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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

4.1. Historischer Exkurs:
Die Fixierung der Juden in der Zirkulation

Wie bereits im Kapitel 3.1. angedeutet ist die Fixierung der Juden in der Distributionssphäre ein älteres Phänomen, dessen historischer Rahmen an dieser Stelle aufgezeigt wird.

Genauere Beschreibungen des jüdischen Lebens in Europa existieren hauptsächlich seit dem V. Jahrhundert, als die christliche Geistlichkeit sich der Geschichtsschreibung annahm, auch wenn die ersten jüdischen Gemeinden am Rhein bereits im 1. und 2. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung existiert haben[115]. Die in Europa ansässigen Juden hatten ab dem 7. Jahrhundert, wenn sie sich nicht taufen lassen wollten, kaum die Möglichkeit, Land zu erwerben. Zudem verbot die Kirche nur jüdischen Großgrundbesitzern, christliche Sklaven zu beschäftigen. Durch diese Maßnahmen ist im Laufe der Zeit eine Bewirtschaftung des Bodens durch Juden unmöglich gemacht worden. Sie haben sich gezwungen gesehen ihre Ländereien zu verkaufen und ihr Geld meist im Handel anzulegen.[116] Dennoch sind diese Maßnahmen während des ersten Jahrtausends nach christlicher Zeitrechnung noch im vor allem unter dem Aspekt einer religiösen Konkurrenz zu betrachten.

Die Verfügbarkeit von Geld ist im Mittelalter eine Überlebensfrage gewesen, nur so konnte sich ein brüchiger Schutz der Burg- und Feudalherren erkauft werden. Ohne diesen waren die verschiedensten Menschen Übergriffen schutzlos ausgeliefert, bzw. konnten sie in den Städten vielfach kein Aufenthaltsrecht bekommen. Diese Schutz und Rechtlosigkeit hat nicht nur die Juden getroffen. Sie hatte allerdings für sie als Minorität und vor dem Hintergrund eines offiziellen Christentums, dass seine Identität zunehmend über den Hass auf die "Anhänger der Vaterreligion"[117] bezog, weitreichende Konsequenzen. Nur für eine kurze Zeit des Karolingerreichs besitzen Juden eine Art Monopol im internationalen Handel, das vor allem auf ihren internationalen Kontakten und dem Besitz von barem Geld in unmittelbarer Folge von Vertreibungen beruht. Im Gefolge der Kreuzzüge haben die Juden schließlich ihre Rechte, Handel zu treiben, nicht ohne Not an die Städte abgegeben. So sind sie auf einen neuen Zweig der wirtschaftlichen Betätigung abgedrängt worden, den Geldverleih, der das Stereotyp des ‚Wuchers’ mitbegründet.

Bis zur Jahrtausendwende spielte die Geldwirtschaft ökonomisch keine stark ausgeprägte Rolle; der Ein- und Verkauf von Produkten und Waren wurde gewöhnlich auf dem Wege des Tauschhandels geregelt. Mit dem Ausbau des Orienthandels durch die italienischen Städte sind riesige Kapitalien gebunden worden, die dem Binnenmarkt verloren gingen. Seit dem 10. Jahrhundert tauchen auf den Märkten der Champagne die Venezianer, Byzantiner und Lombarden als Händler auf. Größere Christliche Geldgeschäfte sind ab dieser Zeit an der Tagesordnung. Das von Papst Alexander III. 1179 zugestandene Recht, dass Juden gegen Zinsen Geld leihen dürfen, der sogenannte ‚Wucher’, wird 1215 bestätigt, als Innozenz III. ein an die Christen gerichtetes Verbot der Zinsnahme erlässt, das als Kanonisches Zinsverbot bekannt wird. Die späte Erwähnung und Verdammung des ‚jüdischen Wuchers’ durch den Papst zeigt auch seine geringe Bedeutung innerhalb des Geldhandels. Allein jedoch die Tatsache, dass die Juden Zinsen nehmen - in welcher Höhe auch immer -, macht sie vor allem bei kleinen Produzenten in dieser Zeit höchst unbeliebt. Somit hat keine Maßnahme, kein Gesetz die Juden in Europa so sehr in ihrem sozialen Status beeinflusst, wie das immer wieder neu verkündete, neu formulierte christliche Zinsverbot, welches seinen Ursprung im Alten Testament hat. Vor den ersten Kreuzzügen gilt für das Judentum noch der Ausspruch des jüdischen Lehrers Raschi: "Wer Zins an einen Fremden ausleiht, soll vernichtet werden."[118] Erst in der Folge der Ermordung und Ausplünderung seitens der Kreuzfahrer und durch ökonomische Not der Juden innerhalb der europäischen Länder begründet, hat sich die Haltung der Rabbiner geändert:

"Man soll den Nichtjuden nicht auf Zins leihen, wenn man seinen Lebensunterhalt auf eine andere Weise verdienen kann"[119]

Nicht nur die Bauern, auch die Bürger in den Städten haben die Zinsnahme als unsittlich abgelehnt. Sie nahmen für ihre Produkte feste, oft überhöhte Preise, die ihnen den Lebensunterhalt sichern, und haben dem Denken des Zuerwerbs fremd gegenüber gestanden[120].

Die italienischen Genossenschaften der Lombarden, die einer ähnlichen Ordnung wie die Juden unterworfen waren und deren Vorrechte teilten, hatten mit ihren weitreichenden Unternehmungen einen weitaus größeren Anteil an der Entwicklung der frühkapitalistischen Technik, den Wucher eingeschlossen, als die Juden. Allerdings haben sich erstere allein auf Grund der Tatsache, dass sie Christen gewesen sind, in die sie umgebende Gesellschaft integrieren können.

Da die mittelalterliche Sozialordnung nicht bereit gewesen ist Juden in Zünfte, Gilden und Korporationen aufzunehmen, bleibt den Juden nur der Handel mit Trödel und verfallenen Pfändern, der ihnen wiederum den Vorwurf der gemeinsamen Sache mit Dieben und Mördern einträgt. Sie konnten auch keine Innung von Geldwechslern und Geldverleihern bilden. Gleichzeitig bildet die starre Form der Zünfte und Gilden den Christen ein Hemmnis im Ausbau der Geschäfte christlicher Handwerker. Im Gefolge der Pestjahre 1348/49 wird jedoch die Finanzkraft der Juden derart geschwächt, dass die jüdische Geldleihe an Bedeutung verlor. Die großen Finanztransaktionen verlagern sich auf weltbekannte Handelsgesellschaften von Christen, wie Fugger, Welser oder die Imhofs, die mit ihren Silber- und Kupferbergwerken selbst den bedeutendsten Anforderungen nachkommen können. Gerade diese großen Geschäftsleute erhielten in der Bevölkerung den Hass-Namen "Christen-Juden"[121]. Obwohl empirisch die Rolle der Handelsgesellschaften sehr viel einflussreicher war, verfestigt mit zunehmender Arbeitsteilung und Ausdehnung des Marktgeschehens sich das Bild des ‚wuchernden Juden’:

"Sind also die Juden besser als die Christen, weil sie nicht mit ihren Händen arbeiten wollen? Stehen sie nicht unter dem Wort Gottes: ‚im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen?!‘ Wer sich dem Wucher hingibt, der arbeitet nicht, sondern schindet die Anderen und tritt dabei in seinem Müßiggang noch stolz auf"[122]

Hier wird bereits die Bedeutung des Arbeitsbegriffs und die Abgrenzung konkreter Handarbeit vom angeblichen Wucher deutlich, die Luther später verfestigen wird (vgl. Kapitel 4.3.).

[115] Vgl. Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln (Könemann) 1997 (1988), S. 24.

[116] Vgl.: Poliakov: Geschichte des Antisemitismus I., a.a.O., S. 24f; Freddy Raphael: »Der Wucherer« in: Julius H. Schoeps / Joachim Schlör (Hrsg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München Zürich (Piper) 1996 (1995), S. 104.

[117] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 188.

[118] Zit. nach Poliakov: Geschichte des Antisemitismus I., a.a.O., S. 73

[119] Zit. nach ebda., S. 73

[120] Vgl. ebda., S. 72ff

[121] Vgl. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. II: Das Zeitalter der Verteufelung und des Ghettos, Frankfurt a. M. (Verlag Georg Heintz) 1978, S. 114f.

[122] Zit nach ebda., S. 115

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2007