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Antisemitismus und Nationalsozialismus

Von Moishe Postone
© ça ira-Verlag 2005, www.isf-freiburg.org

I. Ausmaß und Stärke der Reaktionen auf den Fernsehfilm Holocaust werfen Fragen bezüglich des Verhältnisses von Antisemitismus und Nationalsozialismus und deren öffentliche Diskussion in der BRD auf.[1]

Diese Diskussion ist durch eine offenbare Antinomie gekennzeichnet. Einerseits haben Liberale und Konservative, während sie die Diskontinuität zwischen der Nazivergangenheit und der Gegenwart betonten, im Bezug auf jene Vergangenheit ihre Aufmerksamkeit auf die Verfolgung und Vernichtung der Juden konzentriert. Andere Gesichtspunkte, die für den Nazismus zentral waren, sind dabei vernachlässigt worden. Die Betonung des Antisemitismus diente dazu, den angeblich totalen Bruch zwischen dem Dritten Reich und der BRD zu unterstreichen. Eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und strukturellen Wirklichkeit des Nationalsozialismus, die 1945 nicht plötzlich verschwunden war, wurde so vermieden. Es ist bezeichnend, daß die westdeutsche Regierung an Juden 'Wiedergutmachungszahlungen' leistet, jedoch nicht an Kommunisten und andere verfolgte, radikale Gegner der Nazis. Mit anderen Worten, was den Juden geschah, ist instrumentalisiert und in eine Ideologie zur Legitimation des gegenwärtigen Systems verwandelt worden. Diese Instrumentalisierung war nur möglich, weil der Antisemitismus vorwiegend als eine Form des Vorurteils behandelt wurde. Eine solche Sündenbockideologie ist eine Auffassung, die die innere Beziehung zwischen Antisemitismus und anderen Aspekten des Nationalsozialismus verdeckt.

Andererseits neigte die Linke dazu, sich auf die Funktion des Nationalsozialismus für den Kapitalismus zu konzentrieren. Sie hob daher die Zerstörung der organisierten Arbeiterklasse hervor, die Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik der Nazis, den Expansionismus und die bürokratischen Herrschaftstechniken von Partei und Staat. Kontinuitätsmomente zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik wurden von ihr betont, doch hat sie die Vernichtung der Juden natürlich nicht unterschlagen. Allerdings ist die Vernichtung schnell unter die allgemeinen Kategorien von Vorurteil, Diskriminierung und Verfolgung subsumiert worden.[2] Mit anderen Worten: Die Vernichtung der Juden wurde außerhalb des Rahmens einer Analyse des Nazismus behandelt. Antisemitismus wurde als eher peripheres denn als zentrales Moment des Nationalsozialismus verstanden. Auch die Linke hat die inneren Beziehungen zwischen beiden verdeckt.

Beide Positionen teilen ein Verständnis von modernem Antisemitismus als antijüdischem Vorurteil, als besonderem Beispiel für den Rassismus im allgemeinen. Die massenpsychologische Natur des Antisemitismus wird in einer Weise betont, die es ausschließt, ihn in eine sozioökonomische Untersuchung des Nationalsozialismus einzubeziehen.

Die Schwäche dieses Verhältnisses war insbesondere in den TV-Diskussionen offensichtlich, die im Anschluß an die Ausstrahlungen des Fernsehmehrteilers Holocaust geführt wurden. Die Podiumsteilnehmer waren besonders gut darin, Informationen zu vermitteln: über die Bedingungen in den Konzentrationslagern, die Aktivitäten der 'Einsatzgruppen' und deren Zusammensetzung (der Polizei ebenso wie der SS-Einheiten), den Massenmord an den Zigeunern und über die materiellen Schwierigkeiten und das Ausmaß des jüdischen Widerstandes. Jedoch gerieten sie in Verlegenheit, als sie die Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären versuchten. Sie erörterten die Frage hauptsächlich unter der Annahme eines Mangels an Zivilcourage in der Bevölkerung (was implizierte, daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung dem Antisemitismus der Nazis zumindest passiv widerstanden habe oder in den allgemeinen Kategorien von Mißtrauen und Furcht gegenüber dem Anderen oder in individualpsychologischen Kategorien ("Der potentielle 'Dorf' steckt in jedem von uns")[3] Über Antisemitismus wurde hingegen wenig gesprochen und es gab keinen Versuch, den modernen Antisemitismus genauer zu bestimmen und ihn auf den Nazismus zu beziehen. Folgerichtig blieb die Frage, warum so etwas geschehen konnte, notwendig rhetorisch und bloßer Ausdruck von Scham und Entsetzen.

Die Scham und das Entsetzen, die der Film weckte, fokussierte die Diskussion auf die Frage, ob die Deutschen gewußt hätten, was den Juden geschehen war; eine Frage, die in Fernsehen und Presse sehr hitzig und emotional diskutiert wurde.[4] Indem Holocaust Massenerschießungen von Juden durch 'Einsatzgruppen' zeigte, untergrub der Film die Fiktion, der Völkermord der Nazi sei Sache einer Handvoll Leute gewesen, die innerhalb eines Rahmens operierten, der von den Soldaten wie von der übrigen deutschen Bevölkerung hermetisch getrennt gewesen sei. Die Tatsache, daß Millionen Juden, Russen und Polen außerhalb der Lager mit Wissen und zeitweise mit aktiver Unterstützung der Wehrmacht ermordet wurden oder Hungers starben, konnte vom öffentlichen Bewußtsein nicht länger verdrängt werden.[5] Die öffentliche Reaktion auf Holocaust machte klar, daß Millionen Deutscher tatsächlich davon gewußt haben mußten, selbst wenn nicht in allen Einzelheiten.

Die Tatsache dieses Wissens wirft das Problem auf, daß der typische Deutsche nach dem Krieg darauf beharrte, nichts über die Vernichtung des europäischen Judentums und andere Naziverbrechen gegen die Menschheit gewußt zu haben. Es ist klar, daß die Verleugnung dieses Wissens einen Versuch darstellt, die Schuld zu leugnen. Es könnte jedoch argumentiert werden, daß, selbst wenn die Leute davon gewußt hätten, es wenig gab, was sie hätten tun können. Das Wissen um die Naziverbrechen muß nicht notwendigerweise Schuld einschließen. Welche Bedeutung hat also die Leugnung dieses Wissens nach dem Krieg, als die Meisten doch sicherlich alles wußten?

Nach dem Krieg darauf zu beharren, nichts gewußt zu haben, muß vermutlich als fortgesetztes Beharren darauf interpretiert werden, nichts wissen zu wollen. "Wir wußten nicht" müßte als "Wir wollen noch immer nicht wissen" interpretiert werden. Das Wissen zuzugestehen – selbst als post factum erworbenes – hätte notwendig eine innere Distanzierung von vergangener Identifikation erfordert und zu politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen geführt. Wären die Menschen nach dem Krieg für dieses Wissen offen gewesen, wäre vielleicht das, was ersichtlich fehlte, eingetreten: eine massive öffentliche Reaktion des Entsetzens und die Forderung nach gerechter Strafe. Vielleicht wäre es für viele Nazibeamte, Staatsanwälte und Richter nicht möglich gewesen, weiterhin die gleichen Funktionen in der Bundesrepublik auszuüben.[6] Ein antinazistischer Umschwung der Massen stand jedoch nicht auf der Tagesordnung. Das Ziel war 'Normalität' um jeden Preis – eine Normalität, die ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erreicht werden sollte. Die starke Identifikation mit jener Vergangenheit wurde nicht überwunden, sondern einfach unter Unmengen von Volkswagen begraben.

Das Ergebnis war psychische Selbstverleugnung und Verdrängung. Es gibt viele Interpretationen der Natur dieser massiven psychischen Verdrängung: Angst vor Strafe, Scham, fortgesetzte Identifikation oder statt der Überwindung die Verleugnung einer vergangenen starken Identifikation (Mitscherlichs These von der Unfähigkeit zu trauern). Daß eine solche Verdrängung stattfand, ist unbestreitbar. Daraus entstand eine Art kollektiver Somnambulismus: Die Mehrheit der Bevölkerung ging schlafwandelnd durch den Kalten Krieg, durch das 'Wirtschaftswunder' und durch das Wiederauftauchen von Politik während der Studentenbewegung.

Dieser schlafähnliche Zustand ist durch Holocaust, zumindest für einen Augenblick, erschüttert worden. Dies ist vermutlich ebenso ein Ergebnis der Zeit als des Films selbst. 34 Jahre nach Kriegsende hat sich die Geschichte verlangsamt. Die Vorwärtsgerichtetheit der Nachkriegsära – die Aufsplitterung der Welt in zwei Lager; die Periode der wirtschaftlichen Expansion, in der Glück durch Konsum erkauft werden sollte; die Periode der Studentenbewegung, als man die Wurzel allen Glücks in der praktischen Politik vermutete, ist vorüber. Die Vergangenheit, die man glaubte hinter sich gelassen zu haben, ist wieder aufgetaucht. Sie war immer im Schlepptau, einen Schritt hinterher. Das ist jetzt offensichtlich geworden. Doch ist es noch zu früh, um festzustellen, ob die Reaktionen auf Holocaust zu Auseinandersetzungen mit weitreichenden Konsequenzen führen oder sich als eine vorübergehende Katharsis erweisen werden.

II.

Das Problem des Wissens von der Nazi-Vergangenheit hat eine besondere Rolle in der deutschen Neuen Linken gespielt, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Diese Vergangenheit und ihre kollektive psychische Verdrängung waren sehr wichtige Momente in der Entstehung der Neuen Linken. Obwohl es eine Diskussion über den Nazismus und den Holocaust innerhalb der Linken gab, haben viele Gespräche in Frankfurt jüngst ein bemerkenswertes Phänomen offenbart: Während die meisten der älteren Generation der Neuen Linken sich in den 60er Jahren intensiv mit dem Problem beschäftigt haben, scheint es, daß ein großer Teil der jüngeren Generation, vielleicht die meisten, die sich 1968 und danach politisiert haben, über die Vernichtung des europäischen Judentums niemals Dokumentationen eingesehen oder sich überhaupt informiert hatten. Für diese Generation war Holocaust ein Schockerlebnis. Es war das erste Mal, daß sie konkret und hautnah mit dem Schicksal der Juden konfrontiert wurden. Sie hatten natürlich davon gewußt, aber offensichtlich nur abstrakt. Mit der Wirklichkeit dieses Entsetzens haben sie sich nie konkret auseinandergesetzt. Das Fehlen einer solchen Konfrontation spiegelte sich im Umgang der Nach-68er-Generation mit Geschichte und in ihrem Verständnis des Nationalsozialismus wieder.

In den späten 60er und den frühen 70er Jahren schenkte die Neue Linke der Geschichte der Arbeiterbewegung, insbesondere von 1918 bis 1923, und dem Widerstand gegen die Nazis weit mehr Aufmerksamkeit als der Geschichte des Nationalsozialismus selbst. Das Studium der Geschichte wurde zu einer Suche nach Identifikation, einer Suche, die angesichts der Nazivergangenheit besonders intensiv war. Eine historische Konfrontation mit dem Dritten Reich wurde dadurch jedoch umgangen. Durch die Hervorhebung der revolutionären Bewegungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, wurde aber die Tatsache verdeckt, daß diese Geschichte spätestens 1933 zu Ende war und weder in der BRD noch in der DDR eine lebendigehistorische Tradition darstellte. Das Bedürfnis nach Identifikation führte zu einer Überbetonung des Widerstands gegen Hitler, die eine Auseinandersetzung mit der Popularität des Naziregimes vermied. Dadurch wurde aber auch die Entwicklung eines Verständnisses für die Lage der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945 abgeblockt. Vielmehr wurde der 'Mangel an jüdischem Widerstand' zu einer impliziten Anklage, anstatt Ausgangspunkt für genauere Untersuchungen zu bilden.

Das Fehlen wirklichen Wissens über die Aktivitäten und die Politik der Nazis in Polen und in der Sowjetunion, in den Ghettos und in den Vernichtungslagern führte zu einem unvollständigen Bild des Nazismus. Das Ergebnis war eine Analyse des Nationalsozialismus, die jene Momente des Phänomens heranzog, welche in den Jahren 1933-1939 augenscheinlich waren: ein terroristischer, bürokratischer Polizeistaat, der im unmittelbaren Interesse des Großkapitals arbeitete und auf autoritären Strukturen, der Glorifizierung der Familie und der Benutzung des Rassismus als Mittel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beruhte. Diese Art der Analyse wurde noch durch die kommunistische Angewohnheit verstärkt, lieber vom Faschismus als vom Nazismus zu sprechen, wodurch die Klassenfunktion unter Ausschluß anderer Momente hervorgehoben wurde. Mit anderen Worten: Sowohl die undogmatische Linke als auch die orthodoxen Marxisten neigten dazu, den Antisemitismus als Randerscheinung des Nationalsozialismus zu behandeln. Dadurch wurden die Naziverbrechen gegen die Menschheit von der sozialhistorischen Untersuchung des Nationalsozialismus getrennt. Das Ergebnis ist, daß die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer (oder totalitärer) Massenmorde erscheinen oder unerklärt bleiben.

Das Bestehen auf einer Auseinandersetzung mit der Besonderheit des Nazismus und der Vernichtung des europäischen Judentums ist in Deutschland häufig als eine Anklage verstanden worden – auch von der Linken. Daß Terror, Massenmord, Rassismus und Autoritarismus ein deutsches Monopol seien, ist ein Mißverständnis, das Abwehrreaktionen hervorruft. Die bloße Erwähnung von Nazismus wird unmittelbar mit Greuelbeispielen in Vietnam, Palästina usw. 'beantwortet'. Auch linke Theorien des Nationalsozialismus neigen zu dieser Abwehrhaltung. Objektivistische Theorien verkehren entweder Horkheimers Diktum von der Beziehung zwischen Kapitalismus und Faschismus in eine vorausgesetzte Identität oder vermitteln beides ökonomistisch. Subjektivistische Theorien (wie z.B. die von Theweleit[7]) lassen hingegen die Besonderheit des Nationalsozialismus außer acht. So wird das Dritte Reich entweder mit dem Kapital oder mit dem Patriarchat identifiziert, jedenfalls in historisch unspezifischen Kategorien begriffen.

Theorie wurde zu einer Form psychischer Verdrängung. Konzepte wurden lieber genutzt, um eine unverstellte Wahrnehmung des Nazismus abzublocken, als um jene Wirklichkeit zu begreifen und verstehbar zu machen. Diese Verkehrung der Funktion von Analyse nährte sich meines Erachtens aus der Abscheu und Schuld, die die Nachkriegsgeneration gegenüber der Nazi-Vergangenheit empfand. Mit dem Schuldgefühl war nur schwer umzugehen. Es war kaum zu greifen, da es ja nicht auf wirklicher Schuld beruhte. Die Verbindung von Abscheu und Schuld führte vielmehr zu einem Interesse am Nazismus, das durch Abwehrreaktionen gekennzeichnet war. Jene verhinderten eine Auseinandersetzung mit der Besonderheit der Vergangenheit, da ein Zugeständnis jener Besonderheit mit einem Eingeständnis von Schuld verbunden gewesen wäre. Als Ergebnis wurde der Nazismus als leere Abstraktion behandelt, die mit Kapitalismus, Bürokratie und autoritären Strukturen assoziiert wurde und einfach eine schlimmere Ausprägung der uns bekannten 'Normalität' gewesen sei. Dadurch wurde nicht nur die Besonderheit der deutschen Vergangenheit aufgehoben, sondern der Terminus 'Faschismus' durch rhetorische Inflation in seiner Bedeutung entwertet. Einerseits verkannte diese einseitige Betonung der oben angesprochenen Momente des Nationalsozialismus seine antibürgerlichen Aspekte: die Revolte, sowie den Haß auf die Herrschenden und den grauen kapitalistischen Alltag. Andererseits konnte der Kampf gegen die autoritäre, kapitalistische Gegenwart der BRD, die durch Kontinuitäten der Nazivergangenheit geprägt war, als direkter Kampf gegen Faschismus interpretiert werden. Dies war ein Versuch, das damalige Fehlen eines deutschen Widerstandes wiedergutzumachen. Solche Tendenzen beeinflußten stark die politische Diskussion im Frankfurt der 70er Jahre, die in hohem Maße durch die Auseinandersetzung mit Theorie, Strategie und Taktik des westdeutschen Untergrunds bestimmt war. Viele politische Aktivitäten in der BRD werden heute als 'Lernen aus der Vergangenheit' dargestellt. Die Foci des politischen Interesses und der Aktivität in Westdeutschland sind die Kämpfe gegen Unterdrückung, Berufsverbot, den Eingriff in bürgerliche Freiheiten, Gerichtsverfahren, die erschreckende Behandlung politischer Gefangener (in Wirklichkeit aller Gefangener), die Diskriminierung ausländischer Arbeiter, Rassismus und Kernenergie mit ihren politischen wie ökologischen Auswirkungen. Machen es diese Kämpfe notwendig, aus der Nazi-Vergangenheit zu lernen? Sicherlich sind sie zwar gegen den autoritären Staat gerichtet. Diese Bestimmung erschöpft die des Nationalsozialismus aber keineswegs. Diese Kampagnen – so wichtig sie sind – als 'Lernen aus der Vergangenheit' darzustellen, ist irgendwie verdächtig. Das Lernen geht hier etwas zu schnell und stellt zum Teil eine Flucht aus der Besonderheit jener Vergangenheit dar.

Die Auswirkungen dieser Flucht sind zweideutig. Ich bezweifle, daß es im Westen eine andere Linke gibt, die gegenüber Entwicklungen in anderen Ländern so offen und informiert ist wie die westdeutsche. Jedoch spürt man eine unterschwellige Verzweiflung, eine Suche nach Identität, mit der große Teile der undogmatischen Linken versucht haben, sich unmittelbar auf die Entwicklungen im Ausland zu beziehen – den italienischen 'heißen Herbst' 1969, die Black-Panther-Bewegung, Palästina, Portugal, alternative Projekte in den USA, die italienischen Stadtindianer, die französische ' Neue Philosophie' usw.

Am deutlichsten kam das Probleme des Lernen und Verdrängens, beziehungsweise von Flucht und der Suche nach Identität, in der Haltung der deutschen Neuen Linken gegenüber Israel zum Vorschein. Keine westliche Linke war vor 1967 in dem Maße philosemitisch und prozionistisch wie sie nach dem Sechs-Tage-Krieg propalästinensisch war. Was 'Antizionismus' genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und psychisch beladen, daß es weit über die Grenzen einer politischen und gesellschaftlichen Kritik am Zionismus hinausging. Das bloße Wort war so negativ besetzt wie Nazismus; und das in einem Land, wo die Linke es hätte besser wissen müssen.[8] Der Wendepunkt vom Philosemitismus zu jener Form des Antizionismus war der Krieg 1967. Ich vermute, daß hier ein Prozeß psychologischer Umkehr stattfand, in dem die Juden als Sieger mit der Nazi-Vergangenheit identifiziert wurden – positiv durch die deutsche Rechte, negativ von der Linken. Umgekehrt wurden die Opfer der Juden, nämlich die Palästinenser, als Juden identifiziert. Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, daß der Auslöser für eine solche Wende nicht die Vertreibung und das Leiden der Palästinenser war, das schon lange vor 1967 begonnen hatte, sondern der siegreiche 'Blitzkrieg' der Israelis. Der Philosemitismus offenbarte seine andere Seite: Wenn die Juden einerseits keine Opfer sind und deshalb integer und andererseits die Israelis brutal und rassistisch sind, dann müssen sie 'Nazis' sein. Nach der Schlacht von Karameh 1968 erwiesen sich die Palästinenser zudem als die 'besseren Juden' – sie leisteten Widerstand. So war endlich eine Gelegenheit gegeben, sich mit den 'Juden' und mit ihrem Widerstand zu identifizieren. Der Kampf gegen Zionismus verwandelte sich in den langersehnten Kampf gegen die Nazivergangenheit – befreit von Schuld.

Diese Abfolge psychischer Verkehrung manifestierte sich am groteskesten 1976 in Entebbe. Ein Flugzeug der Air France war entführt und alle nicht-jüdischen Passagiere freigelassen worden. Als Geiseln wurden die jüdischen Passagiere zurückgehalten, nicht einfach alle Israelis – was schlimm genug gewesen wäre. Dieses 'Selektionsverfahren' wurde, weniger als vierzig Jahre nach Auschwitz, von zwei jungen linken Deutschen vorgenommen. Innerhalb der Neuen Linken in Deutschland gab es keine öffentliche Protestreaktion – geschweige denn einen allgemeinen Aufschrei. 'Lernen aus der Vergangenheit' ist von einer Verwirklichung noch weit entfernt. Schuld hatte es abgeblockt, Unkenntnis hatte es behindert, und das überwältigende Bedürfnis nach unzweideutiger Identifikation hatte es schließlich verdrängt. Vielleicht haben die unmittelbaren Probleme, denen sich eine deutsche Linke gegenübersieht, viel mehr mit einem zunehmend autoritären technokratischen Kapitalismus zu tun als mit Nazismus und Antisemitismus. Nichtsdestoweniger lastet die Vergangenheit zu schwer, als daß sie ignoriert werden könnte; der Versuch, die Vergangenheit beiseite zu schieben, um mit der Gegenwart fertig zu werden, hat nicht funktioniert. Die verdrängte Vergangenheit ist geblieben, hat ihre untergründige Arbeit fortgesetzt und dazu beigetragen, den Umgang mit der Gegenwart zu bestimmen.

III.

Ein wichtiger Aspekt in der Konfrontation mit dieser Vergangenheit wäre der Versuch, sich mit der Beziehung von Antisemitismus und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen; zu versuchen, die Vernichtung des europäischen Judentums zu verstehen. Das kann nicht gelingen, solange Antisemitismus als Beispiel für Rassismus sans phrase und der Nazismus als Ausdruck des Großkapitals und eines terroristisch-bürokratischen Polizeistaates verstanden wird. Auschwitz, Chelmo, Majdanek, Sobibor und Treblinka dürfen nicht außerhalb der Analyse des Nationalsozialismus behandelt werden. Sie stellen nicht einfach seine furchtbarsten Randerscheinungen dar, sondern einen seiner logischen Endpunkte. Keine Analyse des Nationalsozialismus, die nicht die Vernichtung des europäischen Judentums erklären kann, wird ihm gerecht.

Meine Absicht ist nicht die Beantwortung der Frage, warum dem Nazismus und dem modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in Deutschland gelungen ist. Ein solcher Versuch müßte einer Betrachtung der Besonderheit deutscher Entwicklung Rechnung tragen: darüber ist zur Genüge gearbeitet worden. Dieser Essay will vielmehr untersuchen, was damals durchbrach: Er ist eine Betrachtung der Aspekte des modernen Antisemitismus, die als unabdingbarer Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus verstanden werden müssen und dazu beitragen, die Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären. Dies ist auch die notwendige Voraussetzung einer adäquaten Beantwortung der Frage, warum es gerade in Deutschland geschah. Was ist die Besonderheit des Holocaust und des modernen Antisemitismus? Dies ist sicherlich keine Frage der Quantität, sei es der Zahl der Menschen, die ermordet worden sind, noch des Ausmaßes ihres Leidens. Es gibt zu viele historische Beispiele für Massenmord und Genozid. So sind zum Beispiel viel mehr Russen als Juden von den Nazis getötet worden. Die Frage zielt vielmehr auf die qualitative Besonderheit. Bestimmte Aspekte der Vernichtung des europäischen Judentums bleiben so lange unerklärlich, wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteil, Fremdenhaß und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für Sündenbockstrategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe hätten gewesen sein können. Charakteristisch für den Holocaust war der verhältnismäßig geringe Anteil an Emotion und unmittelbarem Haß (im Gegensatz zu Pogromen zum Beispiel).

Dafür zeichnete ihn das Selbstverständnis einer ideologischen Mission aus, und, was das wichtigste ist: Der Holocaust hatte keine funktionelle Bedeutung. Die Vernichtung der Juden war kein Mittel zu einem anderen Zweck. Sie wurden nicht aus militärischen Gründen ausgerottet oder um gewaltsam Land zu nehmen (wie bei den amerikanischen Indianern); es ging auch nicht um die Auslöschung der potentiellen Widerstandskämpfer unter den Juden, mit dem Ziel, den Rest als Heloten besser ausbeuten zu können (dies war übrigens die Politik der Nazis den Polen und Russen gegenüber). Es gab auch kein 'äußeres' Ziel. Die Vernichtung der Juden mußte nicht nur total sein, sondern war sich selbst Zweck – Vernichtung um der Vernichtung willen –, ein Zweck, der absolute Priorität beanspruchte.[9]

Eine funktionalistische Erklärung des Massenmords und eine Sündenbocktheorie des Antisemitismus können nicht einmal im Ansatz erklären, warum in den letzten Kriegsjahren, als die deutsche Wehrmacht von der Roten Armee überrollt wurde, ein bedeutender Teil des Schienenverkehrs für den Transport der Juden zu den Gaskammern benutzt wurde und nicht für die logistische Unterstützung des Heeres. Ist die qualitative Besonderheit der Vernichtung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, daß Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben. Die Besonderheit des Holocaust erfordert eine spezifischere Vermittlung, um sie wenigstens im Ansatz zu verstehen. Die Vernichtung des europäischen Judentums steht natürlich in Beziehung zum Antisemitismus. Die Besonderheit des ersteren muß auf letzteren bezogen werden. Darüber hinaus muß der moderne Antisemitismus im Hinblick auf den Nazismus als Bewegung verstanden werden – eine Bewegung die in der Sprache ihres eigenen Selbstverständnisses eine Revolte war.

Der moderne Antisemitismus, der nicht mit dem täglichen antijüdischen Vorurteil verwechselt werden darf, ist eine Ideologie, eine Denkform, die in Europa im späten 19. Jahrhundert auftrat. Sein Auftreten setzt Jahrhunderte früherer Formen des Antisemitismus voraus. Antisemitismus ist immer ein integraler Bestandteil der christlich westlichen Zivilisation gewesen. Allen Formen des Antisemitismus ist eine Vorstellung von jüdischer Macht gemein: die Macht, Gott zu töten, die Beulenpest loszulassen oder, in jüngerer Zeit, Kapitalismus und Sozialismus herbeizuführen. Seine Denkweise ist manichäisch, mit den Juden in der Rolle der Kinder der Finsternis. Nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus. Alle Formen des Rassismus schreiben dem Anderen potentielle Macht zu. Diese Macht ist gemeinhin konkret, materiell und sexuell. Es ist die potentielle Macht des Unterdrückten (als Macht des Verdrängten) in Gestalt des 'Untermenschen'. Die den Juden zugeschriebene Macht ist jedoch größer und wird nicht nur als potentiell, sondern als tatsächlich wahrgenommen. Sie ist vielmehr eine andere Art der Macht, die nicht notwendigerweise konkret ist.

Die den Juden im modernen Antisemitismus zugeschriebene Macht wird durch mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Universalität charakterisiert. Es wird angenommen, daß diese Form der Macht sich selbst nicht direkt manifestieren kann, sondern eine gesonderte Ausdrucksweise benötigt. Sie sucht sich einen Träger, sei er politisch, sozial oder kulturell, durch den sie wirken kann. Weil die Macht der Juden nicht konkret gebunden, nicht 'verwurzelt' ist, wird sie zum einen als überwältigend wahrgenommen und ist zum anderen sehr schwer nachzuprüfen. Es wird angenommen, daß sie hinter den Erscheinungen stehe, ohne mit diesen identisch zu seien. Ihre Quelle ist hinterlistig verborgen: konspirativ. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfaßbare internationale Verschwörung. Ein Naziplakat bietet ein plastisches Beispiel für diese Wahrnehmung: Es zeigt Deutschland – dargestellt als starken, ehrlichen Arbeiter – das im Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der Jude. Eine solche Vision war keineswegs Monopol der Nazis. Der moderne Antisemitismus ist dadurch gekennzeichnet, daß die Juden für die geheime Kraft hinter jenen Widersachern, dem plutokratischen Kapitalismus und dem Sozialismus gehalten werden. 'Das internationale Judentum' wird darüber hinaus als das wahrgenommen, was hinter dem 'Asphaltdschungel' der wuchernden Metropolen, hinter der 'vulgären, materialistischen, modernen Kultur' und, generell, hinter allen Kräften steht, die zum Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge, Werte und Institutionen führen. Die Juden stellen demnach eine fremde, gefährliche und destruktive Macht dar, die die soziale 'Gesundheit' der Nation untergräbt. Für den modernen Antisemitismus ist nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch, sondern auch sein systemartiger Charakter. Er beansprucht, die Welt zu erklären.

Diese deskriptive Bestimmung des modernen Antisemitismus ist zwar notwendig, um ihn von Vorurteil oder Rassismus im allgemeinen zu unterscheiden; sie kann jedoch als solche noch nicht die innere Beziehung zum Nationalsozialismus aufzeigen. Die Absicht also, die übliche Trennung zwischen einer sozioökonomischen Analyse des Nazismus und einer Untersuchung des Antisemitismus zu überwinden, ist auf dieser Ebene noch nicht erfüllt. Es bedarf einer Erklärung, die fähig ist, beides zu vermitteln. Sie muß in der Lage sein, den oben beschriebenen Antisemitismus in den gleichen historischen Kategorien zu fassen, die auch benutzt werden könnten, um den Nationalsozialismus zu erklären. Es ist nicht meine Absicht, sozialpsychologische oder psychoanalytische Erklärungen zu negieren [10], sondern vielmehr einen historisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhang zu erläutern, innerhalb dessen weitere psychologische Spezifizierung stattfinden kann.

Solch ein Zusammenhang muß den besonderen Inhalt des modernen Antisemitismus fassen und hat insofern historisch zu sein, da erklärt werden muß, warum diese Ideologie – beginnend im ausgehenden 19. Jahrhundert – sich zu jener Zeit so verbreitete. Fehlt ein solcher Zusammenhang, bleiben alle anderen Erklärungsversuche, die sich um Subjektivität zentrieren, historisch unspezifisch. Es bedarf einer Erklärung in Form einer materialistischen Erkenntnistheorie. Eine vollständige Entfaltung des Antisemitismusproblems würde den Rahmen dieses Essaysbei weitem sprengen.

Dennoch gilt es hervorzuheben, daß eine sorgfältige Überprüfung des modernen antisemitischen Weltbildes das Vorliegen einer Denkform deutlich werden läßt, in der die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert wird. Es handelt sich dabei nicht um die bloße Wahrnehmung der Juden als Träger von Geld – wie im traditionellen Antisemitismus; vielmehr werden sie für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen Industrialisierung einhergehen: explosive Verstädterung, der Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Maße sich organisierenden industriellen Proletariats und so weiter.

Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des 'internationalen Judentum' wahrgenommen wurden. Dies ist nicht wesentlich mehr als ein erster Zugang. Die Personifizierung ist zwar beschrieben, aber nicht erklärt. Es fehlt die erkenntnistheoretische Begründung. Ansätze dazu hat es gegeben. Das Problem jener Theorien – wie der Max Horkheimers[11] –, die sich wesentlich auf die Identifizierung der Juden mit dem Geld und damit auf die Zirkulationssphäre beziehen, besteht darin, daß sie nicht imstande sind, die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter Sozialdemokratie und Kommunismus. Auf den ersten Blick erscheinen Theorien wie die George Mosses[12], die den modernen Antisemitismus als Revolte gegen die 'Moderne' interpretieren, angemessener. Sowohl Plutokratie als auch Arbeiterbewegung waren Begleiterscheinungen der Moderne, beziehungsweise der massiven sozialen Umstrukturierungen, die aus der kapitalistischen Industrialisierung resultierten.

Das Problem, das sich solchen Ansätzen stellt, ist der Umstand, daß die 'Moderne' ohne Zweifel das Industriekapital einschließt, welches bekanntlich gerade nicht Objekt antisemitischer Angriffe war, nicht einmal in der Periode rascher Industrialisierung. Die Einstellung der Nationalsozialisten gegenüber anderen Dimensionen der Modernität, insbesondere gegenüber modernen Technologien, war vielmehr affirmativ als kritisch. Jene Aspekte des modernen Lebens, die jeweils zurückgewiesen, und solche, die angenommen wurden, bilden zusammengenommen ein Muster. Dieses Muster muß in einem adäquaten Konzept dieses Problems enthalten sein. Da das Muster nicht nur auf den Nationalsozialismus beschränkt ist, hat dieses Problem eine darüber hinausreichende Bedeutung. Die Affirmation des Industriekapitals durch den modernen Antisemitismus erfordert einen Ansatz, der unterscheiden kann zwischen dem, was moderner Kapitalismus ist, und der Art, wie er sich darstellt. Der Begriff 'modern' hält keine inhärente Differenzierung bereit, die eine solche Unterscheidung erlauben würde. Ich halte demgegenüber soziale Kategorien, wie 'Ware' und 'Kapital', die von Marx in seinem Spätwerk entwickelt wurden, für angemessener, da diesen eine Reihe von Unterscheidungen zwischen dem, was ist, und dem, was zu sein scheint, inhärent ist. Diese Kategorien können als Ausgangspunkt für eine Analyse dienen, die in der Lage ist, diverse Wahrnehmungen 'der Moderne' zu unterscheiden. Ein solcher Ansatz würde versuchen, das Muster sozialer Kritik und Affirmation, mit dem wir uns beschäftigen, mit den Charakteristika kapitalistischer Verhältnisse selbst in Beziehung zu setzen.

IV.

Diese Überlegungen führen zu Marx' Begriff des Fetischs, einem Begriff, der die Grundlage einer historischen Erkenntnistheorie bildet, die sich in der Unterscheidung zwischen dem Wesen der kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Erscheinungsformen gründet. Was dem Begriff des Fetischs vorausgeht, ist Marx' Analyse der Ware, des Geldes, des Kapitals als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht nur als bloße ökonomische Bestimmungen. Nach seiner Analyse erscheinen kapitalistische Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche, sondern drücken sich in vergegenständlichter Form aus. Weil Arbeit im Kapitalismus auch die Funktion einer gesellschaftlichen Vermittlung hat ('abstrakte Arbeit'), ist die Ware nicht bloß Gebrauchsgegenstand, in dem konkrete Arbeit vergegenständlicht ist, sondern sie verkörpert auch gesellschaftliche Verhältnisse. Insofern ist ihr Produkt, die Ware, nicht einfach ein Produkt, in dem sich konkrete Arbeit vergegenständlicht; es ist ebenso die Form vergegenständlichter sozialer Beziehungen. Die Ware, als Vergegenständlichung beider Dimensionen kapitalistischer Arbeit, ist ihre eigene soziale Vermittlung. Sie hat insofern einen 'Doppelcharakter': Wert und Gebrauchswert. Als Objekt drückt die Ware soziale Verhältnisse aus und verschleiert sie zugleich. Diese Verhältnisse haben keine andere, davon unabhängige Ausdrucksform. Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein quasi-objektives Eigenleben. Sie bilden eine 'zweite Natur', ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und 'objektiv' ist und deshalb natürlich zu sein scheint. Diese gesellschaftliche Dimension bestimmt die Waren und ihre Produktionsweise. Zugleich drücken die kategorialen Formen eine spezifische, sozial konstituierte Naturvorstellung in der Begrifflichkeit objektiven, gesetzmäßigen und quantifizierbaren Verhaltens eines qualitativ homogenen Wesens aus.

Die Marxschen Kategorien beziehen sich simultan auf besondere gesellschaftliche Verhältnisse und Denkformen. Der Fetisch verweist auf die Denkweisen, die auf Wahrnehmungen und Erkenntnissen basieren, die in den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse befangen bleiben.[13] Betrachtet man die besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne Antisemitismus den Juden zuordnet -nämlich Abstraktheit, Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität –, dann fällt auf, daß es sich hierbei um Charakteristika der Wertdimension jener gesellschaftlichen Formen handelt, die Marx analysiert hat. Mehr noch: diese Dimension – wie die den Juden unterstellte Macht – erscheint nicht unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form eines stofflichen Trägers, wie der Ware, an. Um die oben beschriebene Personifizierung zu deuten und dabei die Frage zu klären, warum der moderne Antisemitismus, der sich gegen so viele Aspekte der 'Moderne' wandte, sich dem industriellen Kapital und der modernen Technologie gegenüber so verdächtig still verhielt, wird es an dieser Stelle nötig sein zu analysieren, wie kapitalistisch-gesellschaftliche Verhältnisse sich darzustellen pflegen. Ich beginne mit der Warenform als Beispiel. Die dialektische Einheit von Wert und Gebrauchswert in der Ware erfordert, daß dieser 'Doppelcharakter' sich in der Wertform entäußert, in der er 'doppelt' erscheint: als Geld (die Erscheinungsform des Werts) und als Ware (die Erscheinungsform des Gebrauchswerts).

Diese Entäußerung erweckt den Schein, als enthalte die Ware, die eigentlich sowohl Wert wie Gebrauchswert ausdrückt, nur letzteren, das heißt, sie erscheint als rein stofflich und 'dinglich'. Weil die gesellschaftliche Dimension der Ware dabei entfällt, stellt sich das Geld als einziger Ort des Wertes dar, als Manifestation des ganz und gar Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware selbst. Die dem Kapitalismus eigene Form vergegenständlichter gesellschaftlicher Beziehungen erscheint so auf der Ebene der Warenanalyse als Gegensatz zwischen Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur andererseits. Die kapitalistischen Verhältnisse scheinen ihren Ausdruck nur in der abstrakten Dimension zu finden – etwa als Geld und als äußerliche, abstrakte, allgemeine 'Gesetze'. Ein Aspekt des Fetischs ist also, daß kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten und sich zudem antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem, darstellen. Und weil beide Seiten der Antinomie vergegenständlicht sind, erscheint jede als quasi-natürlich: Die abstrakte Seite tritt in der Gestalt von 'objektiven' Naturgesetzen auf, und die konkrete Seite erscheint als reine stoffliche Natur. Die Struktur entfremdeter gesellschaftlicher Beziehung, die dem Kapitalismus eigen ist, hat die Form einer quasi-natürlichen Antinomie, in der Gesellschaftliches und Historisches nicht mehr erscheinen. Diese Antinomie wiederholt sich im Gegensatz positivistischer und romantischer Denkweisen.

Die Mehrzahl der kritischen Untersuchungen fetischistischer Denkformen bezieht sich vor allem auf jenen Strang der Antinomie, der das Abstrakte als überhistorisch hypostasiert – das sogenannte bürgerliche Denken – und damit den gesellschaftlichen und historischen Charakter der bestehenden Beziehungen verschleiert. In diesem Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren. Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als 'Wurzel allen Übels'. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das 'natürliche' oder ontologisch-menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt.

So wird – wie etwa bei Proudhon – konkrete Arbeit als das nichtkapitalis tische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist.[14] Daß konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen beinhaltet und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen. Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus, der Kapitalform und ihres Fetischs bekommt die dem Warenfetisch innewohnende Naturalisierung neue Dimensionen. Wie bei der Warenform ist die Kapitalform durch das antinomische Verhältnis des Abstrakten und Konkreten, die beide natürlich erscheinen, gekennzeichnet. Die Qualität des 'Natürlichen' ist aber unterschiedlich. Verbunden mit dem Warenfetisch ist die Vorstellung grundsätzlich gesetzmäßiger Verhältnisse zwischen individuellen Monaden, wie es sich etwa in der klassischen politischen Ökonomie und der Theorie von Naturgesetzen zeigt. Das Kapital ist nach Marx in seiner prozessualen Form als selbstverwertender Wert charakterisiert, als die unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des Wertes. Es erscheint in der Form von Geld sowie in der von Waren, das heißt, es hat keine fertige und endgültige Gestalt. Kapital erscheint als rein abstrakter Prozeß. Seine konkrete Dimension ändert sich dementsprechend: Individuelle Arbeiten bilden nicht länger abgeschlossene Einheiten, sondern werden mehr und mehr zu Teilkomponenten eines größeren dynamischen Systems, das Mensch wie Maschine umfaßt und dessen Zweck Produktion um der Produktion willen ist. Das Ganze wird größer als die Summe der sie konstituierenden Individuen und hat einen Zweck, der außerhalb ihrer liegt. Die Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden, prozessualen, quasi-organischen Charakter. Mit der Durchsetzung der Kapitalform verlor das mechanische Weltbild des 17. und 18. Jahrhunderts an Bedeutung; mehr und mehr übernahmen organische Prozesse an Stelle statischer Mechanik die Form des Fetischs. Das drückt sich zum Beispiel in der Verbreitung solcher Denkformen aus wie der Lehre vom Staat als lebendigem Organismus, aber auch in den Rassentheorien und der zunehmenden Bedeutung des Sozialdarwinismus im späten 19. Jahrhundert. Gesellschaft wie historischer Prozeß werden zunehmend biologisch begriffen. Diesen Aspekt des Kapitalfetischs will ich jedoch hier nicht weiter verfolgen.

Festzuhalten ist, welche Wahrnehmungsweisen von Kapital sich daraus ergeben. Wie angedeutet, läßt der 'Doppelcharakter' auf der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals läßt der 'Doppelcharakter' (Arbeits-und Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger 'natürlicher' handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum 'parasitären' Finanzkapital, als 'organisch' verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefaßt: Gemeinschaft, Volk, Rasse.

Kapital selbst – oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird – wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz-und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht steht die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension (des Kapitalismus) als 'natürlich' und 'gesund' dem Kapitalismus (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der 'dinglichen' Seite der Antinomie. Das wird gewöhnlich mißverstanden. So zum Beispiel von Norman Mailer, der in einer Verteidigung des Neo-Romantizismus (und des Sexismus) in seinem Buch The Prisoner of Sex schrieb, daß Hitler zwar von Blut gesprochen, aber die Maschine gebaut habe. Dabei blieb unverstanden, daß im fetischistischen 'Antikapitalismus' dieser Art beides, Blut wie Maschine, als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen wird. Die positive Hervorhebung der 'Natur', des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals. [15]

Diese Denkweisen sind genauso wenig anachronistisch oder Ausdruck einer historischen Ungleichzeitigkeit zu nennen, wie der Aufstieg von Rassentheorien im späten 19. Jahrhundert als Atavismus aufzufassen ist. Sie sind historisch neue Denkformen, nicht die Wiederauferstehung einer älteren Form. Sie erscheinen nur als atavistisch oder anachronistisch aufgrund ihrer Betonung der biologischen Natur. Das ist jedoch selbst Teil des Fetischs, der das 'Natürliche' als 'wesensgemäß' und ursprungsnäher erscheinen läßt und die geschichtliche Entwicklung als zunehmend künstlich. Solche Denkformen begleiten die Entwicklung des industriellen Kapitalismus. Sie sind Ausdruck jenes antinomischen Fetischs, der die Vorstellung erzeugt, das Konkrete sei 'natürlich', und dabei das gesellschaftlich 'Natürliche' zunehmend so darstellt, daß es biologisch erscheint. Genau diese Hypostasierung des Konkreten und die Identifikation des Kapitals mit dem manifest Abstrakten lag einem 'Antikapitalismus' zugrunde, der die bestehende soziale Ordnung von einem der Ordnung immanenten Standpunkt aus überkommen wollte. Insofern dieser Standpunkt die konkrete Dimension der kapitalistischen Verhältnisse ist, deutet diese Ideologie in Richtung einer konkreteren und verstärkt organisierten Form der offenbar kapitalistischen sozialen Synthese.

Diese Ideologie ist besonders funktional für die Entwicklung des Industriekapitals in der Krise. Die nationalsozialistische Ideologie war nicht nur aufgrund ihres Antimarxismus, und weil die Nazis die Organisationen der deutschen Arbeiterklasse zerstörten, im Interesse des Kapitals, sondern auch für den Übergang vom liberalen zum Quasi- Staatskapitalismus. Die Identifikation des Kapitals mit dem manifest Abstrakten überschneidet sich zum Teil mit seiner Identifikation mit dem Markt: Die Angriffe auf den liberalen Staat als abstraktem beförderten die Entwicklung des interventionistischen Staates als konkretem. Diese Form des 'Antikapitalismus' erscheint daher nur so, als ob sie sehnsüchtig rückwärts gewandt sei; als Ausdruck des Kapitalfetischs drängt sie in Wirklichkeit vorwärts. Sie ist ein Beitrag zum Kapitalismus in seinem Übergang zum Quasi-Staatskapitalismus in einer Situation der strukturellen Krise. Diese Form des 'Antikapitalismus' beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt.

Statt dessen findet sich lediglich der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene, gegen das Geld-und Finanzkapital. So gesehen entspricht dieses Denken seiner komplementären liberalen Position in antinomischer Weise: Im Liberalismus bleibt die Herrschaft des Abstrakten unbefragt; eine Unterscheidung zwischen positiver und kritischer Vernunft wird nicht getroffen. Der 'antikapitalistische' Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird.

So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird – als internationales Judentum. Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt. Diese fetischisierende Anschauung schloß in ihrem Verständnis des Kapitalismus alle konkreten Aspekte wie Industrie und Technologie aus. Der Kapitalismus erschien nur noch als das Abstrakte, das wiederum für die ganze Reihe konkreter gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, die mit der schnellen Industrialisierung verbunden sind, verantwortlich gemacht wurde. Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen kapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar nicht etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten und abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte. Deshalb geriet die 'antikapitalistische' Revoltezur Revolte gegen die Juden. Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.[16]

V.

Obwohl die innere Verbindung zwischen jener Art des 'Antikapitalismus', der den Nationalsozialismus beeinflußte, und dem Antisemitismus gezeigt worden ist, bleibt die Frage offen, warum die biologische Interpretation der abstrakten Seite des Kapitalismus sich an den Juden festmacht. Diese 'Wahl' war innerhalb des europäischen Kontextes keineswegs zufällig. Die Juden hätten durch keine andere Gruppe ersetzt werden können. Dafür gibt es vielfältige Gründe.

Die lange Geschichte des Antisemitismus in Europa und die damit verbundene Assoziation Juden = Geld ist wohlbekannt. Die Periode der schnellen Expansion des industriellen Kapitals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fiel mit der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation der Juden in Mitteleuropa zusammen. Die Zahl der Juden an den Universitäten, in den freien Berufen, im Journalismus, den schönen Künsten, im Einzelhandel nahm immer schneller zu – das heißt, die Juden wurden in der bürgerlichen Gesellschaft rasch aufgenommen, besonders in Sphären und Berufen, die sich gerade ausweiteten und mit der neuen Form verbunden waren, die die Gesellschaft gerade annahm. Man könnte viele andere Faktoren berücksichtigen. Einen möchte ich hervorheben: Ebenso wie die Ware, als gesellschaftliche Form, ihren 'Doppelcharakter' in dem entäußerten Gegensatz zwischen dem Abstrakten (Geld) und dem Konkreten (der Ware) ausdrückt, so ist die bourgeoise Gesellschaft durch die Trennung von (politischem) Staat und (bürgerlicher) Gesellschaft charakterisiert. Im Individuum stellt sie sich als Trennung zwischen Staatsbürger und (Privat-)Person dar. Als Staatsbürger ist das Individuum abstrakt. Das drückt sich zum Beispiel in der Vorstellung von der Gleichheit aller vor dem (abstrakten) Gesetz (zumindest in der Theorie) aus oder in der Forderung 'eine Person, eine Stimme'. Als eine (Privat-)Person ist das Individuum konkret, eingebettet in reale Klassenbeziehungen, die als 'privat' angenommen werden; das heißt, sie betreffen die bürgerliche Gesellschaft (im Gegensatz zum Staat) und sollen keinen politischen Ausdruck finden. In Europa war jedoch die Vorstellung von der Nation als einem rein politischen Wesen, abstrahiert aus der Substantialität der bürgerlichen Gesellschaft, nie vollständig verwirklicht. Die Nation war nicht nur eine politische Entität, sie war auch konkret, durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Traditionen und Religion bestimmt.

In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret. Sie waren außerdem noch Staatsbürger der meisten europäischen Länder. Diese Realität der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer Unmittelbarkeit kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen Staat und das Recht, wurde genau mit den Juden identifiziert. In einer Periode, in der das Konkrete gegenüber dem Abstrakten, dem 'Kapitalismus' und dem bürgerlichen Staat verklärt wurde, entstand daraus eine fatale Verbindung: Die Juden wurden als wurzellos, international und abstrakt angesehen.

VI.

Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstandener Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden Konkreten mündet in einer einmütigen, grausamen – aber nicht notwendig haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in Gestalt der Juden. Die Vernichtung des europäischen Judentums ist ein Anzeichen dafür, daß es viel zu einfach ist, den Nazismus als eine Massenbewegung mit antikapitalistischen Obertönen zu bewerten, die diese Hülse 1934 im Röhmputsch abwarf, nachdem sie erst einmal ihren Zweck erreicht und sich in Form staatlicher Macht gefestigt hatte. Zum einen sind die ideologischen Formen nicht einfach Bewußtseinsmanipulationen. Und zum anderen mißversteht diese Auffassung das Wesen des 'Antikapitalismus' der Nazis – das Ausmaß, in dem es der antisemitischen Weltanschauung innerlich verbunden war. Es stimmt, daß auf den zu konkreten und plebejischen 'Antikapitalismus' der SA 1934 verzichtet wurde; nicht jedoch auf die antisemitische Grundhaltung – die 'Erkenntnis', daß die Quelle allen Übels das Abstrakte sei – der Jude. Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der 'unglücklicherweise' die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige Träger des Abstrakten produziert. Die Vernichtungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische 'antikapitalistische' Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur 'Vernichtung des Werts', das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu 'befreien'.

Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt die 'Maske' der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen, was 'sie wirklich sind', Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite Schritt war dann, diese Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch zu verwandeln, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten gegenständlichen 'Gebrauchswerts' abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife. Auschwitz, nicht die 'Machtergreifung' 1933, war die wirkliche 'Deutsche Revolution' – die wirkliche Schein-'Umwälzung' der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Tat sollte die Welt vor der Tyrannei des Abstrakten bewahren. Damit jedoch 'befreiten' die Nazis sich selbst aus der Menschheit. Militärisch verloren die Nazis den Krieg gegen die Sowjetunion, die USA und Groß-Britannien. Sie gewannen ihren Krieg, ihre 'Revolution' gegen das europäische Judentum. Sie ermordeten nicht nur sechs Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es ist ihnen gelungen, eine Kultur zu zerstören – eine sehr alte Kultur –, die des europäischen Judentums. Diese Kultur war durch eine Tradition gekennzeichnet, die eine komplizierte Spannung von Besonderheit und Allgemeinheit in sich vereinigte.

Diese innere Spannung wurde als äußere in der Beziehung der Juden zu ihrer christlichen Umgebung verdoppelt. Die Juden waren niemals völlig Teil der größeren Gesellschaften, in denen sie lebten; sie waren auch niemals völlig außerhalb dieser Gesellschaften. Dies hatte für die Juden häufig verheerende Auswirkungen, manchmal jedoch auch sehr fruchtbare. Dieses Spannungsfeld sedimentierte sich im Zuge der Emanzipation in den meisten jüdischen Individuen. Die schließliche Lösung dieser Spannung zwischen Besonderem und Allgemeinem ist in der jüdischen Tradition eine Funktion der Zeit, der Geschichte – die Ankunft des Messias. Vielleicht jedoch hätte das europäische Judentum angesichts der Säkularisierung und Assimilation jene Spannung aufgegeben. Vielleicht wäre jene Kultur schrittweise als lebendige Tradition verschwunden, bevor die Auflösung des Besonderen und des Allgemeinen verwirklicht worden wäre. Hierauf wird es niemals mehr eine Antwort geben können.

VII.

'Lernen aus der Vergangenheit' muß das Verständnis des Antisemitismus, mithin des verkürzten 'Antikapitalismus', einschließen. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, würde die Linke den Kapitalismus nur in der Form der abstrakten Dimension des Kapitalwiderspruchs wahrnehmen, sei es in der Begrifflichkeit der technokratischen Herrschaft oder der abstrakten Vernunft. Es ist mehr als Vorsicht geboten gegenüber solchen Vorstellungen, die, wie in Gestalt 'neuer' Psychotherapieformen, das Gefühl in einen Gegensatz zum Denken stellen, oder gegenüber Auffassungen die das gesellschaftliche Problem der Ökologie biologisieren. 'Antikapitalismus', der das Konkrete verklärt und das Abstrakte unmittelbar abschaffen möchte – anstatt praktische und theoretische Überlegungen darüber anzustellen, was die historische Überwindung von beidem bedeuten könnte –, kann politisch und gesellschaftlich im besten Falle unwirksam bleiben. Schlimmstenfalls wird er jedoch selbst dann gefährlich, wenn die Bedürfnisse, die der 'Antikapitalismus' ausdrückt, als emanzipatorische interpretiert werden könnten. Die Linke machte einmal den Fehler anzunehmen, daß sie ein Monopol auf Antikapitalismus hätte; oder umgekehrt: daß alle Formen des Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler war verhängnisvoll – nicht zuletzt für die Linke selbst. 1979

Übersetzt von Renate Schumacher und Dan Diner
Redaktion: J. Olaf Kleist

Leseprobe aus: Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Sommer 2005, 218 Seiten, 18 Euro, ISBN: 3-924627-33-X, Seite 165 - 194
© ça ira-Verlag 2005, www.isf-freiburg.org

Anmerkungen:
[1] Ich möchte mich für die Diskussion und Kritik bei Barbara Brick, Dan Diner und Jeffrey Herf bedanken. In Bezug auf den Film selbst konzentriert sich ein Großteil der Kritik in westdeutschen Publikationen auf den kommerziellen Charakter und seine Tendenz zur Trivialisierung. Meines Erachtens waren andere Aspekte des Films weitaus wichtiger im deutschen Kontext. Die besonderen Schwächen des Films begründeten gerade seine Stärke, eine öffentliche Reaktion hervorrufen zu können. Die Schilderung des Schicksals einer einzelnen jüdischen Familie lieferte Vorschub für Sympathien mit den Opfern. Eine deutsche Öffentlichkeit fand sich in der Identifikation mit den Juden wieder, die durch die Darstellung einer assimilierten Familie der Mittelklasse zudem erleichtert worden war. Das Wissen um die Ermordung von 6.000000 jüdischen Menschen wurde dadurch hervorgehoben. Die Darstellung und die Reaktionen verblieben jedoch im liberalen Reaktionsschema gegenüber Rassismus und begegneten nicht den Implikationen der eigenen Mehrheit. In der einfachen Reaktion auf die negativen Bewertungen des Anderen durch Rassismus und Antisemitismus werden die Tatsache und das Recht auf das Anderssein verneint. Was damit verschleiert wird, ist der Umstand, daß nicht nur Millionen von jüdischen Leben vernichtet wurden, sondern ebenso das Leben des europäischen Judentums. Durch die Erleichterung einer Identifikation schwächte der Film die Wahrnehmbarkeit, daß es sich um die Auslöschung einer anderen Kultur handelte. Eine andere Schwäche des Films war die Darstellung der Lebensbedingungen in den Ghettos und in den Lagern, die imVergleich zu den Greueln der Realität mild ausfielen. Doch erlaubte gerade dieser Umstand der Öffentlichkeit den Horror mitzufühlen. Die Zuschauer konnten in einer Art und Weise offen sein, die den meisten nicht möglich ist, wenn sie mit Dokumentaraufnahmen konfrontiert sind, die das unbegreifliche Grauen zeigen, die Opfer als entmenschlichte Skelette – lebend oder tot –, und daher häufig negative Abwehrreaktionen hervorrufen. Schließlich behandelt der Film die Verfolgung und Vernichtung der Juden ausschließlich auf der Erscheinungsebene. Es wurde kein Versuch unternommen, den Antisemitismus oder die gesellschaftlichen und historischen Dimensionen des Nationalsozialismus anzudeuten. Jedoch zwang gerade dieser Mangel die Zuschauer, sich mit dem unverarbeiteten Phänomen zu konfrontieren und sich nicht hinter analytischen Kategorien oder moralisierendem Bedauern zu verstecken.
[2] Alle Juden in Ostdeutschland, ungeachtet ihrer politischen Herkunft, erhalten höhere Pensionen von der Regierung. Sie erhalten sie jedoch nicht als Juden, sondern als 'Antifaschisten'.
[3] 'Dorf' war der Name der zentralen (fiktiven) Nazi-Figur in dem Film.
[4] Während der Herausgeber des Spiegel, Rudolf Augstein, ein Editorial verfaßte, in dem er sein fehlendes Wissen betonte (aber nicht entschuldigte), schrieb Henri Nannen vom Stern ein Editorial, in dem er sich selbst seines Wissens, aber Nichthandelns wegen, zumal er sogar weiterhin voller Stolz eine Uniform der Luftwaffe trug, verurteilte. Eine dramatische Situation ereignete sich im Fernsehen, als, nach vielen Unkenntnis vorschützenden Stellungnahmen, ein Nachrichtenredakteur, der über die öffentlichen Reaktionen berichtet hatte, seinen Bericht unterbrach, um eine persönliche Erklärung abzugeben. Während des Krieges habe er auf einem U-Boot im Atlantik gedient. Sie hätten selbst dort über Auschwitz Bescheid gewußt.
[5] Schon 1940 beziehen sich interne Memoranden von Heydrichs SD (Sicherheitsdienst) auf das 'Problem' der deutschen Soldaten – die meisten von ihnen waren übrigens an der Ostfront –, die zum Urlaub nach Hause kamen und ihre Erfahrungen berichteten.
[6] Ich glaube nicht, daß das Ausbleiben einer solchen Reaktion nur der konservativen Politik der Alliierten nach 1945 zugeschrieben werden kann. Die 'Antifa'-Komitees waren klein und isoliert. Aus den Nazilagern entlassene Antifaschisten fanden beim 'Volk' wenig Beifall.
[7] Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt (Roter Stern Verlag) 1977. Das Buch ist eine reiche Quelle an Dokumenten und Interpretationen männlicher Phantasien. Seine Schwäche liegt in dem Versuch, den Nazismus in diesen Termini zu begreifen, d.h. als Resultat des Patriarchats. Die These ist mehr als fraglich. Erstens: Soweit eine Beziehung zwischen Patriarchat und Nazismus besteht, bedeutet dies keineswegs eine Identität. Im Gegenteil, die wohlbekannten Photos bartloser junger Nazis, die sadistisch lächeln, während sie älteren jüdischen Männern die Bärte ausreißen, scheinen auf psychologischer Ebene einen Haß auf das Patriarchat anzudeuten. Das wird nicht nur durch die Überlegung bestätigt, daß Hitler eher Gegenstand der Identifikation mit dem Ebenbürtigen als mit dem Vater war, sondern auch durch die Untersuchung der Familienpolitik der Nazis, die trotz ihrer Slogans keineswegs traditionalistisch war. Die offensichtlich paradoxe Verbindung von Revolte mit dem Wunsch nach Disziplin und Ordnung kann als Revolte gegen einen zu schwachen Vater verstanden werden, d.h. als eine Bewegung, die den Niedergang des Patriarchats ausdrückt (was natürlich von seiner Überwindung sehr verschieden ist). Zweitens macht Theweleit den Fehler, psychosexuelle Strukturen unvermittelt auf direkte Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu beziehen. Das führt ihn dann zu einem Verständnis von Rassismus als Nebenresultat der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Der geschichtliche Charakter besonderer Formen des Rassismus wird darin verdeckt. Es ist erstaunlich, daß in einem Buch, das von der subjektiven Seite des Nazismus handeln will, Rassismus außer acht gelassen und Antisemitismus ignoriert wird. Der Versuch, die subjektive Seite eines historischen spezifischen Phänomens zu untersuchen, endet bei einer subjektivistischen, überhistorischen und unspezifischen Ideologie. Das Problem wird in der Form formuliert, ob es überhaupt möglich sei, von 'nichtfaschistischen' Männern zu reden (S. 44). Männerphantasien ist in Deutschland ein großer publizistischer Erfolg gewesen. In der liberalen Presse wurde das Buch hoch gelobt. (Die Zeit widmete ihm eine ganze Seite.) Zur gleichen Zeit war es in der linken 'Szene' ungeheuer populär. Meiner Meinung nach aus genau dem Grund, aus dem ich es kritisiert habe: Die Interpretation des Textes stimmte mit dem Trend überein – eine nichtauthentische Huldigung an die Frauenbewegung – und ist so unspezifisch, daß das Problem des nationalsozialistischen Erfolgs in Deutschland in ein Problem von Männern überhaupt aufgelöst wird; außerhalb von Raum und Zeit.
[8] Ein nicht weniger häufig angegebener Grund mancher Linker für die Weigerung Holocaust anzusehen, war das Argument, daß er ein Ausdruck zionistischer Propaganda sei. Das vernachlässigt die offensichtliche Tatsache, daß die Vernichtung des europäischen Judentums für die meisten Juden nach 1945 der Grund war, mit dem Zionismus zu sympathisieren. Das hing nicht allein mit den Nazis zusammen, sondern auch mit dem Eifer der rumänischen, ukrainischen, kroatischen, flämischen und französischen Antisemiten und Faschisten, die die Nazis bei der Verfolgung und Vernichtung der Juden unterstützten. Gleiches gilt für die Politik 'passiver Duldung', wie sie von den Amerikanern und Briten vollzogen wurde. Zionismus wurde als nationalistische Antwort für viele Juden überzeugend, nachdem sie erfahren hatten, wie die Projektion einer jüdischen Weltverschwörung in ihr Gegenteil umschlug: eine Weltverschwörung gegen die Juden. Die Gründe für die jüdische Massenunterstützung des Zionismus zu verstehen, hat nicht notwendigerweise zur Folge, zionistische Politik zu akzeptieren und zu entschuldigen. Genauso wenig, wie Verständnis für die Reaktionen der Palästinenser auf Jahrzehnte zionistischer Unterdrückung, Einverständnis mit der Politik radikaler Nationalisten eines Habaschs oder Wadi Haddads bedeutet. Es ist wirklich nicht schwer, solche Unterscheidung zu machen. Das also kann nicht das Problem sein. Braucht sich eine deutsche Linke mit der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis deshalb nicht zu befassen, weil es die Wirklichkeit des Zionismus gibt?
[9] Einer der wenigen jüngeren Versuche in den westdeutschen Medien, die Vernichtung der Juden durch die Nazis qualitativ zu bestimmen, wurde von Jürgen Thorwald unternommen. (Der Spiegel vom 5. Februar 1979).
[10] Siehe z.B., Norman Cohen, Warrant for Genocide, London 1967.
[11] Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 4, Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 308-331. Der Text entstand im Jahr 1939 und wurde zuerst in der Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, New York 1939, Doppelheft 112, S. 115-137 veröffentlicht.
[12] George Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964.
[13] Die erkenntnistheoretische Dimension der Marxschen Kritik ist dem ganzen Kapital immanent, wurde aber nur im Rahmen seiner Warenanalyse entschlüsselt dargestellt. Seine Kategorien sollen verstanden werden als gleichzeitige Ausdrucksformen besonderer verdinglichter gesellschaftlicher Beziehungen und Denkweisen. Dies unterscheidet sie wesentlich von der Hauptströmung marxistischer Tradition, in der die Kategorien als Bestimmungen einer 'ökonomischen Basis' begriffen werden und das Denken als Überbauphänomen aufgefaßt wird, das sich aus Klasseninteressen und -bedürfnissen ableitet. Diese Form des Funktionalismus kann, wie erwähnt, die Nicht-Funktionalität der Vernichtung der Juden nicht adäquat erklären. Allgemeiner formuliert: Sie kann nicht erklären, warum eine bestimmte Denkform, die sehr wohl im Interesse bestimmter Klassen und anderer gesellschaftlicher Gruppen liegen kann, eben diesen und keinen anderen ideologischen Inhalt hat. Gleiches gilt für die aufklärerische Vorstellung von Ideologie (und Religion) als Ergebnis bewußter Manipulation. Die Verbreitung einer bestimmten Ideologie impliziert, daß sie eine Resonanz besitzen muß, deren Ursprung zu erklären ist. Andererseits steht der von Lukács, der Frankfurter Schule und Sohn-Rethel weiterentwickelte Marxsche Ansatz jenen einseitigen Reaktionen auf den traditionellen Marxismus entgegen, die jeden ernst zu nehmenden Versuch aufgegeben haben, Denkformen historisch zu erklären und jeden Ansatz in solche Richtung als 'Reduktionismus' ablehnen.
[14] Proudhon, der in dieser Hinsicht als einer der geistigen Vorläufer des modernen Antisemitismus gelten kann, meinte daher, die Abschaffung des Geldes – der erscheinenden Vermittlung – genüge bereits, um die kapitalistischen Beziehungen abzuschaffen. Kapitalismus ist jedoch von vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet, die in kategorialen Formen vergegenständlicht sind, von denen Geld ein Ausdruck, nicht aber Ursache ist. Proudhon verwechselt demnach die Erscheinungsformen – Geld als Vergegenständlichung des Abstrakten – mit dem Wesen des Kapitalismus.
[15] Theorien, die den Nationalsozialismus als 'antimodern' oder 'irrational' darstellen, erklären die Wechselbeziehung dieser beiden Momente nicht. Der Begriff 'Irrationalismus' stellt den noch fortbestehenden 'Rationalismus' gar nicht mehr in Frage und kann das positive Verhältnis einer 'irrationalistischen', 'biologistischen' Ideologie zur Ratio von Industrie und Technologie nicht erklären. Der Begriff 'antimodern' übersieht die sehr modernen Aspekte des Nationalsozialismus und kann nicht angeben, warum nur einige Aspekte des 'Modernen' aufgegriffen wurden und andere nicht. Beide Analysen sind einseitig und repräsentieren nur die andere, die abstrakte Seite der oben beschriebenen Antinomie. Tendenziell verteidigen sie unkritisch die bestehende nichtfaschistische 'Modernität' oder 'Rationalität'. Damit ließen sie Raum für neue einseitige Kritik (diesmal seitens Linker) wie etwa die von Foucault oder Glucksmann, die die heutige moderne kapitalistische Zivilisation nur als abstrakte verstehen. All diese Ansätze sind nicht nur unbrauchbar für eine Theorie des Nationalsozialismus, die eine angemessene Erklärung für die Verbindung zwischen 'Blut und Maschine' geben soll, sie können auch nicht aufzeigen, daß die Gegenüberstellung von 'abstrakt' und 'konkret', von positiver Vernunft und 'Irrationalismus' keineswegs die Grenzen einer absoluten Wahl abstecken, sondern daß die Pole dieser Gegensätze miteinander verbunden sind als antinomische Ausdrücke der dualen Erscheinungsformen ein und desselben Wesens: der kapitalistischen Gesellschaftsformation. (In diesem Sinn fiel Lukács in seinem unter dem Eindruck der unaussprechlichen Brutalität der Nazis geschriebenen Buch Die Zerstörung der Vernunft hinter seine eigenen kritischen Einsichten in die Antinomien bürgerlichen Denkens zurück, die er 25 Jahre zuvor in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt hatte.) So bewahren solche Ansätze die Antinomie, anstatt sie theoretisch zu überwinden.
[16] Wollte man die Frage behandeln, warum der moderne Antisemitismus so unterschiedlich stark in den verschiedenen Ländern verbreitet war und warum er in Deutschland hegemonial geworden ist, dann müßte man die oben entwickelte Argumentation in den entsprechenden sozialen und historischen Kontext stellen. Was Deutschland betrifft, ließe sich von der besonders raschen Industrialisierung mit ihren weitreichenden sozialen Umwälzungen und dem Fehlen einer vorausgegangenen bürgerlichen Revolution mit ihren liberalen Werten und ihrer politischen Kultur ausgehen. Die Geschichte Frankreichs von der Dreyfus-Affäre bis zum Vichy-Regime scheint aber zu zeigen, daß eine bürgerliche Revo lution vor der Industrialisierung keine ausreichende 'Immunität' gegen den modernen Antisemitismus gibt. Andererseits war der moderne Antisemitismus in Großbritannien nicht sehr verbreitet, obwohl es dort natürlich auch Rassentheorien und Sozialdarwinismus gab. Der Unterschied könnte in dem Grad der Entwicklung der gesellschaftlichen Abstraktheit von Herrschaft vor der Industrialisierung liegen. Unter diesem Gesichtspunkt kann der Grad der Vergesellschaftung Frankreichs als zwischen dem Englands und zum Beispiel dem Preußens betrachtet werden, gekennzeichnet durch eine besondere Form der 'Doppelherrschaft': Ware und Staatsbürokratie. Beide sind Rationalitätsformen. Sie unterscheiden sich jedoch durch den Grad an Abstraktheit, wodurch sie Herrschaft vermitteln. Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen der institutionellen Konzentration konkreter Herrschaft im Frühkapitalismus (Kirche und Staatsbürokratie inklusive Armee und Polizei) und dem Ausmaß, in dem später die abstrakte Herrschaft des Kapitals nicht nur als bedrohlich, sondern auch als mysteriös und fremd wahrgenommen wurde.

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