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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel
6. Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit

"Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen."[258]

Wohl kaum ein Beitrag der kritischen Theorie wurde im Rahmen pädagogischer Diskurse quantitativ weitgehender rezipiert, als jener Vortrag Erziehung nach Auschwitz, aus welchem der oben zitierte Abschnitt stammt. Vor allem auf die Theorie und Praxis politischer Bildungsarbeit, als sozialpädagogische Teildisziplin, im Westen nach 1968 wirkt Adornos obiges Diktum geradezu sinnstiftend. So beziehen sich auch verschiedene Autoren, in dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenem Handbuch zur politischen Bildung[259], affirmativ auf Veröffentlichungen von Adorno. Beispielhaft sei nur Autor Gerd Stein erwähnt, der in Anlehnung an Adorno "Mündigkeit als pädagogisches und politisches Ziel"[260] formuliert.

Wie bisher dargelegt ist die Abwehr von Schuld und Erinnerung der Kernpunkt in der Entstehung eines Antisemitismus nach und wegen Auschwitz, der sich auch mit Elementen eines säkularisierten Antijudaismus und dem modernen, rassistisch begründeten Antisemitismus verschlingt. Weiterhin findet politische Bildungsarbeit in Deutschland vor dem Hintergrund einer Gesellschaft und einer Kultur statt, die weitgehend von einer Nichtaufarbeitung des Holocaust und von Antisemitismus affiziert ist. Der gesellschaftliche Anspruch an politische Bildung im Post-Holocaust Deutschland, "den »nachgeborenen Generationen« im Land der Täter und Zuschauer historisches Wissen über den Nationalsozialismus und den Mord an den europäischen Juden zu vermitteln"[261], ist auch zugleich in der Eigensicht vieler Pädagoginnen und Pädagogen eine Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Rassismus[262].

Für die historisch-politische Bildung zum NS, und darüber hinausgehend, ist der Bezug auf den genannten Vortrag Adornos selbstverständlich geworden[263]. Nicht nur Gedenkstätten-Pädagogik und der erzieherische Umgang mit dem Nationalsozialismus suchen ihre Begründung darin, dass jede "Debatte über Erziehungsideale (...) nichtig (ist) und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz sich nicht wiederhole"[264].

Gerade im Zuge der ansteigenden Manifestationen rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Einstellungsmuster seit der deutschen Wiedervereinigung werden auch "Erziehungsprogramme mit ihm begründet, durch die Menschen moralisch verbessert und zu Toleranz, Frieden und Humanität erzogen werden sollen."[265]

Die historisch-politische Bildung steht vor dem grundsätzlichen Problem, die gesellschaftlichen und auf die Individuen wirkenden Strukturen zu vermitteln, aber eben damit auch aus den Massenmorden ihren professionellen Sinn zu ziehen. Auschwitz wird derart leicht von PädagogInnen für die Profession funktionalisiert und die Sinnlosigkeit der deutschen Tat droht in der Beliebigkeit einer Verbesserung der Menschen aufzugehen.

Die Akteure politischer Bildungsarbeit, in der Mehrzahl aufgewachsen im Post-Holocaust-Deutschland, sind ebenso wenig losgelöst vom sie umgebenden kulturellen Klima, wie auch die ihre Arbeit bestimmenden Rahmenbedingungen. Diese Verstrickung besteht nicht nur in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen von Förderern, also von Stiftungen, Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung oder Aktionsprogrammen der Bundesregierung. Sie ist auch eine der persönlichen Verschlingung BildnerInnen selber als der Nachfahren der Täter. Diese Verhältnisse sollen näher beleuchtet werden, um vor ihrem Hintergrund abschließend einige Ausblicke und Skizzierungen einer Praxis politischer Bildung gegen Antisemitismus zu geben. Die stets implizit mitschwingende Frage dieses Kapitels lautet, ob und wie weit politische Bildung, als Teilbereich von Sozialpädagogischer Arbeit, überhaupt die Möglichkeit hat im Angesicht der Totalität des Marktförmigen und der vor diesem Hintergrund produzierten Subjekte Programme gegen den Antisemitismus bieten kann.

[258] Adorno: Erziehung nach Auschwitz, a.a.O., S. 674.

[259] Wolfgang W. Mickel (Hrsg): Handbuch zur politischen Bildung, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 1999.

[260] Gerd Stein: Mündigkeit und Emanzipation in demokratischen Systemen in: Wolfgang Mickel a.a.O., S. 43

[261] Ido Abram / Matthias Heyl: Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule, Reinbek (Rowohlt) 1996, S. 7.

[262] So der Direktor der Theodor W. Adorno Schule Norbert Hilbig: "Fünfzig Jahre nach Auschwitz. In Deutschland werden Menschen verbrannt. (...) Die deutsche Pädagogik hat die jugendlichen Täter nicht beeinflussen können, ihre Erziehung misslang" (Norbert Hilbig: Mit Adorno Schule machen – Beiträge zu einer Pädagogik der kritischen Theorie, Bad Heilbrunn (Klinkhardt) 1997 (1995), S. 11).

[263] So bezieht sich beispielsweise Ido Abram, der die erste Professur für ‚Holocaust Education’ (sic!) inne hat in seinem Buchbeitrag Erziehung und humane Orientierung ausführlich und affirmativ auf Adornos Aufsatz Erziehung nach Auschwitz (vgl. Ido Abram: Erziehung und humane Orientierung, in: Ido Abram / Matthias Heyl: Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule, a.a. O.). Desgleichen der Religionspädagoge Friedrich Schweitzer in seinem Aufsatz Erziehung nach Auschwitz. Über Notwendigkeit und Schwierigkeiten einer dem Erinnern verpflichteten Pädagogik (Ders.: In: Reinhold Boschki / Franz-Michael Konrad (Hsrg.): Ist die Vergangenheit noch ein Argument. Aspekte einer Erziehung nach Auschwitz, Tübingen (Attempo Verlag) 1997). Oder kritisch: Wolfgang Meseth: Theodor W. Adornos "Erziehung nach Auschwitz" in: Bernd Fechler / Gottfried Kößler / Till Lieberz-Groß (Hrsg.): "Erziehung nach Auschwitz" in der multikulturellen Gesellschaft, Weinheim und München (Juventa) 2000

[264] Adorno: Erziehung nach Auschwitz, a.a.O., S. 88.

[265] Meseth, a.a.O., S. 19.

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2007