scholle und zu dem dazugehörigen ruhigen, geordneten,
gefestigten Leben sind. Die Stadt sei ruhelos, durch und durch 'künstlich',
reine Machination. V.a. ist sie Ort des Handels, was Wirkungsstätte des
Juden sei, der deswegen in der Stadt besonders gut gedeihen könne. Das
Stadtleben bringe als kulturelles Unkraut hervor den Intellektuellen
und den Zersetzer.
Der Intellektualismus sei schädlich an sich, weil seine
Vergeistigung eine "Verödung der Seele" bewirke. Die kalte zergliedernde
Erkenntnis, zu der der Intellektuelle nur fähig sei, verunmögliche die Schau
des wahren Seins, der Einheit, des Seinsgrunds. In seiner abstrakten
unzugänglichen Welt entfremde er sich dem Volk. Seine reine
Verstandestätigkeit habe sich herausgebildet im rational kalkulierenden
kaufmännischen Gewerbe. Das Denken wie die dazugehörige ökonomische Praxis
aber sei ein Instrument zur Aneignung, d.h. Wegnahme und Zerstörung fremder
Werte.
Der Zersetzer wurde klassisch von Ernst Krieck skizziert
in seinem Bild des Literaten: "kalt, zeugungslos, verstandesmäßig,
zersetzend bis in die Knochen" . "Die Kräfte der Zerstörung, die Meckerer,
Stänkerer, heimlichen Ehrabschneider, die Maulwürfe aller Parteifarben, die
liberale, die schwarze und die rote Auflösung" , -- sie alle seien zu keiner
positiven, konstruktiven Arbeit fähig. Der Zersetzer schwäche das Volk durch
politische Aufwiegelung, durch Streit und schwäche seine Wehrkraft durch
humanistische Ideen und durch den Pazifismus.
Der Wucherer bereichere sich an der Not Bedürftiger und
Abhängiger. Er lebe von den Früchten der Arbeit anderer. Im Zins scheint das
mysteriöse Wertprinzip ergriffen werden zu können, das Geheimnis von
Mehrwert gelüftet: man bekommt vom Geldleiher Geld und muss mehr Geld
zurückgeben. Im Zins vermehre sich das Geld wie von selbst und
verantwortlich sei die Gier des Leihers.
Das Bild des Wucherers wurde bereits vor dem
Nationalsozialismus um das des Kapitalisten, des internationalen
Monopolkapitalisten erweitert, der "Staat und Gesellschaft zum Spielball
eines als privatives Kapitalakkumulationsunternehmen firmierenden
Wirtschaftsliberalismus degradiere" , den Arbeiter beklaue, an der
Arbeitskraft und Volkswirtschaft anderer schmarotze. Die Agitation gegen den
Kapitalismus trennt in "raffendes" (Börse, Bank, freie Finanzmärkte etc.)
und "schaffendes Kapital" (Industrie, Handwerker, 'ehrliche Arbeit'). Diese
Trennung ist das durchschlagende Ideologem des nationalsozialistischen
Antisemitismus. Gespalten wird, was untrennbar zusammengehört: Finanzkapital
und industrielles Kapital. Das "raffende Kapital" wird identifiziert als das
international vertretene und organisierte Großkapital, welches parasitär
wirke, indem es die Völker aussauge, in denen es sich ansiedelt. Das
"raffende Kapital" wird verkörpert vom Juden.
Diese Trennung ist eine offenkundig naturwüchsige
Wahrnehmung des Kapitalverhältnisses und ein beliebtes Bild bis in die
Gegenwart, auch bei Linken: so in der Agitation gegen die "Multis" und gegen
die "Spekulanten" (radikale Version) oder gegen 'verantwortungslose
Unternehmer', die keine Arbeitsplätze für ihre Nation und für ihr schaffen,
sondern lieber Kapitalmengen unkontrolliert fließen lassen
(sozialdemokratische Version).
Hinzu kam vom Nationalsozialismus das Bild des
kulturzerstörenden bolschewistischen Juden. Diese Zusammenführung von
Kapitalismus und Marxismus in einer Person mag absurd erscheinen, doch folgt
sie einer inneren (Para-) Logik des Antisemitismus. Denn was macht der Jude?
Er greife die Resultate des Kapitalismus auf, den er selber vorher in Werk
gesetzt habe. Er ernte als marxistischer Jude die Früchte seiner Arbeit, die
er als kapitalistischer Jude säte. Er greife den freien und verlendeten
Arbeiter und dessen berechtigte soziale Forderungen auf und hetze diesen
gegen sein eigenes Volk. An dieser Stelle kann er die Gemeinschaft in ihrer
Substanz zersetzen: in ihrer Arbeitskraft.
Teil III.
Die Bilder des Antisemitismus sind also aus einer
geschichtlichen Entwicklung gezogen. In ihnen finden sich gesellschaftliche
Unwälzungsprozesse wieder, die mit der Entwicklung der bürgerlichen
Gesellschaft und der damit verbundenen Entfaltung des Kapitalismus
einhergehen. Verzerrt thematisiert werden die Entstehung der Großstädte, von
konzentriertem Zusammenleben; die Entstehung neuer Produktionsweisen; neuer
und anderer sozialer Strukturen; neuer und anderer gesellschaftlicher
Organisations- und Vergesellschaftungsformen (und damit neuer Eigentums- und
Rechtsformen (bürgerliches Recht)); die Entstehung des Geldwesens und der
Börse; sowie neuer gesellschaftlicher Theorien, in denen diese Entwicklung
sich reflektiert und in denen sich Möglichkeiten ihrer Umwälzung
artikulieren.
Zeitgleich zu dieser geschichtlichen Entwicklung fand die
Emanzipation der Juden aus dem Getto statt; es kam zur rechtlichen
Gleichstellung, teilweise gar zu ihrer Assimilation. Aus dieser
zeitlichen Parallele macht der Antisemitismus aber eine
Identifizierung des Juden mit dieser Umwälzung. Der Jude sei selber das
Prinzip der Unruhe, sei der Inszenator dieser Umwälzungen. Er veranstalte
dies für den besseren, ungehinderten Zugriff auf die Volkssubstanz. Er
schaffe den freien Arbeiter, das Geldwesen, die Börse, um flexibler agieren,
um relativ und absolut besser ausbeuten zu können. Dazu setzte er die
bürgerliche Freiheit und Gleichheit durch, durch die er obendrein unsichtbar
werden kann, weil er nun nicht mehr als extrasozialer Jude ausgemacht werden
kann.
Die Geschichte des Judentums ist also eine
Erfolgsgeschichte
- und damit sollte die Vorstellung von Antisemitismus als eines bloßen
Vorurteils, mit Hilfe dessen man auf andere herabschauen, sich besser
als andere fühlen kann, endgültig fallen. Der Jude ist ein Übermensch. Der
Jude ist im Denken und bei wirtschaftlicher Betätigung gewandter, schlauer
und so erfolgreicher als die Arier. "Bei kaum einem Volk", so Adolf Hitler
in "Mein Kampf", "ist der Selbsterhaltungstrieb stärker entwickelt als beim
sogenannten auserwählten." Sie haben das geschafft, worum andere sich
vergebens bemühten: "Welches Volk endlich hat größere Umwälzungen mitgemacht
als dieses - und ist dennoch immer als dasselbe aus den gewaltigsten
Katastrophen der Menschheit hervorgegangen?" "Es ist immer der gleiche
Jude", der bspw. "auf die Erhaltung seiner Sprache nur sehr wenig Wert legt,
hingegen allen Wert auf die Reinerhaltung seines Blutes." Der Jude hat schon
immer das geschafft, was die Deutschen erst lernen und erzeugen müssen.
"Der Jude" ist, soviel sollte klar geworden
sein, die Verkörperung eines Prinzips, der/das hinter den
widersprüchlichsten Erscheinungen steht. Der Jude verkörpert dieses
Prinzip, d.h. ist nicht bloß sein Bote oder Repräsentant, sondern seine
leiblich reale, handfeste Inkarnation - eines Prinzips, das als
bedrohlich empfunden wird. Die "qualitative Andersartigkeit", so Moishe
Postone in seinem berühmten Aufsatz "Nationalsozialismus und
Antisemitismus", "der Juden im modernen Antisemitismus wird mit Attributen
wie mysteriöse Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit
umschrieben. Diese Macht erscheint gewöhnlich nicht als solche, sondern muss
ein konkretes Gefäß, einen Träger, eine Ausdrucksweise finden. Weil diese
Macht nicht konkret gebunden, nicht 'verwurzelt' ist, wird sie als ungeheuer
groß und schwer kontrollierbar empfunden. Sie steht hinter den
Erscheinungen, ist aber nicht identisch mit ihnen." Der Jude ist im
Antisemitismus der Drahtzieher hinter den Kulissen der Weltgeschichte. "Die
Rassenfrage ist der Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte", weiß
Rudolf Walter Darré. Die Rassenfrage von Juden vs. Wirtsvolk wird in die
Geschichte und in gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse
hineinbuchstabiert: die Geschichte der Entfaltung des Kapitalverhältnisses
wird als Durchsetzungsgeschichte der Juden in ihren Wirtsvölkern
interpretiert.
Teil IV.
In welchem Zusammenhang aber stehen bürgerliche
Gesellschaft & Kapitalverhältnis und Antisemitismus über diese
beschreibende Zuordnung hinaus: dass die Juden all das repräsentieren,
was am Kapitalverhältnis nicht begriffen und als bedrohlich wahrgenommen
wird?
In der Dynamik des antisemitischen Wahns und in den
Inhalten seiner Projektionsleistungen findet sich ein Ineinander von
subjektiven, individuellen und objektiven, gesellschaftlichen Momenten. Es
finden sich zwar gesellschaftliche Momente im antisemitischen Klischee -
aber keinerlei Erfahrung. Was einmal Erfahrungsmaterial gewesen sein mag:
dass Juden bspw. als Repräsentanten des Markts oder des Geldhandels
auftreten, das ist heutzutage nicht mehr gegeben. Was schon damals dünne
Verschiebungsleistung war, kann heute nichtmals mehr herkömmlich
plausibilisiert werden. Nichtsdestotrotz aber werden die gleichen
antisemitischen Klischees mit traumwandlerischer Sicherheit reproduziert.
Um diese Fragen zu klären, soll im folgenden auf zwei
Theoriestränge zurückgegriffen werden: zum einen auf die Theorie des
autoritären Charakters, wie sie v.a. von Leo Löwenthal, Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer entwickelt wurde ; zum anderen die Theorie der
Verdinglichung und Fetischisierung, wie sie Thema der Kritik der
politischen Ökonomie von Karl Marx ist und wie sie über Georg Lukàcs, Alfred
Sohn-Rethel und Adorno bis hin zu Moishe Postone weiterentwickelt wurde.
Der autoritäre Charakter, so kann vorab gesagt werden, ist
eine ich-schwache Persönlichkeit, als Folge von übermächtigen Einwirkungen
in der seelischen und psychischen Entwicklung des Individuums.
Die kritische Theorie des autoritären Charakters knüpft
hierbei zunächst ganz orthodox an Sigmund Freuds Modell des Ödipus-Komplexes
und dessen Lösung resp. Nicht-Lösung an. In der ödipalen Phase gerät nach
Freud das männliche Kind in den Konflikt, die Mutter zu begehren und dadurch
gleichzeitig Furcht vor dem Vater verspüren zu müssen. Deswegen lehnt er
sich gegen ihn auf. Das männliche Kind löst diesen Konflikt durch
Unterwerfung unter den Vater, indem er sich mit der Autorität identifiziert,
wobei er diese internalisiert. Diese Identifikation beinhaltet die
Aufrichtung des Über-Ich in der seelischen Persönlichkeit; sie bedeutet aber
auch Triebversagung, wodurch es zu Feindseligkeit und Aggression kommt; sie
bedeutet aber auch die Möglichkeit zur Teilhabe an väterlicher Macht; v.a.
aber den zivilisatorischen Fortschritt der Eigenständigkeit gegen den Vater
und der Lösung von der Mutter. Vorausgesetzt ist aber eine geregelte Lösung
des ödipalen Konflikts.
Es zählt zu einer der besten Einsichten Freuds, dass die
Ich-Entwicklung, die Herausbildung des respektablen, 'normalen',
funktionierenden Ich eine Folge von Ich-Unterdrückung ist. Nur die
erfolgreiche Internalisierung der Autorität bedeutet die Errichtung des
Über-Ich, d.h. der Instanz gegenüber dem Es, zwischen denen ein Ich sich
bilden und behauten kann.
Der autoritäre Charakter hingegen hat kein Ich oder
ein nur sehr schwaches. Sein schwaches Ich konnte sich nicht herausbilden,
weil dem Ich kein der seelischen Persönlichkeit inneres Über-Ich gegenüber
und zur Seite tritt. Dies ist Ergebnis eines Scheiterns einer erfolgreichen
Internalisierung der Autorität durch übergroße Aggression. Diese Aggression
ist nicht auf die Person des Vaters beschränkt. Auch dieser war immer schon
Agentur gesellschaftlicher Gewalt, die aber auch auf andere Weise vermittelt
oder direkt auf die Individuen einwirken kann. Die Gesellschaft tritt ihnen
als Realitätsprinzip gegenüber, als Aufforderung zu Ordnung, Anpassung und
Leistung, als Zwang zur Identifikation mit einem Kollektiv (oder diversen),
als allgemeine Verunsicherung, als Unmöglichkeit der Selbstbestimmung unterm
Kapitalverhältnis.
Mangels eines Ich bleiben Es und Über-Ich der seelischen
Persönlichkeit ich-fremd; mangels erfolgter Internalisierung des Über-Ich
bleibt der Ich-Schwache von äußerer Autorität abhängig. Da die Autorität den
ich-schwachen Charakter stützt, hat jener kein eigenes Gewissen und ist
unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Das Über-Ich tritt dem
autoritären Charakter weiterhin entgegen, in Form äußerer Autorität; ebenso
bleiben innere Triebstrebungen bestehen; beides kann nicht durch ein
eigenständiges Ich vermittelt, geschweige denn sublimiert werden.
Die Haltung der seelischen Persönlichkeit zum externen
Über-Ich ist gekennzeichnet durch ein Zugleich von Unterwerfung und
Feindseligkeit gegen die von ihm ausgehende Aggression, eine feindselige
Haltung, die aber nicht zugegeben, geschweige denn geduldet werden kann, da
die Autorität diejenige Instanz ist, die dem ich-schwachen Individuum Halt
gibt. Es lenkt die Aggression als Masochismus nach innen, was aber nicht
vollständig gelingt, weswegen die Aggression ebenso als Sadismus nach außen
geleitet wird, und zwar dann stets dann, wenn die Autorität es erlaubt.
Die Haltung der seelischen Persönlichkeit zum Es ist
gekennzeichnet durch ein Nicht-Verhältnis, weil das Es ich-fremd bleibt. Das
Es verursacht Angst und ein schlechtes Gewissen wegen der inneren
Triebstrebungen, deren Inhalte affektiv nach außen verlagert werden. Diese
Ableitung wird begünstigt durch die Ich-Fremdheit des Es: dessen
Bestrebungen können nur als von außen kommend wahrgenommen werden. In der
Projektion wird das vom Über-Ich nicht Zugelassene (die Strebungen des Es
und die Aggression gegen das Über-Ich), von der seelischen Persönlichkeit
aber Verspürte aus innerem Zwang nach außen gewendet. Abgespalten wird das
Unerträgliche und Bedrohliche, was die wackelige Identität in Frage stellt.
Was sich also im eruptiven Aufbegehren äußert, ist keine
Revolte - allenfalls "konformistische Revolte" (Erich Fromm). Der Ausbruch
im Pogrom erfordert keinen Mut, da er mit Billigung der Autorität gegen eine
stigmatisierte und schwache Gruppe erfolgt. In allem, was der autoritäre
Charakter hierbei tut, arbeitet er hartnäckig an seiner fortgesetzten
Unterwerfung: er bewegt sich komplett innerhalb der Bahnen seiner
psychischen Struktur und schmiedet diese fester; er willfährt der Autorität
und er nutzt die verfemten Triebstrebungen, um dies umso besser tun zu
können. Der autoritäre Charakter zieht hieraus weder Befreiung noch
Befriedigung, dumpf setzt er fort, was ihm ohnehin angetan wird.
Der autoritäre Charakter bildet die Matrix für totalitäre
Ideologien und Bewegungen. Antisemitismus ist immer der von Individuen
reflektierte Antisemitismus, aber er kommt den Individuen auch objektiv
entgegen, die ihn eifrig weiterspinnen.
Der gesellschaftliche Zusammenhang, den die Individuen im
Kapitalverhältnis reproduzieren, tritt ihnen als fremdes, eigenmächtiges,
anonymes Verhängnis entgegen, als "zweite Natur", wie Marx und Hegel das
genannt haben. Er verdeckt sich selbst und seine Form von Herrschaft, weil
er nicht bewusst hergestellt wird. Im Kapitalverhältnis stehen an der Stelle
direkter, unmittelbarer persönlicher Herrschaftsbeziehungen Sachzwänge, der
"stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse" .
Es kommt zu dem, was Adorno & Horkheimer die "Verkleidung
der Herrschaft in Produktion" nannten: Ausbeutung und Herrschaft werden
weiterhin praktiziert, gesellschaftliche Vermittlung wird hergestellt, ohne
dass sie wahrgenommen wird. Dies ist der dem Kapitalverhältnis
eigentümlichen Weise gesellschaftlicher Synthesis geschuldet. Die Arbeiten
und die Produkte der Subjekte, mit denen sie in den Stoffwechsel des
gesellschaftlichen Organismus eingebunden sind, haben einen 'übersinnlichen'
Charakter: die Arbeit hat den Doppelcharakter von konkreter und abstrakter
Arbeit, und die Ware hat den Doppelcharakter von Gebrauchswert und Wert.
Vermittlung, Synthesis geschieht über den Wert, eine abstrakte Dimension,
welches dasjenige ist, was die bürgerliche Gesellschaft im Kern
zusammenhält. Der Wert ist in der Arbeit und der Ware schon gesetzt, damit
diese gesellschaftlich vermittelt werden können. Er steckt in ihnen schon
drin und muss seinen Ausdruck im Geld finden und muss als Kapital
zirkulieren können.
Dieser notwendige gesellschaftliche Zusammenhang ist aber
nicht unmittelbar sichtbar; er wird vom Alltagsbewusstsein
auseinandergerissen. Denn der Wert kann nur dort wahrgenommen werden, wo er
in dinglicher Gestalt umgesetzt wird; Ausbeutung und Zwang können nur dort
wahrgenommen werden, wo sie als "Herrschaft des Geldes" auftreten. Das
Geldwesen scheint dem gesellschaftlichen (Re-) Produktionszusammenhang nur
äußerlich hinzuzutreten; die geldwerte Gesetztheit der Arbeit als Lohnarbeit
und der Produkte als Waren wird nicht als notwendiges und bestimmendes
Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs erkannt. Die Ware soll das eine
sein - ihr geldwerter Ausdruck das andere; Lohnarbeit soll das eine sein -
Ausbeutung das andere; die 'ehrliche' Arbeit in der Produktionssphäre, das
industrielle Kapital etc. soll das eine sein - die Kapitalbewegung als Zins
und Börse das andere. Aufgespalten wird, was zuinnerst zusammengehört.
Verfemt wird, was der eigene Selbsterhaltungsprozess hervorbringt und
benötigt, was man aber als Folge des eigenen Handelns nicht erkennen kann,
was man sich als Folge des eigenen Handelns sich nicht zurechnen lassen
möchte.
Teil V
Im Phantasma des Juden findet sich also individuelles wie
gesellschaftliches Unbewusstes versammelt: Dem Juden wird übertriebene
Sinnlichkeit nachgesagt, die in den großen Nasen und den wulstigen Lippen
der antisemitischen Karikaturen Gestalt annimmt. Der Jude sei sexuell
triebhaft, steht für Libertinage und Ausschweifung, gar für Perversion, die
sich vorzugsweise in Verführung und Schändung von unschuldigen deutschen
Frauen und Kindern ausagiert.
Er steht für Faulheit, Arbeitsscheue und -unfähigkeit; er
verfüge qua seiner betrügerischen finanziellen Transaktionen über müheloses
Einkommen. Er verkörpert ökonomische Rücksichtslosigkeit und Gerissenheit,
die man selber an den Tag legen muss, sich aber nicht erlauben darf oder
kann. Der Jude ist die Verkörperung des Traumes & Alptraumes von Heimat- und
Wurzellosigkeit, der Freiheit der Schranken von Stand und Nation.
Er verkörpert ein Zugleich von Stärke und Schwäche. Seine
Stärke erheischt Bewunderung und Furcht zugleich, aber sie ist nur angemaßt,
künstlich wie sein ganzes Wesen, denn er hat sie erlangt nur durch
trickreiche Machenschaften, ohne von wirklicher Macht und Gewalt gedeckt zu
sein. Denn der Jude hat keine Heimat, kein Vaterland, keine Nation und
keinen Staat, kein vorgeblich erdverhaftet autochthon Identisches im Wechsel
des Marktgeschehens. Dies ist die Schwäche des Juden, die man fürchtet.
Der Antisemitismus ist der Reim, den sich das staatsloyale
und kapitalproduktive Subjekt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse macht,
ohne es so genau wissen zu wollen. Weil das Handeln der Subjekte über die
von ihnen gesetzten Zwecke hinausgeht, weil die Gesellschaft unterm Kapital
keine menschliche ist; weil das Kapitalverhältnis aber von nichts als
Menschen veranstaltet wird, erscheint die Gesellschaft als die Gesellschaft
der Individuen.
Mit der Personalisierung und Pseudo-Konkretisierung
abstrakter gesellschaftlicher Zusammenhänge wird das Kapitalverhältnis dem
Verständnis zugeführt, weil dies seine Erscheinungsweise ist. Die Gestalt
des Juden besetzt die Stelle einer imaginierten Gruppe von Individuen, die
das innere Band der Gesellschaft als Zügel in den Händen hält und darüber
seine Fäden zieht, die als von außen kommender Feind halluziniert wird, der
die Identität bedroht: die Identität des zerbröckelnden Subjekts, des
schwachen Ich, wie die Identität der angeblichen Schicksalsgemeinschaft
Volk, welches durch ein vom Kapital objektiv gesetztes Klassenverhältnis
gespalten ist.
Der Antisemitismus ist eine Geisteshaltung, die den Juden
will
und braucht. "... existierte der Jude nicht", so fasst Jean-Paul
Sartre in seinem äußerst hellsichtigen Essay "Überlegungen zur Judenfrage"
zusammen, "der Antisemit würde ihn erfinden." Sartre beschreibt den
Antisemitismus als eine "Leidenschaft", der gewiss "in der Form einer
theoretischen Aussage auftreten kann" , die aber fern jeder rationalen
Überprüfbarkeit und Zurechenbarkeit ist. Der Antisemitismus ist nach Sartre
eine "Wahl", "die von keinem äußeren Faktor herstammt." "Die Erfahrung ist
[...] weit davon entfernt, den Begriff des Juden hervorzubringen, vielmehr
ist es dieser, der die Erfahrung beleuchtet." Er geht als "eine umfassende
Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen,
der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt, ... den Tatsachen
voraus, die sie entstehen lassen müssten, sie sucht sie, um sich von ihnen
zu nähren, sie muss sie sogar auf ihre Weise interpretieren, damit sie
wirklich [für ihn] beleidigend werden."
Der leidenschaftliche Zustand des Antisemitismus, in den
der Antisemit sich versetzt/versetzen lässt, ist Selbstzweck der ganzen
Veranstaltung. Deswegen kann er nicht korrigiert werden, schon gar nicht mit
dem Verweis auf seine 'eigentlichen' Interessen oder auf die Anti-Ökonomie
solchen Verhaltens. Der antisemitische Bekenner und Täter ist ein
wasserdichter Idealist. "Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse
rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. [...] Für das
Volk ist er ein Luxus." Seine intuitive Gewissheit, die der Antisemitismus
aus seiner Weltanschauung zieht, projiziert er in einer 'pathischen
Projektion' auf die Realität, zu der er ein durchweg schizophrenes
Verhältnis unterhält, wie auf den Diskurs, in den er sich ab und an begibt,
um mit der vernünftigen Argumentation sein Spiel zu treiben. Wer mit
Antisemiten diskutieren will, verkennt deren Verhältnis zu ihren Aussagen.
"Der Antisemitismus", so Leszek Kolakowski, "ist hauptsächlich deswegen
keine Theorie, weil er wie die meisten geistigen Erscheinungen, die in dem
Kampf gegen den Fortschritt entstehen, dem Wesen nach irrational und daher
jeder Kritik unzugänglich, hoffnungslos stupid und total unkritisch ist. Er
ist keine Doktrin, die man kritisieren kann, sondern eine Haltung, deren
soziale Wurzeln so geartet sind, daß sie nach keiner Begründung suchen muß.
Man kann ihm keine Argumente entgegensetzen, denn er ist unweigerlich mit
solchen Reaktionsarten verbunden, denen jede Argumentation [...], fremd und
verhasst ist. Er ist Antikultur und Antimenschlichkeit, Antitheorie und
Antiwissenschaft. Davon hat sich jeder überzeugt, der Gelegenheit hatte, mit
einem Antisemiten eine jener hoffnungslosen Diskussionen zu führen, die
immer dem Versuch ähneln, einem Tier das Sprechen beizubringen."
Teil VI.
Die Theoretisierung des Antisemitismus, seine sozialwissenschaftliche und
pädagogische Erfassung und Bearbeitung, macht sich einen Reim auf den
Irrsinn, den der Antisemit sich ausmalt. Sie zerbricht sich den Kopf des
Antisemiten, den jener gar nicht will und verbirgt den gesellschaftlichen
Grund und die Konstitution des antisemitischen Subjekts umso besser und
weiter.
Nun könnte es so scheinen, als sähe auch die Kritische
Theorie die antisemitischen Subjekte als Opfer: der autoritäre Charakter als
eine Missbildung übermächtiger gesellschaftlicher Verhältnisse,
gesellschaftlichen Terrors; die Verkennung des Kapitalverhältnisses als
gedankenlose Ab- oder Nachbildung des sich fetischhaft selbst verdeckenden
gesellschaftlichen Zusammenhangs. Der Unterschied besteht aber darin, dass
die Sozialwissenschaften nach der Maxime verfahren, dass alles Erklären auch
alles Verstehen und auch alles Entschuldigen bedeutet. Kritische Theorie
hingegen rekonstruiert den Wahn, erzählt dessen Genese nach, ohne diesen
selber plausibel zu machen. Sicher sind alle irgendwie 'Opfer' des
Kapitalverhältnisses, also Objekt in dem sinne, dass sie keine Wahl haben,
ob sie unter ihm aufwachsen müssen oder nicht. Aber Kritische Theorie
betreibt "Polemik gegen das Opfer" (Joachim Bruhn), d.h. klopft ihm nicht
aufmunternd auf die Schulter. Denn das sogenannte 'Opfer' des
Kapitalverhältnisses ist gleichzeitig dessen Subjekt: es erhält aufrecht,
wovon es verseht wird. Eine Kritische Theorie der Gesellschaft und des
Antisemitismus stellt die Frage an dieses Subjekt & Objekt des
Kapitalverhältnisses, ob es sich auch weiter zurechnen lassen will, sich in
diesen seinen Funktionen auch weiterhin dienstbar zu machen, ob es seine
Unterwerfung weiterhin als sein Selbstbewusstsein verkaufen will.
Dokumentation eines Vortrags von Fabian
Kettner, gehalten anlässlich eines Kongresses zu Antisemitismus im April
2001 in Duisburg. Wir danken dem Autor für die Überlassung seiner Arbeit.
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